Otto von Greyerz
Sprachpillen
Otto von Greyerz

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Was heißt überholen?

Nach der Abdankung König Eduards VIII. las man in den Zeitungen, so auch in einem ag.-Drahtbericht des «Bund», die vom König ausgestellten Listen für die bevorstehenden Adelsbeförderungen müßten vom neuen König gründlich «überholt» werden.

Die Nachricht wurde dann inhaltlich angefochten. Hätte sie nicht auch sprachlich angefochten, zum mindesten angezweifelt werden sollen? Aus dem Zusammenhang ergab sich doch, was gemeint war: die Listen sollten nach- oder durchgesehen, nachgeprüft oder überprüft werden. Seit wann sagt man dafür überholen? Und wer versteht das Wort in diesem Sinn? Überholen heißt sonst: durch Geschwindigkeit einholen und hinter sich lasten; im übertragenen Sinne: übertreffen und dadurch in Rückstand versetzen. So wird z.B. eine gute Leistung durch eine bessere, eine falsche Nachricht durch eine richtige oder richtigere überholt.

In der deutschen Seemannssprache, die uns Schweizern aus naheliegenden Gründen ziemlich fremd ist, wird aber das «überholen» auch im Sinne von durchsetzen, nachprüfen gebraucht, wie 109 man aus Fr. Kluges «Seemannssprache» (1911) ersehen kann. In diesem Sinne verzeichnet es schon Tecklenborgs «Internationales Wörterbuch der Marine» von 1870. So schreibt z.B. die «Hamburg. Correspondenz» von 1907: «Das Schiff wird ins Dock gehen müssen, um überholt zu werden», oder anderswo: «Die Maschinisten überholen die ganzen Pumpen» (1908).

Dieser Sprachgebrauch erklärt sich, wie so mancher andere aus der deutschen Seemannssprache, als Entlehnung aus dem Englischen. Dort heißt overhaul, auf die Schiffahrt angewendet, etwas (vor allem ein Schiff) beiseite ziehen, um es genauer zu untersuchen; allgemeiner angewendet: gründlich untersuchen mit der Absicht auf Ausbesserung. Das einfache Verb haul (etymologisch gleich unserm holen) bedeutet ziehen, holen, schleppen, hat also mit dem Sinn von nachprüfen und ausbessern nichts zu tun.

Wenn nun die deutschen Seeleute aus dem englischen overhaul ein überholen in gleichem Sinne gemacht haben, so ist das ihre Sache. Die Seemannssprache ist eine Sondersprache wie z.B. die Bergmanns-, die Studenten- und die Gaunersprache, die sich alle eigenmächtig bilden und erweitern und sich von der Sprachwissenschaft nicht dreinreden lassen. In der deutschen Seemannssprache wimmelt es von niederländischen und englischen Wörtern, die sich durch Gebrauch allgemeine Geltung erworben haben; von englischen Lehnwörtern seien nur erwähnt: Flagge (englisch flag), Brigg (brig), Kutter (cutter), Linienschiff (ship of the line), Log (log), Lotse (lodesman), Teerjacken (Jack-tar), Blaujacken (blue coats) und mit englischer Aussprache: Steamer, Dreadnought, Lloyd, Steward, Pantry.

Eine andere Frage ist aber, ob wir auch das Übergreifen von «überholen» (overhaul) auf andere Lebensgebiete in der seemännischen Bedeutung von überprüfen, ausbessern, gutheißen sollen. Hier hat nämlich die Sprachwissenschaft und die Pflege des guten Ausdrucks ein Wort mitzureden. Hier hören die Vorrechte der Sondersprache auf. Und solang «überholen» im Sinne von überprüfen, ausbessern sich nicht im allgemeinen Sprachgebrauch durchgesetzt hat, und das ist nicht der Fall, solang steht es den Sprachkennern 110 und Sprachbeflissenen zu, auf das Fehlerhafte oder Nachteilige der Entlehnung aufmerksam zu machen. Ob der Sprachgebrauch dann auf diese Stimme hört oder nicht, müssen wir abwarten.

Den neuen Gebrauch von «überholen» muß man, scheint mir, solang es Zeit ist, bekämpfen. Er ist nicht nur unnötig, weil wir deutsche Wörter genug haben, um den Sinn von overhaul wiederzugeben: Nachsehen, durchsehen, prüfen, untersuchen, nachprüfen, überprüfen und weiterhin: ausbessern, ausflicken, wiederherstellen, in Ordnung bringen. Er ist auch verwirklich, weil er die herrschende Bedeutung von überholen = einholen und übertreffen mit der neuen = untersuchen, ausbessern, durcheinander bringt. Für das Englische besteht diese Gefahr nicht; es hat die Unterscheidung von overtake (ein- oder überholen) und overhaul (überprüfen). Für das Deutsche aber besteht die Gefahr, ein — noch dazu unnötiges — Fremdwort einzuführen, das die Deutlichkeit des einheimischen gefährdet; wobei noch in Betracht kommt, daß das untrennbare «überholen» leicht dem trennbaren «überholen» den Rang abläuft; wie wir das mit «überführen» und «überführen», mit «umbrechen» und «umbrechen» erlebt haben. Man liest jetzt häufig genug und namentlich in reichsdeutschen Zeitungen: Die Leiche wurde auf die Polizei überführt (statt übergeführt) und, im Buchdruckerdeutsch: der Satz muß umbrochen werden (statt umgebrochen).

Liegt eigentlich dem neuen Sprachgebrauch mit «überholen» (von overhaul) nicht die alte deutsche Krankheit der Fremdwörtersucht zugrunde? Und ist es durchaus nötig, daß wir Deutschschweizer uns im Mitmachen dieser Krankheit als rassenreine Deutsche ausweisen?


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