Otto von Greyerz
Sprachpillen
Otto von Greyerz

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Der eingeborne Sohn

Wie doch ein einziges Wort, unverstanden oder mißverstanden, einen Menschen quälen und verfolgen kann!

So ging es mir mit dem Wort «eingeboren». Wenn wir als Knaben von dem eingebornen Sohn Gottes lasen oder hörten, ahnten wir ein unergründlich dunkles Geheimnis, das offenbar, wie so vieles andere, nur den Erwachsenen verständlich sei. Von der Schule und den Indianerbüchern her wußten wir wohl von «Eingebornen» eines fernen Landes; das gab nicht viel zu denken, es waren eben die im Land oder in das Land hinein Geborenen. Aber Gottes eingeborner Sohn! Und das gehörte doch zum altchristlichen Glauben, den auch wir unreife Knaben an der Konfirmation 92 bekennen sollten. Und nach dem Evangelium Johannes (3, 18) war einer schon gerichtet, wenn er nicht glaubte «an den Namen des eingebornen Sohnes Gottes». Aber was hieß das? Wie konnte Christus in Gott den Vater hineingeboren sein? Fragen durfte ich darüber niemand; man rührte da, so schien es mir, an ein heiliges Mysterium. Auch war ich abgeschreckt durch Erfahrungen, die ich mit andern religiösen Fragen gemacht hatte; zum Beispiel wie es komme, daß Gott einen Sohn habe und doch keine Frau. Das war mir als eine ungebührliche Frage verwiesen worden, und war doch ganz ehrlich gemeint. So grübelte ich weiter und weiter über dieses «eingeboren», besten Sinn mir mit «eingefleischt» und «einverleibt» verwandt schien und eben durch diesen Zusammenhang mit Fleischlich-Leiblichem meine aufgestachelte Neugier auf verderbliche und aussichtslose Abwege führte. Hätte mich damals ein guter Mensch auf den Choral unseres Johannes Zwick hingewiesen, der anfängt:

Aus des Vaters Herz geboren,
Gottes Sohn ist worden Kind,

ich hätte mich durch diese dichterische Deutung, wenn nicht völlig beruhigt, so doch erleichtert gefühlt. So aber blieb ich in meiner ungesunden Grübelei stecken und nährte das schon aufgekeimte Mißtrauen gegen die Ehrlichkeit der großen Leute, die so tun, als ob sie solche orphischen Worte verstünden und doch froh sind, wenn sie nicht genaue Auskunft geben müssen.

Bis eines Tages — leider zu spät, als daß ich noch vor der gefürchteten Konfirmation mein Gewissen hätte beschwichtigen können — mir das lateinische Glaubensbekenntnis vor Augen kam mit dem «et in Jesum Christum filium eius unigenitum, dominum notrum». Mit diesem «unigenitus» war auf einmal das Rätsel gelöst. Und wie einfach! Gott hat seinen einzig geborenen, also einzigen Sohn in die Welt gesandt, auf daß alle, die an ihn glauben, nicht verloren werden. Hätte ich das nur früher gewußt! Hätte doch einer unserer geistlichen Lehrer daran gedacht, uns einfältigen Schülern das dunkle Wort zu erklären! Die heutige Jugend hat es schon leichter: wenn sie die neue Zürcher Bibel 93 aufschlägt, findet sie überall «seinen einzigen Sohn», wie man schon im deutschen St. Galler «Credo» aus dem 8. Jahrhundert lesen kann: «enti in Jesum Christ sun sînan ainacun» (einigen = einzigen).

Im mittelalterlichen Deutsch war das Mißverständnis ausgeschlossen, denn das unterschied noch scharf zwischen eingeborn oder einborn = einzig geboren, und îngeborn oder înborn = hineingeboren. Dadurch aber, daß die neuhochdeutsche Schriftsprache das alte lange î diphthongierte, fiel es mit dem alten Diphthong ei zusammen, und so entstand die Doppelsinnigkeit von «eingeboren»: ingenitus (innatus) und unigenitus.

Dem neutestamentlichen «eingeboren» (unigenitus) steht das gleichlautende goethesche «eingeboren» (ingenitus) sinnverschieden gegenüber. Es steht zweimal im «Faust», zuerst im Osterspaziergang, und hier in unmißverständlicher Bedeutung:

Doch ist es jedem eingeboren,
Daß sein Gefühl hinauf und vorwärts dringt,
Wenn über uns, im blauen Raum verloren,
Ihr schmetternd Lied die Lerche singt...

Das andremal in jener Szene in Gretchens Stübchen, wo Faust, von Mephisto allein gelassen, am Bett des geliebten Mädchens Betrachtungen anstellt:

Natur! Hier bildetest in leichten Träumen
Den eingebornen Engel aus.

Da Goethe anderwärts auch von eingebornen Talenten redet, meint er hier wohl das Engelhafte, das schon in dem Kind schlummerte und das sich in der Jungfrau als Götterbild «entwirkte»; das Wort wäre demnach ähnlich gebraucht wie in Immermanns «Tulifäntchen»:

Deine Tat sei deines Herzens
Eingebornes Kind, Geliebter!

Der zweifache Ursprung und Sinn von «ein» verführt nicht selten zu falscher Deutung und im Schweizerdeutschen sogar zu 94 falscher Lautform. So hört man etwa sagen «überystimme» und «überycho», wo doch dem schriftdeutschen «übereinstimmen» und «übereinkommen» nicht einstimmen und einkommen zugrunde liegt, sondern «über ein» (= über eines). In Wilhelm Meisters Lehrjahren sagt Goethe von den Tonkünstlern: «Wie sind sie bemüht, ihre Instrumente übereinzustimmen!» (also auf einen Ton, das heißt über eins); in den Wahlverwandtschaften erklärt Ottilie, warum sie die Mädchen in ihrer Anstalt «nicht überein kleide» (d.h. nicht eine uniforme Anstaltstracht tragen lasse); und im Don Sylvio von Rosalva schreibt Wieland: «Zeit und Alter kommen überein», das heißt sie stimmen zu den angegebenen Tatsachen, sie treffen in dem einen Punkt (über eins) zusammen. Unsre «überystimme» und «überycho» geben sich also klärlich als Mißbildungen nach falsch gedeutetem Bücherdeutsch zu erkennen. Ebenso «verybare», das man häufig hören kann, als ob es zu einem Wort (hin-)einbaren gehörte, während ein Eigenschaftswort (mhd.) einbaere = einhellig, übereinstimmend zugrunde liegt, dessen erster Bestandteil das Zahlwort «ein» ist. Dieses Zahlwort findet sich in vielen Ableitungen und Zusammensetzungen, wo es sich nicht ohne weiteres und von selbst versteht: in ein-sam, all-ein, Ein-siedel, Ein-öde, Ein-klang, ein-tönig (nur ein Ton), einstimmig, einhellig (in eins Hallen), einspännig (ein Gespann), eingestrichen (von Noten mit einem Strich), einmütig, einträchtig, einsilbig — Wörter, die meist auch im Schweizerdeutschen das «ei» (von «ein») bewahren.

Ja, der Deutsche ist gelehrt, wenn er sein Deutsch versteht. Das hat auch im Schweizerdeutschen immer mehr seine Richtigkeit, je unsicherer, schwankender das Sprachgefühl wird. Die Versimpelung kann man gerade da beobachten, wo altdeutscher Diphthong ei und das aus altem î gespaltene neuhochdeutsche ei nicht mehr sicher auseinandergehalten werden; wo man sagt oder schreibt: Rysläufer, Rysmusgeete, Fygling, Lyschtebruch, wärwise, yhellig, yträchtig und andere Greuel. Auch «Schwighuser», wie wir in Bern den Namen zu sprechen pflegen, beruht auf Irrtum. Das Schweighaus, von dem der 95 Schweighauser stammt, ist kein Haus des Schweigens, sondern eine Schweig oder Schwaig, d.h. ein Viehhof, eine Sennerei mit zugehörender Viehweide.


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