Otto von Greyerz
Sprachpillen
Otto von Greyerz

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Pfnüsel

Auch vor 150 Jahren trieb man deutsche Etymologie, und mit hemmungsloser Entdeckerlust. Griechisch und Hebräisch und alle noch so fernabliegenden Sprachen mußten herhalten, um deutsche Mundartwörter aus ihrem Ursprung zu erklären. Damals konnte ein Dekan Stalder, Verfasser des ersten schweizerdeutschen Idiotikons, seelenvergnügt unser «Togge, Toggebäbi» aus griech. teucho (ich schmücke) ableiten oder den «Ritz», die Alpenfutterpflanze, aus griech. riza (Wurzel). Das war auch die Zeit, da Joh. Peter Hebel in den Worterklärungen zu seinen Alemannischen Gedichten das mundartliche «briegge» auf griech. brychein, «bohle» (werfen) auf ballein und «Hirz» (Hirsch) auf lat. hircus (Ziegenbock) zurückführte. Es waren für jene Zeit harmlose Dilettantenspielereien.

Verhängnisvoll wurde Hebels Ableitung von «Pfnüsel» aus griech. pneusis (das Wehen) für einen deutschen Literaten namens N. E. Kromer, der sie vor Jahren in der angesehenen Kunstzeitschrift «Die Rheinlande» zum Ausgangspunkt einer ethnologischen Betrachtung nahm. Er schrieb eigentlich über die Kunst unsres Albert Welti, ließ sich aber dabei zu einer tiefsinnigen Behauptung über die alemannische Eigenart des Künstlers hinreißen, die im Grunde eine Mischung aus germanischen und griechischen Elementen sei: aus dem beschaulichen, gemütstiefen Wesen des Germanen und dem realen, epischen Gestaltungsvermögen des Griechen, «der, wie zahlreiche Worte der alemannischen Mundart deutlich beweisen, im Basler Rheinwinkel und in der Schweiz ansässig war und tiefe Spuren hinterließ. Man vergleiche daraufhin nur die durchaus nicht... nachahmende, sondern... reich quellende Poesie Hebels mit Homer».

Herausgefordert, uns die weltgeschichtlichen Vorgänge dieser Völkermischung im Basler Rheinwinkel etwas näher zu erläutern, antwortete der Kritiker, anstatt mit etwas gedämpftem Trommelschlag, mit verstärktem Siegeston: Daß die Griechen sich «in jenen Gegenden» mit den Alemannen vermischt haben müssen, «beweisen 31 eine Anzahl griechischer Worte, die in der alemannischen Mundart noch heute gebräuchlich sind: Pfnüsel = Schnupfen, griech. pneusis; brieggen = weinen, griech. brychein, Rapeditzli, auch Rhapsedizli = kleine Erzählung, griech. rhapsodia».

Da ist’s. Klar wie die Sonne. Das mit dem «auch Rhapsedizli» ist zwar geschwindelt (kein Mensch sagt so), aber dafür sind «Pfnüsel» und «briegge» direkt nach Peter Hebel erklärt. Und zwar falsch.

Pfnüsel nämlich ist ein altes, rein deutsches Wort, das nicht einmal bloß im Oberdeutschen (Schweiz, Elsaß, Schwaben), sondern auch im Plattdeutschen (als Pnüsel) vorkommt. Ähnlich wie etwa Friesel (Fieberschauer mit Hautausschlag) von frieren, ist Pfnüsel von pfnüsen gebildet, das schon im Mittelhochdeutschen schnauben, niesen bedeutete und wohl ein durch n erweitertes pfûsen ist, stammverwandt mit einer ganzen Reihe einst (oder jetzt noch) schnaubender Zeitwörter: pfnëhen (wovon unser pfnächze, pfnächzge), pfnëschen, pfnâsen mit den Dingwörtern pfnuscht und pfnâst; alle natürlich auf Schallnachahmung, nicht auf Gräkomanie oder gräkoalemannischer Völkermischung beruhend. Pneusis heißt übrigens weder das Niesen noch der Schnupfen.

Urverwandtschaft zwischen briegge und griech. brychein ist nicht ausgeschlossen, wohl aber, aus lautlichen Gründen, ein direkter Wandel von jenem zu diesem, wie ihn unser Aesthet anzunehmen scheint. Rapeditzli (oder Rapetitzli) endlich, d.h. Spottliedchen, Gassenhauer, ist längst mit großer Wahrscheinlichkeit auf franz. rapetisser zurückgeführt, was der Bedeutung halber einleuchtet, da solche Spott- oder Schelmenliedchen darauf ausgehen, jemand zu verulken, verspotten, verkleinern.

Also, mit dem altgriechischen Pfnüsel ist es nichts, und mit der alemannisch-griechischen Völkermischung im Basler Rheinwinkel auch nichts. Wer aber den Roman «Auch Einer» des Schwaben Friedr. Theodor Vischer gelesen hat, erinnert sich gewiß mit Vergnügen der unsterblichen Stelle, wo einer der Pfahlbauer-Barden das tiefste mythologische Geheimnis der helvetischen Naturreligion 32 auf die reale Basis des chronischen Pfahlbauerkatarrhs oder des Pfnüsels zurückführt. Alles in dem genial unverfrorenen Humor Vischers erzählt. Diese Geschichte des Pfnüsels muß man glauben.


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