Otto von Greyerz
Sprachpillen
Otto von Greyerz

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Rächnig oder Rächnung?

Wiederholt habe ich fragen hören, warum wir Berner, die wir auch in der Sprache konservativ seien, die schriftdeutsche Nachsilbe -ung statt der sonst allgemein schweizerdeutschen -ig brauchen, also z.B. Ändung, Sitzung, Feschtung, Bsinnung sagen, anstatt Ändig, Sitzig, Feschtig, Bsinnig. Die Frager schienen vorauszusetzen, daß die Ableitungssilbe -ig mundartlich echter und wohl auch älter sei als -ung.

Das wäre aber ein Irrtum. Beide Silben, -ung und -ing (woraus später -ig geworden), sind gleich hohen Alters und bezeichnen ursprünglich Zugehörigkeit oder Abstammung, wie in den altgermanischen Geschlechts- und Völkernamen Amelungen, Nibelungen, Merowinger, Thüringer oder in einigen ebenso alten Sachnamen wie Hornung (Februar, eigentlich Sohn des Horn) oder Kuning (König, eigentlich Sohn von edlem Geschlecht, gotisch kuni). Die beiden Endungen schieden sich später nach der Bedeutung so, daß im allgemeinen -ing männliche Wörter mit sinnfälliger Bedeutung, -ung weibliche mit abstrakter Bedeutung bildete. So findet man z.B. in den Fabeln des bernischen Dichters Ulrich Boner (14. Jahrh.) das -ung nur in weiblichen Abstrakten verwendet.

Anderseits bestehen noch in der heutigen Mundart männliche Wörter auf -ig mit sinnlicher Bedeutung: Chislig (älter Kisel-inc), Früschig (Frisch-ing, wofür heute meist Urfel), Hälsig (älter Hels-inc), Redig (von Rad, z.B. Heuredig: zweirädriger Heukarren). Viel häufiger allerdings sind solche Wörter mit -ling gebildet: Hüür-lig, Fündlig, Chöpflig (Kopfstein als Pflasterstein), Birlig (Heuhaufen, zu altem bëren = trugen), Stößlig (Überärmel), Schärlig (Schierling), Stichlig (zu stechen), Helblig (halbrunde Tannen des Blockbaus), Fingerlig, Düümlig, Fädlig, Hinderlig, Schlämperlig usw.

Nun aber zu den weiblichen Wörtern auf -ung und -ig, denn diese stehen in Frage.

Aus einer Sammlung, die ich mir angelegt habe, ergibt sich zunächst, 71 daß eine ganze Reihe berndeutscher weiblicher Wörter mit sinnlicher Bedeutung nur mit -ig Vorkommen: so Grasig (Gras zum Mähen oder gemähtes Gras), Winterig (Winterfutter), Sümmerig (Sommerfutter), Atzig, Bhusig (es Bhusigli), Wonig (es Wonigli), Gaschtig (Gäste bei Tisch), Hushaltig, Bchleidig, Pflanzig, Heizig, Wasserleitig, und das selten gewordene Uebig (Gewimmel, Treiben, auch Fuchsgrube). Ausschließlich mit -ig sind auch gebildet Triftig (Muße, Gelegenheit), Wybig (Heirat), Gattig (es macht Gattig, dergattig Lüt, öppis agattige), Wärig (Währung, Beschaffenheit, eine vo myr Wärig), Ruschtig (zu rüsten, z.B. Doktorruschtig), Regierig (als Personen, vgl. Regieriger: Regierungsstatthalter), Underwisig (vgl. Underwisiger), Muschterig, Ornig (vgl. Unornig, Souornig, häb Ornig!).

Nicht selten bestehen Formen mit -ig und mit -ung nebeneinander, unterscheiden sich aber in der Bedeutung, und zwar meistens so, daß die Wörter auf -ig echt volkstümlich, der Herkunft nach älter und dem Sinn nach konkret sind, die auf -ung der Bildungssprache angehören, jüngern Ursprungs sind und geistigen Inhalt haben. In diesem Gegensatz stehen zueinander Ladig (soviel man aufladet) und Yladung, Losig (Erlös) und Losung (Merkwort, Leitidee), Achtig (das Aufpassen, gät Achtig!) und Hochachtung, Beobachtung; ferner Schatzig in der Redensart «eim a der Schatzig blybe» und Schatzung im steueramtlichen Sinn, Bsatzig (Viehware im Stall) und Bsetzung (wie neuhochdeutsch); daneben allerdings auch «Bsatzung» trotz der sinnfälligen Bedeutung. Schon für diese Beispiele, noch mehr aber für andere gilt das Zugeständnis, daß Erziehung, Gewohnheit und persönlicher Sprachgeschmack mit im Spiele sind. Man sagt in Bern Hoffnig und Hoffnung, Zeichnig und Zeichnung, Rächnig und Rächnung und beides wohl mit demselben Recht. Nach meinem Sprachgefühl, das nicht besonders tief wurzelt, wäre ein Unterschied begründet zwischen «Schicket mer de d’Rächnig» und «e monetlechi Abrechnung»; beim ersten denke ich an das Papier mit der Rechnung, beim zweiten an das Abrechnen selbst. Je geistiger, abstrakter die Vorstellung ist, die ich mit dem Wort verbinde, desto sicherer stellt sich die Endung -ung ein; also 72 z.B. bei Hoffnung, Bedütung, Erlösung, Verzwyflung, Gsinnung, Mahnung, Warnung, Erziehung, Bedingung; aber auch bei Verlobung, Vergabung, Usstellung, Bedienung, Nahrung und andern Wörtern von mehr oder weniger greifbarem Inhalt.

Dr. Werner Hodler, der in einer nicht genug zu rühmenden Arbeit das Bedeutungsverhältnis von -ung und -ig sprachgeschichtlich untersucht hat, kommt zum Schluß, daß die in unserer Mundart allein volkstümliche Endsilbe -ig in der Stadt Bern unter dem Einfluß der Kanzleisprache durch deren bevorzugte Endsilbe -ung überwuchert worden sei und daß diese später, bei zunehmendem Gebrauch der neuhochdeutschen Schriftsprache (die nur -ung kennt), noch überhand genommen habe. Dabei könne auch eine kräftige Gruppe alter Wörter mit ursprünglichem -ung mitgewirkt haben.

Es ist daher durchaus begreiflich, daß der heutige Sprachgebrauch in Bern bei vielen Wörtern (z.B. Achtung, Handlung, Sammlung und eben auch Rächnung) zwischen -ung und -ig schwankt und daß die altburgerlichen Kreise, die am meisten mit der Kanzleisprache zu tun hatten, in vielen Fällen die Bildung mit -ung bevorzugen. Jedenfalls darf man in dem Nebeneinander von -ung und -ig, sofern sich ein Bedeutungsunterschied von Sinnfälligkeit und Geistigkeit darin ausspricht, einen Vorzug erkennen, der mehr wert ist als die allgemeine Gleichschaltung mit -ig.

Zum Schluß noch die Bemerkung, daß nicht alle Dingwörter auf -ig sich aus altem -ing oder -ung erklären lasten. Brattig (Kalender) z.B. geht auf lateinisch practica, Predig auf lateinisch praedicare zurück; Ortsnamen wie Neuig und Holig (im Emmental) sind Kürzungen von Neuegg und Hohlegg. In Läbtig, Wärchtig, Sunntig usw. steckt verkürztes «Tag», was vielleicht nicht für jedermann selbstverständlich ist, da sogar ein Kenner seiner Mundart wie Meinrad Lienert das Wort Läbtig durch «Läbting» erklären zu können glaubte.

Es gibt noch eine «Gattung», die mit «Gattig» nichts zu tun hat: 73 das ist der in Gotthelfs und Tavels Erzählungen vorkommende Name einer Herrschaftsköchin, so z.B. derjenigen der Frau Salzbütti in «Ja gäll, so geit’s!». Diese Gattung ist französischen Ursprungs und heißt französisch Caton, eine Kurzform von Catherine. Mit dem römischen Cato ist sie nicht verwandt!


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