Otto von Greyerz
Sprachpillen
Otto von Greyerz

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Längi Ziti

Dem Glücklichen vergeht die Zeit schnell, er hat «churzi Ziti»; die schönen Stunden sind im «Schwick» vorbei. «Heit de churzi Ziti!» sagt man zu Abgehenden oder Zurückbleibenden, denen ein Vergnügen bevorsteht, eine «Kurzweil», eigentlich: kurze Weile.

Dem Unglücklichen, der sich mit sich selbst quält, dem Vereinsamten, Kranken, Schlaflosen, der die Glockenstunden zählt, vergeht die Zeit langsam, er hat «längi Ziti». Daraus erwächst die Sehnsucht nach dem, was einem fehlt: nach Gesundheit, Freiheit, Vaterhaus, 25 Heimat. Die lange Weile, Langweile, steigert sich zum langenden, bangenden Sehnen. Das ist «Längiziti» im tieferen, bitteren Sinn des Wortes.

Man hört jetzt häufiger sagen «Längi Zit», weil man das «Ziti» nicht mehr versteht und es ein wenig komisch findet. Wenn man sich aber an «Gschäfti, Stücki, Gsüchti» erinnert, vielleicht auch noch an einstiges «Rächti», so wird man die Mehrzahlform auf -i weniger komisch finden. Und dann haben wir ja im Berndeutschen eine Menge Wörter, die das -i schon in der Einzahl und danach auch in der Mehrzahl haben: es Gitzi, es Füli, es Gemschi, es Gätzi, es Gnagi, es Wäschpi, es Güegi, es Rüppi, es Hirni, Hefti, Töri usw. Wie man sieht, sind das alles sächliche Dingwörter. In den meisten ist das -i Verkleinerungssilbe (Güegi zu Gueg, Töri zu Tor usw.). Aber es gibt seit althochdeutscher Zeit eine Deklinationsklasse von Wörtern sächlichen Geschlechts, die das -i als Zeichen der Mehrzahl ansetzen. Von dieser altertümlichen Deklinationsform hat die Walliser Mundart eine Anzahl Beispiele am Leben erhalten. Dort sagt man in der Einzahl: das Änd, in der Mehrzahl die Ändi, so auch Hemd und Hemdi, Rip und Rippi, Chriz (Kreuz) und Chrizi, Gschirr und Gschirri und eben auch, wie im Berndeutschen, Gschäft und Gschäfti.

Nun kommt «Zit» in alt- und mittelhochdeutscher Sprache sowohl sächlich als weiblich vor, wie auch wir noch heute nebeneinander sagen «di Zit» im gewöhnlichen Sinn und «das Zit» im Sinn von Uhr als Zeitweiser. Das -i in «längi Ziti» erklärt sich also als Mehrzahlform zu dem sächlichen «Zit». Freilich ist diese Form in alter Zeit nicht zu belegen; sie wird auch nicht die ursprüngliche sein, sondern in der Übertragung von andern Beispielen sächlicher Wörter, also in der «Analogiebildung» ihren Ursprung haben. Keinesfalls steht sie vereinzelt da, und keinesfalls ist sie «komisch» für den, der etwas näher zuschaut.

Wie vieles ist nicht mehr «komisch», sobald man näher zuschaut!


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