Otto von Greyerz
Sprachpillen
Otto von Greyerz

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Wesemi Rüebe

Wenn Gotthelfs Ueli der Knecht am Hochzeitsmorgen auf einsamer Fahrt sein Vreneli auf die kalt angehauchten Wangen küßt, die, «sobald er sie berührte, zu schwellen und zu glühen begannen», dann meint er, «das sei doch ein ander Küssen als auf Elisis kalte Backen, die ihm immer vorgekommen waren wie eine weseme Rübe, und es sei ihm immer gewesen, als müßte er den Pfnüsel bekommen, wenn er ihm ein Müntschi habe geben müssen».

Was «weseme Rüebe» sind, weiß man noch heute im Unterland wie im Oberland, im Entlebuch wie im Freiburgischen (Jaun), sogar im Baselland, nur daß man neben «wesem» und dem gekürzten «wese» auch «weschig» (mit flüchtig ausgesprochenem sch) zu hören bekommt. Immer bedeutet es den Gegensatz zu saftig, frisch, also: vertrocknet, holzig, zäh, zusammengeschrumpft und wird besonders von Rüben, Rübkohl, auch Bohnen gesagt, wenn sie von 98 holzigen Fasern durchzogen sind. Das Oberhasli-Glossar von Pfarrer Hopf gibt an: wesem = schwammig.

Dieses «wesem» ist dunklen Ursprungs, hat aber vermutlich eine lange Ahnenreihe. Man denkt zunächst, und mit Recht, an hochdeutsches ver-wesen, das ja das Austrocknen und Einschrumpfen in sich schließt; nur muß man es nicht jenem andern Zeitwort «verwesen» gleichsetzen, dessen Stammwort uns aus den Dingwörtern Wesen, Verweser, Reichs-, Pfarrverweser, ferner aus den Zeitwortformen war (älter: was) und gewesen bekannt ist. Das Verwesen = Austrocknen, Welken geht vielmehr auf einen Stamm zurück, den wir aus althochdeutschem wesanên = vertrocknen, welken, erschlaffen, aus altnordischem visna und angelsächsischem wisnian, auch noch aus heutigem dänischen visne = hinwelken und visnelig = verwelklich kennen.

All diese germanischen Wörter scheinen von einer indogermanischen Wurzel «wis» herzustammen, die vielleicht mit dem altgriechischen ios (aus visos) = Gift (vgl. lat. virus) übereinstimmt. Und das Eigenschaftswort «wesem» mit seinem auffallenden Endungs-m dürfte, wie Karl Stucki in seiner «Mundart des Entlebuch» S. 222 vermutet, nach dem Muster von Eigenschaftswörtern auf -sem (= -sam) gebildet worden sein, also nach mundartlichem glägsem: gutgelegen, ghelsem: heilsam, blugsem: furchtsam und einem sonst untergegangenen nööchtsem: benachbart, das noch in dem Dingwort Nööchtsemi: Nachbarschaft, Umgegend fortlebt. In andern Eigenschaftswörtern derselben Mundart erscheint -sam zu -se gekürzt: z.B. sältse: selten, wählerisch, mürrisch oder auch unverändert erhalten: langsam, forchtsam.

Das Wort «wesen» aber (= sein) hat eine andere Nachkommenschaft; zu ihr gehört z.B. das erwähnte «verwesen» im Sinn von: Stelle vertreten, ferner «währen», «langwierig», «wahr» (das was ist), ja sogar, trotz widersprechendem Anschein, das Wörtchen «nur», das einst zweisilbig, sogar dreisilbig war: «nuwer, niwaere, niwâri» (aus ni wâri) und «wenn nicht wäre» bedeutete, also die Funktion eines Nebensatzes ausübte. «Es wäre 99 alles schön und gut, nur —» «Was, nur —?» fragt der andere. Und nun kommt die Erläuterung mit «wenn nur das oder jenes nicht wäre». So ist aus einem Satz ein Adverb von drei Buchstaben geworden.


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