Otto von Greyerz
Sprachpillen
Otto von Greyerz

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Einige zehntausend

Die Verwaltungskommission einer wohltätigen Anstalt beriet über den Bau eines Badehauses, der aber mit Kosten verbunden war, die über das Budget hinausgingen. Man glaubte schon, von dem Plan absehen zu müssen, als bekannt wurde, daß eine reiche Gönnerin die Anstalt mit einem Vermächtnis von «einigen zehntausend» bedacht habe. Wieviel das sei? fragte ein Mitglied. «Zum mindesten zwanzig-, ja eher dreißigtausend», lautete die Antwort; denn nach allgemeinem Sprachgebrauch verstehe man unter «einige» 106 mehr als zwei. Gut, wenn das stimmte, konnte man es wagen. Der Auftrag wurde gegeben, der Voranschlag bewegte sich zwischen zwanzig- und dreißigtausend Franken. Als das Testament eröffnet wurde, stellte sich heraus, daß die Selige der Anstalt 11’800 Franken vermacht habe. Da gab es begreiflicherweise lange Gesichter.

«Da habt ihr’s», sagte jener vorsichtige Frager. «Ich kenne diese neue Sprachmode, nach welcher ‹einige tausend› etwas über tausend und ‹einige zehntausend› etwas über zehntausend bedeutet. Einfach ‹Bschiiß›, wie heute in allem.»

Er hatte recht, es ist eine Sprachmode, doch keine ganz neue. Schon im 18. Jahrhundert schreibt Winckelmann «in einigen zwanzig Figuren» und meint dabei etwas mehr als zwanzig, Schiller «einige vierzig Winkel von der Stadt» und versteht es ebenso. War es vielleicht eine Nachahmung des Lateinischen (aliquos viginti dies: etwas über zwanzig Tage) oder des Französischen (il y a quelque cinquante ans depuis)? Man empfand jedoch schon damals das Gefährliche, Mißverständliche des Ausdrucks und setzte deshalb gern «einige und zwanzig Jahre» oder «zwanzig und einige Jahre.» Heute kann man auch «einige hundert», «einige tausend», sogar «einige Dutzend» lesen, und zwar im Sinne von etwas über einhundert, eintausend, ein Dutzend. Oft wird zwar aus dem Zusammenhang hervorgehen, was gemeint ist. Wenn sich in einem Heiratsgesuch eine Dame als «einige zwanzig Jahre alt» vorstellt, so wird man eher auf 29 als auf 80 Jahre raten dürfen. Und wenn ein Krankenbericht feststellt, daß die Patientin, weil unterernährt, nur einige hundert Pfund gewogen habe, so wird man schwerlich auf drei- bis vierhundert schließen. Allein es gibt andere Fälle, wo, wie unser erstes Beispiel gezeigt hat, das Mißverständnis möglich ist und unangenehme Folgen haben kann.

Und die Moral von der Geschichte: man sei vorsichtig mit «einigen» Dutzend, hundert, tausend und zehntausend, namentlich, wo es um Geld geht. Je höher die Zahl, desto schwerer die Enttäuschung.


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