Otto Ernst
Semper der Jüngling
Otto Ernst

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LVI. Kapitel.

Ein längeres Kapitel, weil darin von einem Leuchtturm, einer Nachtigall, einem Kinde, einem Rosenberg und von noch einem Kinde berichtet werden muß.

Wenn Semper der Ehemann sich einen neuen, herzerquickenden Kunstgenuß bereiten wollte, dann lustwandelte er durch seine zwei Stuben, seine eine Kammer und seine Küche. Sie schimmerten und flimmerten, daß er sich nicht satt schauen konnte, und der phantasievolle Schloßherr der bayrischen Königsschlösser konnte mit seinen ungezählten Millionen keine tiefere Befriedigung gewonnen haben als der junge Schloßherr in der westlichen Vorstadt. Als Knabe hatte er einst geträumt, wenn er reich werde, wolle er sich ein großes Schloß bauen mit hohen Bogenfenstern und Marmorsäulen und Marmortreppen. Das war nun Wirklichkeit geworden, ohne Marmor und Bogenfenster, und doch alle Luftschlösser übertreffend. Wenn er auf dem Sofa lag und die Blicke über Wand und Decke, Schrank und Bücherbrett wandern ließ, und wenn er sich dann den ärmlichen Hausrat des Elternhauses vorstellte, dann dachte er: ich bin ein Emporkömmling; mit rasender Geschwindigkeit bin ich emporgekommen. Er erinnerte sich, gelesen zu haben, daß innerhalb desselben Geschlechtes nach einem Aufstieg mit einer gewissen Regelmäßigkeit eine »Decadence« der folgenden Generationen eintrete, und mit Wehmut erfüllte ihn der Gedanke, daß spätere Nachkommen von ihm gezwungen sein könnten, diese strahlende Höhe wieder zu verlassen. Er wußte freilich noch gar nicht, ob er überhaupt Nachkommen haben werde.

Nun war aber an seiner ganzen Wohnstatt ganz gewiß nichts Kostbares im alltäglichen Sinne, und manche Frau trug in einem Ohrläppchen ein weit größeres Vermögen, als dieses ganze Schmuckkästchen mit allem, was darin war, gekostet hatte. Was dieser Heimstatt für die Seele des jungen Mannes den unnennbaren Glanz gab, das war sein Glück; was ihr aber auch für das Auge Schönheit verlieh, das war Hildens Hand. Nicht umsonst war sie die Jahre hindurch, als die Mutter krank lag, das alles umsorgende, alle betreuende Hausmütterchen gewesen. Und die Mutter war wie die Mutter des Goetheschen Gretchens gewesen. »Bei der Frau Chavonne kann man vom Fußboden essen,« hatte es bei den Nachbarinnen geheißen, und Nachbarinnen sind streng. Diese Tradition hielt Hilde aufrecht. Und wie es nun einmal wahr ist, daß die Grazien den, den sie lieben, in keiner Lage und zu keiner Stunde verlassen, so blieb ihre Anmut ihr auch bei den gröbsten Verrichtungen treu. Und sie durfte vor grober Arbeit nicht zurückscheuen; denn fremde Dienste konnten sich die jungen Semper nur als seltene Aushilfe gestatten. Aber sie dachte auch nicht daran, vor irgendeiner Arbeit zurückzuschrecken; in lächelnder Ruhe stand sie über jedem beschränkten Hochmut. Arbeit hatte sie geadelt, und sie adelte die Arbeit.

Und wenn man nun bedenkt, daß jeden Abend, wenn sie zur Ruhe gegangen, die Nachtigall in ihr Geplauder, in ihre Träume, in ihren ersten Schlummer sang! Hinter den Fenstern ihres Schlafgemaches standen blühende Apfelbäume und andere Bäume, auch ein Goldregen, dessen Blüten herabhingen wie goldene Lampen in einem dämmergrünen Dom. Und auf einem der Bäume sang Abend für Abend die Nachtigall. Mitten in ihrem Liebesgeplauder verstummten sie oft entzückt und sagten: »Hör' nur – hör' nur!« Ja, oft horchten sie fast erschrocken auf; denn es hatte geklungen wie eines Menschen weinende, schwellende, verhauchende Klage; dann wieder war es wie ein plätschernder Quell, durch den das Mondlicht glänzt. Alle Vögel haben ihre wiederkehrende Weise, dachte Asmus; nur sie hat immer neue Weisen; nie singt sie zweimal dasselbe; sie ist das Genie, dem die Welt immer neu erscheint, das immer Neues erkennt und Neues singt. Aller Vogelgesang ist lieblich; aber sie allein hat Kraft und Milde, sie allein hat Lust und Tiefe zugleich. Darum ist sie die Sängerin der Liebenden. Denn mit Sinnenkraft und Herzensmilde die Welt ergreifen, von höchster Geisteswonne bis zu tiefen Zuges trinkender Sinnlichkeit die Welt ausmessen: das ist Liebe. »Horch,« sagte Asmus, »wie langsam und klagend sie auch ihr Lied beginnen mag, immer endet sie mit jubelndem Geschmetter. Sie ist eine Optimistin; sie glaubt an das Leben. Glaubst du auch daran?«

Ja, wenn sie bei ihm war, glaubte sie daran; wenn sie allein war, konnte sie noch immer nicht fassen, daß das Leben nicht mehr ihr Feind sei. Sie konnte noch immer dem neuen Gesicht des Lebens nicht trauen; ihr Vertrauen war in einem langen Winter bis auf den Grund gefroren, und jahrelangen Sonnenscheins bedurfte es, diesen See wieder bis zum Grunde zu erwärmen.

Noch blieb ihnen die Sonne treu. Herrgott, wie es sich arbeitete in diesen ewig sonntäglichen Räumen! Und als er eines Mittags aus der Schule kam, sah er es Hildens Gesicht an, daß etwas Gutes passiert sei.

»Wieviel erwartest du noch vom »Leuchtturm«? fragte sie gespannt.

»Fünfundsiebzig Mark.«

»Er schickt hundert!« Asmus riß den Begleitbrief auf und las: »Es entfallen auf Ihren Beitrag eigentlich nur fünfundsiebzig Mark; aber wir schicken Ihnen mit Vergnügen hundert, wenn Sie uns bald wieder bedenken wollen.« Er schlang Hilden den Arm um die Taille und tanzte mit ihr durchs Zimmer. In solchen Augenblicken tanzte er sogar gut.

Fünfundzwanzig Mark wie vom Himmel gefallen! Sie kamen ja noch immer so eben, eben aus; aber sie konnten es schon brauchen.

Aber es war doch noch eine ganz winzige Freude, eine wahre Lumpenfreude gegen die Freude eines andern Tages, jenes Tages, da sie ihm verriet, sie habe sichere Anzeichen dafür, daß sie nicht immer allein bleiben würden. Da tanzte er nicht mit ihr, da zog er sie sacht auf seine Knie herab und hielt lange, lange ihren Kopf an seiner Brust, als müßt' er sie nun behüten auch vor dem leisesten Leid der Welt.

Ja, das Schicksal war ihm in diesen Tagen hold gesinnt, und manchmal schon hatte er sich im stillen gefragt, wieviel es ihm abziehen werde, und was, und wann? Aber es schien an keinen Abzug zu denken; im Gegenteil; es schenkte ihm in dieser Zeit zu allem Glück noch einen neuen und echten Freund. Er hatte in einem Lehrerverein einen Vortrag über Hamerling gehalten und damit unter anderen den Beifall eines jüdischen Lehrers gefunden, der ihm nach dem Vortrag als Dr. Rosenberg vorgestellt wurde. Asmus fand sofort an dem ganzen Manne ein großes Gefallen, an seinem sympathischen Gesicht, an seinem offenen und doch bescheidenen und bei aller bescheidenen Zurückhaltung dennoch bewußten Wesen, an seinen Interessen und seinen Erlebnissen. Rosenberg war Philologe, war in Paris und London gewesen und erzählte, wie er in London lange vergeblich seinen Unterhalt durch Stundengeben gesucht und wie, als er eines Tages wieder von einem vergeblichen Gange heimgekehrt sei und auf dem Rücken eines Buches den Namen »Schiller« gelesen habe, bei diesem Namen die Tränen des bittersten Heimwehs unaufhaltsam hervorgebrochen seien. Es war der erste Jude, mit dem Asmus in nähere persönliche Berührung kam, und diese Begegnung war ihm so interessant und erfreulich, daß er den neuen Bekannten einlud, ihn zu besuchen. Rosenberg kam; Asmus erwiderte den Besuch, und auf die lebendigste Weise erwuchs nun ein Freundschaftsverhältnis, das fast alle früheren Freundschaften Asmussens an Dauerhaftigkeit übertreffen sollte.

Als Rosenberg zum ersten Male bei Sempers gewesen war und die junge Frau Semper nur flüchtig gesehen hatte, da hatte er, wie er später gestand, im stillen gedacht: Er hätte doch so jung nicht heiraten sollen. Beim zweiten Besuche lernte er ganz anders denken und sah doch die junge Frau überhaupt nicht. Und das hatte alles seine guten Gründe.

Als Rosenberg seinen zweiten Besuch machte, war es wieder ein Maientag, der Tag vor Pfingsten, und in grauender Frühe dieses Tages hatte Hilde ihren Gatten geweckt und ihn gebeten, daß er die Wehmutter hole. Und dann folgte ein Tag, für Asmus wohl nicht viel leichter als für Hilden. Er wanderte in seinem Zimmer rastlos auf und ab, und am Nachmittag war er so weit, es laut vor sich hinzusprechen: »Ich will lieber kein Kind haben – wenn sie nur nicht mehr zu leiden braucht.« Ein furchtbares Gewitter brach los; unmittelbar über dem Hause war ein unablässiges Flammen und Krachen, und jeder Schlag traf ihn, weil er daran dachte, wie es sie erschrecken müsse. Er hatte ihr angeboten, bei ihr zu sein; aber sie wollte mit der Wehmutter allein sein. Und erst um 7 Uhr des Abends vernahm er das Schreien eines Kindes; Isolde Semper war zur Welt gekommen. Als die Wärterin der jungen Mutter das Kind zeigte, rief sie: »O, das ist ja Mutter Rebekka!« und sank in die Kissen zurück.

Auf den Fußspitzen war Asmus hereingekommen; er beugte sich über sie und küßte sie leise, leise auf die Stirn. Sie schlug die Augen auf, große, feuchte Augen und hauchte: »Du armer Mann, jetzt kann ich nicht für dich sorgen.«

»Du närrischer Engel,« flüsterte er, »willst du gleich schweigen und schlafen?« und küßte ihr die Augen zu. Aber sie öffnete sie wieder und sah ihn an mit einem Blick voll übermenschlichen Glücks. Dann hob sie behutsam die Decke von dem Kindlein, das in ihren Armen lag.

»Sieht sie nicht ganz aus wie Mutter Semper?« flüsterte sie. Er nickte »Ja«, obwohl er nichts dergleichen sah; er dachte nicht an das Kind: er dachte nur an sie. Die weise Frau versicherte ihm, daß alles gut verlaufen sei; da schlich er hinaus, nahm seinen Hut und ging auf die Straße. Er mußte Himmel über sich sehen.

Als er nach einer halben Stunde heimkehrte, war Rosenberg dagewesen. Die junge Mutter hatte jemand kommen hören, hatte vernommen, wer es sei, und der Wärterin gesagt: »Sorgen Sie bitte dafür, daß der Herr eine Erfrischung bekommt.« Und Rosenberg erfuhr von der Wärterin, daß die junge Frau Semper vor kaum einer Stunde Mutter geworden sei und daß sie selbst den Trunk für ihn befohlen habe. Da dachte er: »Das muß eine seltene Frau sein.« Nie vergaß er ihr diesen Trunk, und schon bei einem nächsten Besuch, als sie selbst ihn bewirtete, dachte er: »Er hat keineswegs zu früh geheiratet.«

In den folgenden Wochen und Monaten kam Asmussen seine Erziehung durch die Tabakstube, wo er unter unablässigen Gesprächen und Geräuschen die subtilsten Sachen studiert hatte, vorzüglich zustatten. Denn die Stimme Isoldens war vernehmlich und ausdauernd. Sie vollbrachte Leistungen, gegen die die Partie der Wagnerschen Isolde als Episode erscheint. Aber das störte ihn nicht. Er gehörte nicht zu den geistigen Arbeitern, die auf eine Meile im Umkreis Asphaltpflaster und Strohschütten brauchen. Der Platz vor seinem Hause war ein beliebter Spielplatz der ganzen nachbarlichen Kinderschar, und er schloß das Fenster nicht, wenn ihr Geschrei hereinklang; denn es war ihm wie ein fröhlicher Gruß des Lebens, das zum Wirken und Schaffen rief. Auch besaß er im Notfall noch immer die Kraft, eine Mauer um sich zu bauen; wenn er nicht wollte, so hörte er selbst Isolden nicht. Auch als Dichter gehörte er nicht zu denen, die nur auf persischen Teppichen und vor perlgrauen Seidentapeten dichten können, und die mancherlei kleinen Banalitäten, die ein enger Haushalt unweigerlich mit sich bringt, die selbst einer Hilde Hand nicht immer zu bannen vermag, verstimmten nicht sein Saitenspiel. Er verstand es so gut, daß Schiller in einem Zimmer, das nichts als einen halben Tisch, einen Stuhl und eine Schütte Kartoffeln enthielt, die »Louise Millerin« schreiben konnte. Was mußte das für ein Dichter sein, der die Ausstattung seines Zimmers, der seine Gesellschaft nicht jeden Augenblick selbst beschaffen, der nicht jeden Augenblick seine Zelle in das Boudoir der Lady Milford oder in den Hafen von Genua verwandeln konnte?!

Und so erzog er in unbekümmertem Frohsinn neben der kleinen Isolde noch ein zweites, stilleres Kind, sein erstes Buch. Unbekümmert war dieser Frohsinn freilich nur in Hinsicht der äußeren Störungen; was die inneren Hemmnisse anlangt, war es ein oft unterbrochener Frohsinn. Nie hat jemand besser den Künstler beschrieben als Goethe, da er die liebende Seele beschrieb: »himmelhoch jauchzend – zum Tode betrübt«. Der Künstler wäre kein Künstler, der nicht himmelhoch jauchzte über ein gelungenes Werk und der nicht zum Tode betrübt sein könnte über dasselbe Werk. Und als ihn nun gar die Banalität der Druckkorrekturen überfiel, als er seine eigenen Verse immer wiederkäuen mußte, da übermannte ihn ein tiefes Verzagen. Aber Rosenberg riß seinen Mut wieder empor; Rosenberg war begeistert von diesen Versen. »Ich lege meine Hand dafür ins Feuer, daß Sie Anerkennung finden werden«, prophezeite er. Und wirklich fanden die »Gedichte« von Asmus Semper, als sie endlich erschienen waren, die freundlichste Ausnahme; denn da die Lyrik nichts einbringt, so erfährt sie oft eine sehr wohlwollende Beurteilung.


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