Otto Ernst
Semper der Jüngling
Otto Ernst

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XIX. Kapitel.

Asmus klagt sich wegen schwindelhaften Bauens an und wird in Verruf erklärt.

Ja, die Gesetze des Hebels und die Wunder des Spektrums und vor allem jener fatale Abgrund, der zwischen Körperwelt und Gedankenwelt klafft, jener Abgrund, den wir immerfort überspringen, ohne ihn jemals zu sehen, sie hatten seinem bohrenden Geiste wilde Sorgen gemacht; aber es waren holde Sorgen gewesen, fröhliche Sorgen, Sorgen, die man nicht scheuchte, sondern suchte; denn das ist das göttliche Wunder in allem geistigen Ringen, daß auch die Niederlagen uns stärker und freier machen, so lange uns Hoffnung bleibt.

Die schöne Zeit dieser Sorgen war dahin. Bei den vielen Privatstunden konnte er nur das Notdürftigste pauken, konnte er eigentlich nur für den Schein arbeiten. Jawohl, wenn er eine Reihe von Regeln oder Vokabeln oder eine Biographie oder einen Geschichtsabschnitt einmal durchgelesen hatte, so wußte er sie, aber für wie lange? Und was hatte dies oberflächliche »Wissen« für einen Wert? Was sollte das für ein Wissensgebäude werden, das so schwindelhaft gebaute Partien aufwies. In der Tat: er kam sich vor wie ein gewissenloser Baumeister, der schadhafte Mauern unterm Putz verbirgt, und dies Bewußtsein einer Art Unredlichkeit peinigte ihn mehr als alles andre, obgleich niemand mehr von ihm verlangte, als er leistete, das ließen seine Zeugnisse deutlich erkennen.

Mit diesen Zeugnissen hatte er gleich nach dem ersten Quartal ein Malheur gehabt, das von eigenartigen Folgen sein sollte. Am Quartalsschluß hatte nämlich der Ordinarius gesprochen: »Das Kollegium ist einstimmig der Ansicht, daß die Klasse sich nicht in dem Maße anspannt, wie sie es könnte, und hat darum beschlossen, die höchste Zensur im Fleiß mit einer einzigen Ausnahme nicht zu vergeben. Diese Ausnahme bildet Semper; ihm ist eine Eins zuerkannt worden.«

Das war ehrenvoll und sehr gefährlich. Asmus empfand sofort mit jenem Tastgefühl, das weit über die Grenzen des Körpers hinausreicht, daß seine Klassenkollegen ihm anders begegneten als sonst. Es waren wohl manche da, die es ihm freudig gönnten; aber die andern waren in der Mehrzahl. Unter diesen andern war Wiedemann, ein langer Jüngling mit der Stimme einer alten Tante, den Bewegungen einer Raupe und feuchtkalten Händen. Asmussens Hände waren trocken und sehr warm, fast heiß. Zwischen solchen Menschen steht etwas, was nicht zu überwinden ist. Asmus konnte gegen diesen Kameraden nicht freundlich tun; aber Wiedemann tat freundlich. Es gab in der Klasse einen vorzüglichen Mathematiker, der es namentlich im Rechnen allen andern zuvortat.

»Der Mollwitz ist doch ein großartiger Mathematiker, was?« sagte Wiedemann mit lauerndem Lächeln zu Semper.

»Das ist er,« versetzte dieser.

»Ich halte ihn für den besten Mathematiker in der ganzen Klasse,« fuhr der Lauernde fort.

»Ich auch,« erklärte Semper und begriff nicht recht, was Wiedemann mit diesen Selbstverständlichkeiten beabsichtigte.

Wiedemann war enttäuscht.

Es gab aber auch einen Seminaristen namens Frey, der ein klarer, tüchtiger Kopf war und auch einen guten Stil schrieb.

Eines Tages schob sich die Raupe wieder heran.

»Der Frey schreibt doch 'n großartigen Aufsatz, was?« forschte Wiedemann.

»Er schreibt 'n guten Aufsatz, ja,« sagte Asmus.

»Na, das mußt du doch auch sagen, seinen Aufsatz macht ihm doch keiner nach!«

»Soo?« machte Semper.

»Ja, bist du nicht der Meinung?«

»Nein,« erwiderte Asmus kalt. Er wußte ganz genau, daß er's besser konnte. Das sagte er zwar nicht; aber er sah auch nicht den geringsten Anlaß, das Gegenteil zu lügen.

Wiedemann machte noch immer ein lammfreundliches Gesicht mit Ausnahme der Augen. Augen sind Löcher, die der Herrgott im Menschenkörper gelassen hat wie die Gucklöcher in einer Verbrecherzelle, damit der Mensch nicht allzu ungehindert heucheln könne. Augen heucheln nicht mit. Wiedemanns Antlitz und Stimme streichelten; aber seine Augen stachen, als er nun fragte:

»Wer schreibt hier denn einen besseren Aufsatz?«

Und obwohl ihm Asmus jetzt durch die grünglimmernden Augen bis in die Nieren schaute, sagte er:

»Du nicht.«

In solchen Augenblicken kam etwas wie Husarengeist über ihn. Wiedemann ging erquickt von dannen.

Und er ging aus wie ein Säemann, zu säen seinen Samen, und verbreitete die Kunde, Semper habe sich für den besten Aufsatzschreiber der ganzen Klasse erklärt, er halte sich überhaupt für den Klügsten von allen und finde die Arbeiten Freys nur »so ziemlich«. Dies sagte er besonders zu Frey. Seltsamerweise blieben aber Frey und Semper die besten Freunde.

Sonst aber fiel Wiedemanns Samen auf gutes, fruchtbares Land, und Asmus fühlte wohl, daß die Stimmung gegen ihn wuchs.

Sollten sich hier die Leiden aus der Knabenschule wiederholen? O, sie sollten es nicht nur hier!

Unter den Giftpflanzen ist eine, die keines Samens und keines Keimes bedarf, die auch aus Nichts entstehen kann wie die Schöpfung Jahwehs, das ist die Verleumdung. Sie braucht nur einen guten Boden, dann erzeugt sie sich aus nichts.

Eines Tages wurde Asmus von Seybold gestellt, von demselben Seybold, der bei der Präparandenprüfung einen so sichern Blick für Sempers Arbeiten und eine so lebhafte Teilnahme an seinen Erfolgen bekundet hatte. Er war von einer ganzen Korona von Seminaristen umgeben und hub also an:

»Hier wird behauptet, du hättest dem Direktor angezeigt, daß Müller und Warncke nach der letzten Kneipe den Unterricht geschwänzt und im Botanischen Garten ihren Kater spazieren geführt hätten.«

Wäre nun Asmus Semper irgend ein anderer gewesen, so würde er vielleicht gesagt haben:

»Bemühe dich bitte sofort mit mir zum Direktor, damit wir die vollkommene Unwahrheit dieser Behauptung feststellen.«

Oder er würde wie jener Yankee gesprochen haben, den jemand einen Schurken nannte und der freundlich erwiderte:

»Damit, mein Verehrtester, daß Sie es behaupten, ist es noch lange nicht bewiesen.« Aber wär' er besonnen gewesen, so wäre er nicht der Semper gewesen, und also erwiderte er:

»Wer das sagt, ist entweder ein Lump oder ein Idiot.« Das Blut seiner Mutter schlug mit Flammen zum Dach hinaus.

Auch diese Antwort war ja richtig; aber ihre Richtigkeit wurde nicht zugestanden.

»Hahaaa,« johlte die Korona, »da haben wir's, wir sind alle Lumpen und Idioten!«

Wäre Asmus jener Yankee gewesen, so hätte er gesagt: »Dieser Schluß entbehrt durchaus der logischen Richtigkeit«; statt dessen verzog er das bleiche Gesicht zu einem Ausdruck grenzenloser Verachtung und sagte:

»Bitte, ich sagte: oder«.

Sie stutzten einen Augenblick, und als sie diese Antwort begriffen hatten, tobten sie und erklärten Asmus Semper wegen seines »Hochmuts«, seiner »Frechheit« und seiner »Inkollegialität« in Verruf. Die Inkollegialität bestand darin, daß er mehr wußte und konnte als Seybold, Wiedemann und Kompanie und dies in seinen Arbeiten schamlos zu erkennen gab.

Vor Asmussens Augen stand sein alter herrlicher Schulmeister, Herr Cremer, wie er dem Quintus Fabius nachahmte. Er pflegte zwei Falten in seinen Rock zu machen und zu sagen: »So stand Quintus Fabius vor der karthagischen Ratsversammlung und sagte: Hier in den Falten meiner Toga habe ich Krieg und Frieden – wählt!« So hatte das Schicksal in Gestalt der Seybold, Wiedemann und Genossen vor ihm gestanden, und genau wie die Karthager hatte er geantwortet: »Gebt, was ihr wollt.« Und Quintus Fabius Seybold hatte gesagt: So hab denn Krieg.

Und so war es also Krieg.

Ja, wenn es noch ein richtiger, ehrlicher Krieg gewesen wäre. Aber es war die bekannte Guerilla böser Schikanen, in deren Erfindung die Jugend so grausam ist und in der das »Zwanzig gegen Einen« durchaus nicht für unehrenhaft gilt. Wenn er des Morgens kam – gerade jetzt wieder in einem geschenkten Rock, der ihm viel zu weit war – dann bildeten sie Spalier, erwiesen ihm höhnische Ehren und spotteten über seinen Rock.

»Der Kerl is 'n richtiges Originaol!« rief der Bauernsohn Rohweder, der seinen heimischen Akzent nicht abzulegen vermochte. Er hielt »Original« für etwas sehr Schimpfliches.

Oder sie lösten ihm von der Milchflasche, die in seinem Bücherfach lag und deren Inhalt sein Frühstück ausmachte, wenn das Brot nicht schmecken wollte, den Stöpsel, so daß die Milch über seine Hefte und Bücher floß und ihm seine sorgfältigen Ausarbeitungen verdarb. Daß er dann nichts zu trinken hatte, war schlimm: daß seine Arbeiten beschmutzt waren, war schlimmer; aber das Schlimmste war die Niedrigkeit, die sich in solchen Tücken zu erkennen gab: sie beschmutzte ihm sein Weltbild. Den Haß nahm er hin als etwas Gleichgültiges; er liebte den geselligen Verkehr mit Menschen, aber er brauchte ihn nicht; wie sein Vater, so war er, wenn es sein mußte, sich selber Gesellschaft genug. Aber Niedrigkeiten konnten ihn in eine heilige Wut und dann in eine tiefe, vollkommene Niedergeschlagenheit versetzen. Wenn so etwas in der Welt möglich war, dann . . . . . Er verfolgte den Gedanken nicht weiter; er wollte ihn nicht weiter verfolgen.

Er wußte sehr wohl, daß die Hauptursache ihrer Feindseligkeit der Neid war. Aber auch andere Schüler gaben wohl einmal Anlaß zum Neide; warum kam der Haß nicht auch gegen sie zum Ausbruch, oder wenn er zum Ausbruch kam, in so viel harmloserer Form? Er hatte nicht die Gabe, die Menschen im ersten Ansturm zu gewinnen, das wußte er. Er war nicht schön, wenn auch Flora, die verführerische Nachbarstochter, und jenes kleine Fräulein, mit dem zusammen er einmal Komödie gespielt hatte, ihn unverkennbar gern gehabt und ihm dies keineswegs verborgen hatten; er hatte keine Liebenswürdigkeiten, die schnell bezaubern. Aber hatte er denn etwas Abstoßendes, etwas, das ihm Feinde machen mußte?

Er hatte es, ohne es zu wissen und zu wollen.

Das Wort des Polonius an seinen Sohn:

»Härte deine Hand nicht durch den Druck
Von jedem neu geheckten Bruder«

hatte ihm deshalb immer so gut gefallen, weil es seinem Wesen so gut entsprach. Oft empfand er gleich bei der ersten Begegnung mit einem Menschen Zuneigung oder Abneigung, und wo er Abneigung empfand, hatte er sogleich etwas von einer schroffen Wand, an der nicht hinaufzukommen war. Das nehmen die Menschen sehr übel und nennen es hochfahrend oder arrogant. Und er war viel zu jung, um sich objektiv zu betrachten und diesen Zug an sich selbst zu erkennen.

Immerhin hatte er eine Minorität auf seiner Seite. Sofort bei Ausbruch des Konfliktes hatte sich Morieux mit tausend heroischen Gesichts- und Körperverrenkungen zu Semper geschlagen, etwa wie Herzog Ernst zu Werner von Kiburg, wenn er ruft:

»Hin fahr ich, ein zwiefach Geächteter,
An meine Fersen heftet sich der Tod,
Und unter Flüchen krachet mein Genick.
Vom Werner laß ich nicht!«

und sieben oder acht Beherzte hatten sich ihm angeschlossen. Das war nun die Fraktion Semper; bei den Feinden aber hießen sie »die Schäflein«, weil sie nach deren Meinung im allgemeinen ein unrühmlich gesittetes Betragen zeigten.


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