Otto Ernst
Semper der Jüngling
Otto Ernst

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Zweites Buch
Arbeit und Kampf

XIV. Kapitel.

Der Gärtner beginnt, seine Schere zu handhaben.

Asmus war erst wenige Tage im Seminar, als er sich auf dem Heimwege, auf demselben Spielbudenplatze, der seine sonntäglichen Schwelgereien in nun vergangenen Tagen gesehen hatte, von einer weiblichen Stimme anrufen hörte.

»Asmus, sei man nich so ßtolz!« rief die weibliche Stimme.

Er fuhr aus seinen Gedanken auf und starrte in das Gesicht einer Frau, die ein Kind auf dem Arme trug.

Ja, war's denn möglich – das war ja Adolfine Moses, die mütterliche Gespielin früherer Jahre, die treffliche Sibylle, in deren Hexenküche er so manchen Buchweizenkloß gegessen hatte, die ihm die erste Nachricht vom Ausbruch des Krieges mit Frankreich gebracht hatte.

»Kenns mich woll ganich mehr?« rief Adolfine und verzog lachend den Mund bis an beide Ohren.

»Aber natürlich, Adolfine, natürlich kenn ich dich!« rief Asmus. Ihre Häßlichkeit war im wesentlichen nicht anders geworden, nur reifer. »Wie geht's dir denn?«

»Och, ich bin jetz verheirate. Dies is mein Jung; mags ihn leiden?«

»Ja, natürlich,« sagte Asmus.

»Was bist du denn geworden,« forschte Adolfine.

»Ich will Lehrer werden,« antwortete Asmus.

Da klaffte Adolfinens Mund wie eine Löwengrube, und sie lachte, daß es über den ganzen Platz hallte.

»Bis woll verrückt!« schrie sie.

Asmus sah sich unwillkürlich um. »Schrei doch nicht so!« rief er. »Natürlich werd' ich Lehrer.«

Aber es kostete viel Mühe, sie daran glauben zu machen. Und langsam und gradweise, wie sie ihm Glauben schenkte, öffnete sich wieder ihr Mund.

»Kanns das denn alles in'n Kopf behalten?« fragte Adolfine. Sie dachte an ihre eigene Schulzeit.

»Jaa – ziemlich,« versetzte er langsam. »Aber jetzt muß ich weiter. Adieu, laß dir's gut gehen!«

Er gab ihr die Hand; aber sie war jetzt sprachlos, und als er schon fünfzig Schritte weit war, stand ihr Mund noch immer offen. – –

Hinter der Satyrmaske Adolfinens war das Schicksal verborgen gewesen und hatte gerufen: »Du bist wohl verrückt!« – – – –

Das drohende Tabakmonopol und später die erhöhte Tabaksteuer lasteten schwer auf dem Gewerbe der Zigarrenmacher; wenigstens hatten die Fabrikanten die ohnedies bescheidenen Arbeitslöhne noch herabgesetzt. Der Urheber der Steuer nannte sich Bismarck, und dieser Bismarck wurde in den Stuben der Zigarrenarbeiter um dessen willen nicht geliebt. Aber dieser Bismarck hatte noch etwas anderes hervorgebracht, und das war das Ausnahmegesetz gegen die Sozialdemokratie. Asmussens Bruder Johannes aber war leidenschaftlicher Sozialdemokrat. Nicht als Redner trat er hervor; aber er war im Vorstand der Ortsgruppe und wirkte still und begeistert für die Organisation. In harter Winterzeit machte er Agitationsreisen ins unberührteste Schleswig-Holstein, dorthin, wo die Landbevölkerung den »Dezimalkroaten« Unterkunft und Nahrung weigerte und sie nicht selten mit Hofhunden an Leib und Leben bedrohte.

Einmal aber trat Heinrich Moldenhuber, der »Wolkenschieber« oder, wie ihn Ludwig Semper ob seiner sturmgeschwellten Rockschöße gewöhnlich nannte: Heinrich der Seefahrer ins Arbeitszimmer der Semper und sagte mit stoischem Lächeln:

»Ich bin ausgewiesen.«

Man glaubte anfangs, er scherze. Aber er zeigte lächelnd den Ausweisungsbefehl. Und man begriff noch immer nicht. Wie? Dieses neunundzwanzigjährige Kinderherz sollte »gemeingefährlich« sein? Wie? dachte Asmus, dieser Mann, der zu den besten Stücken meiner Jugend und meiner Heimat gehört – den verbannt man aus seiner Heimat? Gewiß würde Moldenhuber auch auf der Barrikade seine Schuldigkeit getan haben; aber nie würde er aufgefordert haben, eine zu bauen; er würde vielmehr versucht haben, den Fürsten Bismarck oder den das Standrecht ausübenden General von seinem Irrtum und von der Richtigkeit der sozialistischen Lehre zu überzeugen.

Aber alles Verwundern half nichts gegenüber der brutalen Tatsache.

»Wohin willst du denn?« fragte Ludwig Semper.

»Nach Amerika,« antwortete Moldenhuber ruhig.

Nach Amerika! Der Wolkenschieber nach Amerika! Das war so, als wenn Hölderlin auf die Hamburger Börse gegangen wäre, um hinfort in Kaffee zu spekulieren. Ludwig Semper riet ihm dringend ab; aber der Seefahrer war heiter entschlossen. Fast schien es, als ob ihm die Schicksalswendung willkommen wäre und er sich auf die Entdeckung Amerikas durch Heinrich den Seefahrer freue. Was konnte ihm geschehen? Nahm er nicht seine Dichter und Philosophen überallhin im Kopfe mit? Und für eine Bücherkiste war wohl auch noch Platz im Zwischendeck.

Amerika! Asmussens Brüdern, Johannes und Alfred, hatte dies Land schon oft vor der Seele gestanden als ein Bereich, wo man aus dem ewigen Schuften und Sorgen herauskomme, wo brauchbare Arbeit einen reichlichen Lohn finde. Der Entschluß, dahin auszuwandern, war immer wieder verschoben worden; denn diese Heimat mit all ihrem Schuften und Sorgen übte ihre stille Kraft. Aber die Polizei kam ihrer Unentschlossenheit zur Hilfe. Ein Beamter, der Ludwig Sempern freundlich gesinnt war, teilte ihm unter der Hand mit, daß auch sein Sohn Johannes auf der Proskriptionsliste stehe und demnächst »drankomme«. Vielleicht ziehe er es vor, noch vordem auszuwandern.

Das gab einen Aufruhr im Hause Semper! Frau Rebekka sprach sich über Thron und Altar, über Bismarck und die Polizei in einer Weise aus, die ihr gegebenen Falles 100 Jahre Gefängnis gesichert hätten, und im stillen weinte sie. Ludwig Semper trug das Unglück schweigend wie immer, nur warf er öfter als sonst das linke Bein über das rechte und bewegte heftig die Lippen, und nur einmal rief er: »Die Narren, wenn sie glauben, daß ihnen das was hilft!«

Am muntersten nahm Alfred die Neuigkeit auf. Er wollte sofort mit seinem Bruder nach Amerika, obwohl ihn niemand forttrieb und obwohl er sich ein Sümmchen erspart hatte. Aber er wollt' es »zu was bringen« und erbot sich, seinem Bruder das Geld für die Überfahrt zu leihen.

Und Johannes schlug ein. Entschlossen, nach Amerika zu gehen, war auch er. Aber seine Entschlossenheit hatte zwei Gesichter, die in den nächsten acht Tagen oft miteinander wechselten. Das eine pflegte mit unternehmendem Blick durchs Fenster nach Westen zu sehen, das andere die Blicke wandern zu lassen über Wände und Winkel, Gassen und Felder in Haus und Heimat, von denen er scheiden sollte.


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