Otto Ernst
Semper der Jüngling
Otto Ernst

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III. Kapitel.

Wie die Augen des Asmus die Jahrhunderte der Vergangenheit und wie sie die Dinge der lebendigen Welt sahen, und wie er darum mit diesen Augen zum Arzt mußte.

Die nächste Geschichtsstunde erschien, und Herr Rothgrün begann: »Tiglat Pilesar?«

»740,« sagte der Gefragte, und dann ging ein Trampeln durch die Klasse, das wie grollender Donner klang.

Herr Rothgrün wurde weiß.

»Was soll das?« rief er.

Keine Antwort.

»Was soll das heißen?«

Eisiges Schweigen.

»Es wird ja wohl einer den Mut haben, aufzustehen und zu sagen, was das bedeuten soll?« schrie der Lehrer.

Niemand rührte sich.

»Nun, dann bleibt mir nichts anderes übrig, als Herrn Direktor Korn zu melden, daß ich durch ein unerklärliches Geräusch im Unterricht gestört worden bin.«

Aber Herr Rothgrün erstattete dem Direktor keine Meldung; denn er wußte wohl, daß der einen sehr direkten Schluß auf seinen Unterricht ziehen würde. Der Direktor hielt zu dem Grundsatze: »Unterrichtet nur gut; dann kommt der Respekt der Schüler von selbst.« Auch erklärte sich Herr Rothgrün das »unerklärliche Geräusch« sehr schnell und richtig; er begann sofort zu erzählen; diesmal erzählte er freilich noch mangelhaft, weil er den Stoff nur in einigen Reminiszenzen beherrschte, aber von der nächsten Stunde an vorzüglich; denn wenn er wollte, so konnte er's vielleicht am besten von allen Lehrern der Anstalt.

Geschichte hören oder Geschichte lesen, das gab Asmus immer besondere Freuden. Nicht, daß er an die Geschichte geglaubt hätte, – er glaubte die profane Geschichte so wenig wie die biblische. Aus seiner »Faust«-Lektüre wußte er sehr wohl:

»Die Zeiten der Vergangenheit
Sind uns ein Buch mit sieben Siegeln.
Was ihr den Geist der Zeiten heißt,
Das ist im Grund der Herren eigner Geist,
Darin die Zeiten sich bespiegeln.«

und dem stimmte er von ganzem Herzen zu. Um wirklich zu wissen, mußte man von all den Fürsten, Feldherren und Priestern, mußte man vor allem von der Menge des Volkes wissen, was sie bei ihren Handlungen dachten, fühlten, beabsichtigten und wünschten, und davon hörte man so gut wie nichts. Kaum daß einmal durch einen glücklichen Zufall ein Lichtschein in diese ewig versunkene Welt fiel, wie ein Sonnenstrahl in eine Kammer einer verschütteten Stadt. Und die Menschen der Geschichte waren ihm wie die Gebilde einer rohen Holzschneidekunst, die die menschliche Gestalt kaum in leisen Andeutungen erkennen lassen. Daß man aus der Geschichte etwas lernen könne, das glaubte er nicht. Aber lange Zeitläufte der Geschichte formten sich ihm zu riesigen Bildern von wunderbarer Gewalt, und in diese Bilder versank er mit aufgerissenen Augen und horchender Seele, wenn er hörte und las. Er sah ein Jahrhundert, da stille Mönche in stiller Zelle saßen und vom Virgil oder Cassiodor den Blick erhoben und durchs Fenster voll gläubiger Hoffnung schauten über weites, unbesiedeltes deutsches Land, indessen andere, das Kreuz in der Hand, durch unerforschte Wälder schritten und auf heiterer Lichtung ein Kirchlein oder eine Kapelle errichteten. Er sah ein Jahrhundert voll Weihrauch und Meßgewänder, da königliche Väter büßend vor unnatürlichen Söhnen knieten und lange Sündenregister, vom Priester singenden Tones verlesen, bekannten, und das ganze neunte Jahrhundert ward ihm zum »Lügenfeld«. Dann gab es eine lange Zeit, deren Angesicht in die bunte Glut des Ostens schaute und blinkende Ritter und düstere Mönche, Männer und Weiber, Greise und Kinder in jahrhundertelangen Zügen nach den ewigen Spuren des Nazareners wandern sah. Das ernste Jahrhundert des Wittenberger Mönches baute sich ihm auf mit den strengen und nüchternen Säulen eines lutherischen Gotteshauses, aus dem die streitbaren Glaubensgesänge hinausklangen in einen grauen und feuchten Novembertag; dann kam ein Jahrhundert, das lag verborgen unter den Brand- und Blutwolken eines endlosen Krieges, und so nah zogen die Wolken über den Erdboden dahin, daß die Menschen nur gebückt dahinschlichen. Aber das achtzehnte Jahrhundert, das sah er trotz aller Kriege und aller großen Revolution wie eine friedsame Stadt mit winkelig-sauberen Gäßchen, wo aus schnurrig gegiebelten Häusern Gelehrte mit Zöpfen und Kniehosen hervortraten und bedachtsam über die Straße schritten zum Nachbar von drüben, um mit ihm über die Schriften Voltaires oder über das neueste Werk des erstaunlichen Königsberger Professors zu streiten.

So hörte, so sah er die Geschichtserzählungen des Herrn Rothgrün. Aber dann mußte dieser Herr einmal ein halbes Jahr lang vertreten werden, und die Vertretung übernahm Herr Stahmer, der Religionslehrer. Und wieder empfing Asmus eine Offenbarung. Herr Stahmer behandelte während eines ganzen Semesters einen Zeitraum von zehn Jahren; er verfolgte die Geschichte bis in die Kabinette von Wien, Berlin und Petersburg hinein und erzählte so ziemlich alles, was man über die zehn Jahre wußte. Und mit einem Male ward dem Jüngling die Geschichte zur Wissenschaft. Die rohe, unverdauliche Masse der Tatsachen, wie sie Herr Rothgrün und wie sie die üblichen Lehrbücher aufhäuften, absonderlich die Großtaten der Kriegesfürsten, die mit dem Schwerte die Welt durchzogen, waren ihm von jeher furchtbar gleichgültig und langweilig gewesen: jetzt zum ersten Male ahnte er etwas von geschichtlichen Zusammenhängen. Bei Herrn Stahmer sah er keine visionären Bilder; aber er sah das Leben, und eine andere, neue Freude wärmte ihm das Herz. Wieder verschlang er jedes Wort, fast eh' es der Lehrer gesprochen; wieder schrieb er des Abends im stillen Hause mit fliegender Feder zwanzig, dreißig Quartseiten voll, und wohl zehnmal mußte ihm sein Vater mit milde mahnendem Finger auf die Schulter tupfen, er möge sich zur Ruhe legen. Mit brennendem Eifer sagte sich Asmus: In der Geschichte muß man alles wissen, sonst weiß man nichts. Und etwas Größeres begriff er: Viel wissen, bedeutet gar nichts; aber eine Sache ganz wissen, das ist Aufklärung, Befreiung. Dann wird Wissen zum Leben und macht in die gefrorenen Fenster, die uns umgeben, ein Guckloch nach der Außenwelt. Als er später in der »Systematischen Pädagogik« das »non multa sed multum« bis zum Ekel wiederkäuen mußte, da begriff er nicht, warum man dies Wort immer wiederholte und niemals befolgte.

Das und manches andere im heiligen Tempel des Präparandeums war nun wohl gut und schön; aber es gab auch gefürchtete Stunden, und die gefürchtetsten waren die Zeichenstunden, die in einer weit entlegenen Gewerbeschule genommen werden mußten. Sie waren so schlecht, daß sie sogar den Charakter verdarben.

Wie hatte sich Asmus aufs Zeichnen gefreut! Von früher Kindheit an hatte er gezeichnet, und in den Berg- und Waldlandschaften, die er kopiert hatte, hatte er ein frommes und seliges Leben gelebt. Selbst der kümmerliche Zeichenunterricht seiner Dorfschule hatte ihm noch Freude gemacht. Als Asmus zum ersten Male in dem riesigen Zeichensaal, der so viel mit der Kunst gemein hatte wie das Wartezimmer eines Bezirkskommandos, Platz genommen hatte, da setzte ihm Herr Semmelhaack ein dreiseitiges Prisma von Holz vor. Asmus zeichnete willig den Holzklotz und wartete die Wiederkunft des Lehrers ab.

Herr Semmelhaack kam und legte das Prisma auf eine Seitenfläche. (Bis dahin hatte es aus einer Grundfläche gestanden.)

Asmus zeichnete den Klotz in der neuen Stellung und erwartete den Lehrer.

Herr Semmelhaack kam und legte das Prisma auf eine andere Seitenfläche.

Asmus dachte: Aller Anfang ist öde, und zeichnete den Klotz zum dritten Male.

Herr Semmelhaack hatte an der Zeichnung einiges auszusetzen und legte dann den Klotz auf die große Seitenfläche.

Asmus dachte: Die Wurzeln der Kunst sind bitter; aber ihre Früchte sind süß, und porträtierte das interessante Holz zum vierten Male.

Jetzt bin ich mit dem verdammten Klotz durch, dachte Asmus; da kam der Lehrer und stellte das Prisma etwas nach rechts.

Asmus richtete einen langen Blick auf Herrn Semmelhaack und zeichnete dann das rechtsstehende Prisma.

Danach kam Herr Semmelhaack und stellte der Abwechslung wegen das Prisma etwas nach links.

Per aspera ad astra, dachte Semper und machte auch das.

Hierauf nahm der »Lehrer« das Prisma und stellte es Sempern wieder gerade vor die Nase, aber »über Eck«, so daß man drei Flächen auf einmal sah.

»Es ist allerdings etwas Anderes und Neues,« sagte sich Asmus, betrachtete Herrn Semmelhaack mit einem noch viel längeren Blick und machte sich wieder an seinen vertrauten Klotz.

In verzweifelten Momenten schaute Asmus sich sehnenden Blickes um; es gab überall nur Holz und Gips. Der größte Künstler unter den Schülern zeichnete einen pompösen Blumenstrauß – von Gips. In der ganzen Anstalt, soweit er hineinblicken konnte, sah er kein lebendiges, erfreuendes Objekt.

Er traute seinen Augen nicht, als Herr Semmelhaack eines Tages das dreiseitige Prisma wegnahm und einen neuen Klotz brachte. Dieser Klotz bestand aus zwei vierseitigen Prismen, die im rechten Winkel aneinander saßen. O, damit konnte man nun die tollsten und interessantesten, die bizarrsten und perversesten Dinge vornehmen; bis zum jüngsten Gericht konnte man das immer anders aufstellen. Als Asmus bei der siebenten Stellung war, da lag der Winkelklotz da wie eine Sphinx, die ihre Arme breit über die ganze lange Bank legte, den Kopf in die Hände stützte und ihn anglotzte und angähnte, und dann sagte die Sphinx, indem sie immer zwischen zwei Worten gähnte: »Ich kann – dreihundertfünfundneunzig Millionen – Stellungen – einnehmen – huu – ja.«

»Das hält kein Nilpferd aus,« antwortete Asmus.

»Sagten Sie etwas?« fragte Herr Semmelhaack.

»Ja. Ich kann nicht mehr zeichnen. Ich habe Augenschmerzen.«

Zum nächsten Unterricht ging er überhaupt nicht; er entschuldigte sich mit Augenschmerzen.

Das ging nun wohl einmal, ging auch zweimal; dann aber sagte Herr Tönnings mit dem steifen Halskragen: »Ja, dann müssen Sie ein ärztliches Attest beibringen.«

Also mußte Asmus zum Vertrauensarzt der Schulbehörde.


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