Otto Ernst
Semper der Jüngling
Otto Ernst

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XLIII. Kapitel.

Von zweierlei Schulräten.

Als er am Abend mit Doktor Rumolt spazierte, zeigte er ihm die Vorladung und erzählte, was vorhergegangen.

»Haha« – Rumolt lachte bitter auf, und dann fuhr er wehmütigen Tones fort: »Das wird Ihnen noch oft begegnen, lieber Freund. Nirgends ist der Fortschritt verhaßter, nirgends werden neue Ideen feindseliger befehdet als in der Pädagogik. Denken Sie z. B. an unsern braven Valentin Ickelsamer. Der fand zu Luthers Zeiten, daß es ein Unsinn sei, die Kinder nach Buchstabennamen lesen zu lehren, man müsse das Wort in seine wirklichen Laute zerlegen und die Kinder lautierend lesen lassen. Er machte das damals schon so klar, daß es ein Schwachkopf begreifen konnte. Und in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts entschloß die Schule sich wirklich, diesen einfachen und darum freilich genialen Gedanken zur Ausführung zu bringen. Aber das ist ein Beispiel von fabelhafter Geschwindigkeit. In den Klosterschulen des Mittelalters bildete man den Geist am Griechischen und Lateinischen, weil man nichts Besseres hatte; heute bildet man den Geist unserer Jugend am Griechischen und Lateinischen mit der ernsten Gesichtes abgegebenen Versicherung, daß man nichts Besseres habe. Der typische Scholarch weist jede ernste und gründliche Neuerung mit einem durch die kommenden Jahrhunderte gestreckten Arme von sich, und wenn er im Gegensatz zu einem Vorgänger den Aorist vor dem Perfekt behandelt, hält er sich für einen Umstürzler. Ich habe ein Buch erscheinen lassen ›Das Recht des Schülers‹ –«

»Ich kenne es,« sagte Asmus, »und freue mich, daß es so großen Anklang gefunden hat.«

»Anklang, ja aber bei den Kollegen war der Anklang nur schwach, der Widerspruch um so stärker. Das ist kein Unglück, soweit es offener und durchdachter Widerspruch ist. Aber was muß ich erleben? Kaum ein Tag vergeht, daß ich nicht im Konferenzzimmer, recht auffällig auf den Tisch gelegt, irgend eine abfällige Kritik meines Buches finde, in der die Kraftstellen mit roter Tinte angestrichen sind. Kein Gespräch verläuft ohne hämische Seitenhiebe gegen mich und meine Ideen; keine Wochenrede meines Direktors geht zu Ende ohne einige Fußtritte, bei denen die Schüler sich zuraunen: ›Das geht auf Rumolt.‹ Die Herren glauben, daß ihre Kritik mich verletze, und haben keine Ahnung, daß es ihr Wesen ist, das mich verwundet. Ich habe keinen frohen Tag mehr, und da ich von meinen Ideen und ihrer Verkündung nicht lassen kann, so werde ich über kurz oder lang das Spiel verlaufen müssen.«

»Das ist traurig,« sagte Asmus gedankenvoll, »traurig und schrecklich. Ich gestehe Ihnen offen, daß auch ich gegen Ihre Schrift manches einzuwenden habe; aber das Ganze Ihrer Gedanken und Forderungen erschien mir wahr und herrlich. Und sollten nun nicht die Menschen jubelnd herbeieilen und rufen: Hier ist etwas Neues und Köstliches – es ist noch nicht vollkommen – aber kommt alle herbei, es zu hegen und zu fördern, etwa so wie die Verwandten sich fröhlich um eine Wiege scharen und sich geloben, das Neugeborene zu schützen und zu pflegen, daß es groß und stark werde?«

»Lassen Sie sich zur Antwort darauf erzählen, daß mein Direktor mich seit Wochen an allen Ecken und Enden inspiziert und zurechtweist, obwohl er ganz genau weiß, daß ich meine Pflicht tue. Er will mir zu Gemüte führen, wie vermessen es von einem fehlbaren Menschen gewesen, gegen den von Gott geoffenbarten Gymnasialunterricht zu schreiben. Und gestern war auch richtig der Herr Regierungs- und Schulrat da und hospitierte vier Stunden hintereinander bei mir. ›Suchet, so werdet Ihr finden,‹ sagt der rachsüchtige Gerichtsdiener bei Hebbel. Und natürlich wurde was gefunden. ›Gebt mir zwei Worte von einem Menschen, und ich will ihn an den Galgen bringen.‹ Laßt einen Schulmeister fünf Minuten unterrichten, und ich will ihm den Hals brechen. Zwar den Hals konnte mir der Herr Regierungsrat nicht brechen; aber hundert Nadelstiche erzielen ja mit der Zeit denselben Effekt. ›Sie haben die und die Gesänge der Odyssee nicht behandelt.‹ – ›Sie haben am 13. April das vorgeschriebene Extemporale ausfallen lassen.‹ – ›Sie sind mit dem Geschichtspensum im Rückstande‹ usw. usw. Es stimmte alles. Und wenn der Mann gesagt hätte: Ihr ganzer Unterricht taugt nichts, so würde er für jenen Tag gewiß und vielleicht überhaupt recht gehabt haben; denn wenn man in den Zwiespalt zwischen Altem und Neuem gestellt ist, kann man nichts Ganzes schaffen. Nach meinen Ideen darf ich nicht arbeiten, und nach den alten kann ich nicht arbeiten, weil es gegen das Herz ist.«

»Aber forschte er denn nicht vor allen Dingen, ob Ihre Schüler geistig frisch und lebendig seien, ob sie einen neuen Stoff mit Begierde und Klarheit ergriffen, ob sie in sittlicher Hinsicht lauter, ehrlich, wahrhaftig seien –«

»Vielleicht tat er das im stillen – ich sah ihn freilich keine Anstrengungen machen. Dazu war er ja auch nicht geholt und geschickt. ›Rumolt soll stranguliert werden,‹ flüsterten sich die Schüler zu. Die Jugend hat jenes intuitive Auge, das durch die Hüllen dringt.«

Die Stimmung, mit der Asmus dem Besuch beim Schulrat entgegensah, war durch das Gespräch nicht gehoben worden. Um so fester war er entschlossen, sich nichts Unwürdiges bieten zu lassen.

Als er ins Amtszimmer des Schulrats gerufen wurde, saß Drögemüller schon da. Asmus verbeugte sich vor dem Schulrat, und dieser rief:

»Juten Tag, Herr Semper. Setzen Sie sich.«

»Herr Drögemüller,« begann alsdann der Schulrat, »hat allerlei Klagen jegen Sie vorjebracht. Meistens handelt es sich um Kleinigkeiten, die ich nich berühren will. Aber Herr Drögemüller beschuldigt Sie der fortgesetzten Renitenz; was haben Sie dazu zu sagen.«

»Herr Schulrat,« sagte Asmus, »ich kann Sie ja selbst als Zeugen darüber anrufen, ob ich in den vierundeinhalb Jahren, da ich Ihr Schüler war, eine renitente Veranlagung bekundet habe –«

»Det haben Se nich,« sagte Korn mit Nachdruck.

»Ich bin auch nicht so töricht, zu meinen, daß ein Hauptlehrer lauter vortreffliche Anordnungen treffen müsse und daß ein Lehrer berechtigt sei, sich gegen jede Verfügung, die ihm verfehlt erscheint, aufzulehnen. Ich füge mich gern, soweit es möglich ist, wenn man mir mit Vertrauen begegnet und wenn man mich nicht in meinen besten Kräften lahmlegt. Das tut aber Herr Drögemüller. Gleich zu Anfang schon verlangte Herr Drögemüller von uns drei neuangestellten Lehrern, daß wir alle auf dieselbe Weise den Leseunterricht erteilen sollten, und zwar auf die von ihm vorgeschriebene Weise –«

»Aber Herr Semper,« lachte Korn, »det müssen Se mißverstanden haben; sonst müßte ja Herr Drögemüller (er deutete aus seine Stirn) hier nich janz richtig sein!«

Drögemüller erblaßte sehr tief. »Ich habe es keineswegs befohlen,« stammelte er, »ich habe es nur gewünscht –«

»Warum?« fragte Korn.

»Weil – weil es doch wünschenswert ist, daß der Unterricht an einer Schule gleichmäßig erteilt wird.«

»Warum?« fragte Korn.

»Nun – es ist dann doch – alles – übersichtlicher –.« Drögemüller machte eine vage Handbewegung.

»Wieso?« forschte der grausame Korn.

»Man kann doch dann die Fortschritte besser kontrollieren.«

»So. Na, dann weiß ich schon Bescheid. Wat woll'n Sie sagen, Herr Semper?«

»Herr Drögemüller hat allerdings die Form des Wunsches, aber den Ton des Befehls gewählt, und da ich diesen Wünschen nicht nachkomme, verfolgt er mich mit Aufpassereien, die mich ärgern und kränken müssen und die mir die Lust an der Arbeit vernichten.«

»Na ja, zum Aufpassen ist Herr Drögemüller ja da,« sagte Korn, der das Gefühl hatte, daß er den zusammengesunkenen Drögemüller ein wenig wieder aufrichten müsse; »es gibt leider auch faule und unfähige Lehrer, die 'n Aufpasser brauchen. Aber schikaniert wird hier keiner«, fuhr er mit erhobener Stimme und mit einem Seitenblick auf den Ankläger fort. » Wenn ein Lehrer was kann und was will, dann soll er jede mögliche Freiheit jenießen und nicht mit Quisquilien behelligt werden. Aber verjessen Se nich, Herr Semper, dat Se Beamter sind, den Rat jebe ich Ihnen. – Sie können jehen, Herr Drögemüller. Sie bleiben noch, Herr Semper.«

»Soll ick Sie an die Seminarschule versetzen?« fragte Korn, als sie allein waren.

Das war sozusagen eine Beförderung; denn es stand fest, daß die Lehrer an der Seminarschule schneller avancierten als die anderen. Mit dieser Kenntnis hatte Asmus immer die Vorstellung von Karrierenluft verbunden, und diese bloße Vorstellung genügte, ihn zurückzuschrecken. Es mußte ja Aufpasser geben in der Welt; aber er mochte keiner sein. Und wo man Karriere machte, da paßten gar die Strebenden einer auf den andern! Er fand es ungleich schöner, immer in unmittelbarer Verbindung mit den Kindern zu bleiben. Konnte man sich Pestalozzi als inspizierenden Oberlehrer denken? Asmus sah ihn immer nur unter Kindern.

»Ich danke Ihnen sehr, Herr Schulrat,« sagte Asmus, »aber ich möchte die Kinder, die ich nun einigermaßen kenne, noch einige Jahre weiterführen. Und dann hab' ich in meinem Kollegium so liebe Freunde gefunden, daß ich mich ungern von ihnen trennen würde –«

»Na, wenn Se nich wollen –« rief Korn in halber Verstimmung, »denn sehn Se zu, wie Sie sich mit dem Drögemüller vertragen. Mit'm Kopp durch die Wand kann keiner, und jefallen lassen müssen wir uns alle was. Ich auch. Adieu!«

»Adieu, Herr Schulrat. Herzlichen Dank!«

Asmus verließ das Gebäude der Oberschulbehörde mit dem frohen Gefühl, daß es Männer gebe, denen alle hierarchische Rangordnung nichts gelte, wenn es sich um Recht und Billigkeit handle. Er war fest überzeugt, daß die Welt überhaupt so eingerichtet sei, und daß man, wenn man sich nur nicht beim Unrecht beruhige, immer zuletzt den Ort finden müsse, wo das Recht in smaragdener Schale aufgehoben und gehütet sei wie das heilige Blut der Welt. So blickte er gläubig und heiter in den schönen Frühlingstag, während zu Hause auf seinem Tische das Schicksal lag und lauerte, um ihm die Krallen ins Fleisch zu schlagen.


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