Otto Ernst
Semper der Jüngling
Otto Ernst

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II. Kapitel

Wie Asmus im Vorhof der Pädagogik weilen durfte, wie er eine andere Religion bekam, auf den Spuren Aglaias wandelte und Herrn Rothgrün nicht hinaustrampeln wollte.

Endlich, als einmal alle Rechnungen geschrieben waren und auch das letzte Protokoll »auf dem Laufenden« war, durften auch die übrigen Präparanden in die Klasse gehen und hospitieren. Welch' ein Glück, dachte Asmus, und mit weihevollem Herzen ging er der erhofften Offenbarung entgegen. Aber zunächst kam er an einen Lehrer, der es liebte, die Kinder so still zu beschäftigen, daß sie ihn möglichst wenig belästigten, und der sich, während die Schüler schrieben und rechneten, mit dem jungen Semper über Gehalts- und Anstellungsverhältnisse, über seine Frau, über Bismarck, oder über den letzten Raubmord unterhielt. Das war ja nun recht unterhaltend und wenig anstrengend; aber es war nicht das, was Asmus gesucht hatte. Er kam zu einem andern Lehrer, der hatte das ganze Einmaleins auf Reime und Bilder gebracht: die Bilder hatte er auf die Wandtafel gezeichnet, und nun mußten die Kinder die zugehörigen Verse hersagen, z. B.:

6 × 6 sind 36
In die große Schlackwurst beiß' ich

oder

8 × 9 sind 72
Dieser Knabe übergibt sich,

aber der gute Mann bedachte gar nicht, daß sich die Worte »beiß' ich« ebensogut auf 32 wie auf 36 reimen, und wenn dann ein Schüler die falsche Zahl nannte, so schalt ihn der Lehrer in komischer Verwechslung einen Esel, zerriß sich vor Aufregung und ließ die kunstreichen Verse bis zum vollkommenen Stumpfsinn wiederholen.

»Bei dem kann ich auch nichts lernen,« sagte Asmus zu jenem Mitpräparanden mit der hebräischen Handschrift, und dieser sah ihn ob solcher Anmaßung mit grenzenloser Verwunderung an.

Und schließlich fand Asmus doch einen, der auf manchen stillen Wegen der Kindesseele heimisch war, der mit den Kindern in ihrer Sprache zu reden verstand und sie, wenn auch nicht immer, so doch manchmal, aus wirrer Dunkelheit den Weg zur Klarheit führen konnte. Er war kein hoher und starker Geist, dieser Mann; aber er war sein Lebenlang mit einem Fuß im Kinderlande stehen geblieben, und so verstand er unbewußt die Regungen der Kindesseele. Hier befiel nun den Hospitanten eine andere Not: er brannte vor Ungeduld, sich selbst vor den Kindern zu versuchen; ja, manchmal schien es ihm, als wisse er einen Ausweg, wenn der Lehrer in der Wirrnis des Kindergeistes stecken blieb. Aber er hätte sich eher die Zunge abgebissen, als vor diesem Manne dergleichen laut werden zu lassen. Und alles Wippen von einem Fuß auf den andern, wenn er am Fenster stand und horchte und nicht einmal Finken und Apfelblüte seine Sinne nach außen zu locken vermochten, alle Ungeduld half ihm nichts; er mußte warten.

Inzwischen feierte er jeden Nachmittag und jeden Abend hohe Feste. Er hatte ja in der Präparandenanstalt eines der herrlichsten Geschenke seines Lebens empfangen: da war ein Religionslehrer, der sagte nicht: Das muß man glauben, sonst ist man verdammt; der fragte überhaupt nicht, was man glaube; der trug Stunde für Stunde vor, was die Wissenschaft zu den Berichten der Bibel sagt. Gleich in der ersten Stunde, im Schöpfungsbericht, trennte er die Erzählung des Jehovisten von der des ersten Elohisten und von der des zweiten Elohisten, und vor den Augen des jungen Semper zerriß ein vieljähriger Nebel. Also hatte nicht Moses diese Dinge geschrieben, also war es nicht unfehlbares Gotteswort. Sie hatten ihn bedrückt wie eine dumpfe Last, hatten ihn gequält, geängstigt; aber er hatte keinen Ausweg gewußt. Mit einem Male gab ihm dieser Mann eine Waffe und ein Licht. Und mit solchem Licht und solcher Waffe durchwanderte der Mann die ganze Bibel, festen Schrittes und unablenkbar; was nur die menschliche Wissenschaft zur Bibel zu sagen wußte, das kannte er, und er trug es frei aus dem Kopfe vor. So fest hing Asmus an seinen Lippen, daß er kein Wort zu schreiben wagte, aus Furcht, es möchte ihm ein Wort des Redenden entgehen. Und sieh: wenn er am Abend daheim saß, dann konnte er den ganzen Vortrag von Anfang bis Ende niederschreiben; so fest hing alles mit ehernen Klammern zusammen.

Ein merkwürdiger Mann, dieser Herr Stahmer. Er sprach außer seinen Vorträgen kaum ein Wort zu seinen Schülern; er verlängerte fast jede Stunde um die ganze folgende Erholungspause – ein Ding, das Schüler nicht lieben – er verlangte viel und verschonte weder Trägheit noch Dummheit. Aber er bedurfte keiner Disziplinarmittel. Von diesen jungen Leuten, unter denen manch ein dreister Gelbschnabel war, hätte nicht einer ein unehrerbietiges Wort gegen ihn gewagt; instinktiv verehrten sie in ihm das lautere Gefäß einer großen Kraft. Während zweier Jahre brauchte er wohl nie die Worte »Wahrheit« und »Gerechtigkeit«, und doch war das die stumme Lehre seines ganzen Wirkens: Wer Wissenschaft will, der muß wahrhaftig und gerecht sein, und wenn es das Leben gilt. Kein Gottesdienst hatte je das Herz des Asmus erhoben wie dieser.

Leider gab es davon nur zwei Stunden die Woche. In seiner Dorfschule waren es wöchentlich sieben bis acht Stunden gewesen. Und welchen Erfolg hatten die gehabt? Mit einem leidenschaftlichen Haß gegen diese sogenannte »Religion« hatte er die Schule verlassen. In dieser Schule hatte die »Religion« die ganze Naturgeschichte aufgefressen. Ein einziges Mal hatte Herr Cremer von den Giftpflanzen gesprochen und Bilder dazu gezeigt, nicht etwa die Pflanzen selbst, und ein andres Mal hatte ein anderer Lehrer ganz unmotiviert die Feigwurz behandelt. Die Giftpflanzen und ranunculus ficaria – das war die Naturgeschichte, mit der Asmus Semper, ein Kind der darwinischen Zeit, das Präparandeum bezog. Aber da stapfte nun zweimal wöchentlich mit drolligen Koboldschritten der naturselige »Papa Hamann« herein; er schleppte jedesmal eine Botanisierdose, die so groß war wie er selbst, und sein Gesicht glänzte wie ein Pfannkuchen, wenn er mit anstoßender Zunge sagte: »Heute meine Herren, hab' ich Ihnen etwathth sprich wie das englische th. ganth Bethondereth mitgebracht!«

Und dann kramte er aus mit dem Gesicht eines Vaters, der seine Kinder zur Weihnacht überrascht, und Asmus hörte zum erstenmal vom Bau und vom Leben der Pflanze, und wenn man ihn sah, so konnte man glauben, er wolle die Pflanzen im wörtlichsten Sinne verschlingen, so versessen war er auf dies neue Erkennen. Freilich blieb die Wissenschaft des guten Papas einigermaßen an der Oberfläche; er sprach allerlei vom Chlorophyll; aber was es für eine Bedeutung habe, wußte er eigentlich selbst nicht. Für den ausgehungerten Geist des kleinen Semper aber war alles, was er ihm bot, Gewinn, und überdies war die Lehrweise des Alten so väterlich und fröhlich und mit so wundervollen Redeblumen geschmückt!

»Eth mag wohl funfthehn Jahre thein,« sagte Papa Hamann zum Beispiel, »dath ich dath Vergnügen hatte, den Schwanth eineth Walfischeth von Angethicht zu Angethicht zu thehen!«

Oder wenn er zu den Damen von den Pflanzen einer bestimmten Familie sprach, so sagte er:

»Einige von ihnen, meine Damen, thind ganth reitthende Pfläntthchen; andere dagegen thind häthlich und widerlich!«

Und darin hatte er recht, einige von diesen Präparandinnen, die in einer anstoßenden Straße unterrichtet wurden, waren wirklich ganz reizende Pflänzchen, und Asmus und ein paar Bürschchen mit ihm ließen es sich nicht nehmen, dreien von ihnen, die auf gleichem Wege heimwärts wandelten, an laulichen Abenden in respektvoller Entfernung zu folgen und sich ihnen durch lautgesprochene Galanterien und wundervolle Witze bemerklich zu machen. Bald schon taufte Asmus die drei auf die Namen Aglaia, Euphrosyne und Thalia, und die eine von ihnen – es war Aglaia – verehrte Asmus viele Monde hindurch, ohne jemals ihre Vorderseite gesehen zu haben. Aber sie hatte einen anmutsvollen Gang, und ein schöner Gang griff Asmussen ans Herz.

Auf andern Wegen schwärmten andre Herzen, und nach den drei Grazien zu urteilen, schien den jungen Damen der schüchterne Kultus der Jünglinge durchaus nicht zu mißfallen; sie verfielen wenigstens aus einer zeitweiligen entrüsteten Gangart immer wieder in Kichern, Lachen und träumendes Hinschlendern; aber sei es nun, daß irgendwo ein Jüngling dem Drange seines Busens zu weit nachgegeben hatte, sei es, daß sich unter den verfolgten Unschulden ein strenges oder ein eifersüchtiges Herz befand – eines Tages lief eine Klage beim Seminardirektor ein, und dieser Mann hatte aus seinem heimischen Preußen und aus dem französischen Kriege, in dem er als Reserveoffizier gefochten, einige üble Gewohnheiten mitgebracht. Er hielt eine donnernde Standrede und nannte die ritterlichen Präparanden »grüne Jungen«. Man war sich sofort darüber einig, daß man sich das mit fünfzehn bis sechzehn Jahren nicht mehr bieten lassen könne und daß der einmütige Austritt aller aus der Anstalt die einzig würdige Antwort auf diese Roheit sei. Am folgenden Tage dachte man milder über die Sache; man bedurfte ja der Einwilligung der Eltern zum Austritt, und man hielt es im stillen für möglich, daß die Eltern sich von der Auffassung des Direktors nicht wesentlich entfernen möchten. Am dritten Tage endlich beschloß man, die unqualifizierbare Äußerung des Direktors auf dessen preußische Unbildung zurückzuführen und ihn zu verachten.

Nur ein pathetisches Herz vermochte sich nicht zu bezwingen. Der Träger dieses Herzens war ein gewandter Zeichner; er zeichnete an die Wandtafel einen Pfahl, der einen preußischen Adler trug, und dazu eine Kanone, die sich gegen das flügelspreizende Wappentier entlud. Der Direktor kam, sah das Bild, kratzte sich lächelnd den schwarzweißen Stachelbart, tickte dann mit den Fingern auf den Adler und sagte zur Klasse: »Da können Se lange schießen, bis Se den runterkriegen . . .« und wandte sich seinen Geschäften zu.

Und als diese erledigt waren, trat in breiter Aufmachung Herr Rothgrün, der Lehrer der Geschichte, herein. Wenn Herr Rothgrün auftrat, so sah das immer aus wie: Jetzt beginnt eine neue Epoche der Wissenschaft. Und Herr Rothgrün begann, Geschichtszahlen zu repetieren. Er nannte das Ereignis, und der Schüler mußte die Zahl nennen:

»Amenemha III.?«

»2200.«

»Vertreibung der Hyksos?«

»1580.«

»Durch wen?«

»Durch Thutmosis.«

»Amenophis?«

»1500.«

Oder Herr Rothgrün nannte die Zahl und der Schüler das geschichtliche Faktum, was genau ebenso bildend und interessant war. So ging es die ganze Stunde hindurch; denn fortfahren in der Geschichte konnte Herr Rothgrün nicht, weil er heute nichts wußte.

»Er war wieder mal nicht präpariert,« sagten die Präparanden, als er fort war.

In der nächsten Geschichtsstunde begann Herr Rothgrün nach effektvollem Eintritt und imperatorenhafter Besteigung des Katheders von neuem:

»Phul?«

»770.«

»Tiglat Pilesar?«

»740.«

Und so fort über Ägypter, Phönizier, Israeliten, Meder, Perser, Griechen und Römer bis zu den Franken und Merowingern. Wer die Zahl wußte, war gescheit, wer sie nicht wußte, dumm.

Als auch diese Stunde der Pein vorüber war, ward es abgemacht: Wenn er die nächste Stunde wieder Zahlen büffelt, dann trampeln wir. Aber keiner darf sich melden! Man kannte Herrn Rothgrün schon als einen langatmigen Hasser, der sich auch bei den spätesten Examinibus derer erinnerte, die ihm einmal mißfallen hatten. Asmus und einige andere waren gegen dieses heimliche Verfahren. Das sei »unmännlich«. Man solle eine Abordnung zu Herrn Rothgrün schicken und sich über seinen Unterricht beschweren.

»Ja, willst du das tun?« riefen einige höhnend.

»Ich gehe mit,« sagte Asmus. Aber die andern wollten nicht, und da sagte Asmus: »Allein will ich auch nicht.«

»Semper will artig Kind spielen,« spottete einer.

»Du bist ein Esel!« rief Asmus. »Trampeln tu ich nicht. Aber die Folgen trage ich natürlich mit.«


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