Otto Ernst
Semper der Jüngling
Otto Ernst

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XX. Kapitel.

Asmus ist trotz seiner trüben Erfahrungen anderer Meinung als Schiller und verfällt in eine unglückliche Liebe.

Die Schäflein hätten nun nicht deutsche Jünglinge sein müssen, wenn sie sich nicht sofort zu einem Verein zusammengeschlossen hätten. Der Verein erhielt den Namen »Treue von 1880«, womit aber nicht gesagt sein sollte, daß dies für die Treue ein besonders guter Jahrgang sei; man wollte nur, da der Bund doch zweifellos bis in die Zeiten des jüngsten Gerichts dauern würde, den nachlebenden Geschlechtern das Gründungsjahr ein für allemal einprägen. Den acht oder neun Seminaristen gesellten sich bald einige Musiker, junge Kaufleute und Beamte zu, und nun ging es an die höchsten und tiefsten Probleme der Kunst und des Lebens, und Fragen wurden gelöst, die vorher und merkwürdigerweise auch noch nachher die stärksten Geister in Bewegung gesetzt haben. Semper wurde Präses und sprach heute über den Gralstempel bei Albrecht von Scharfenberg und den gotischen Baustil, das nächste Mal über Meteore und Meteorite, und wieder das nächste Mal knüpfte er kühne Gedanken an Schillers Gedicht »Der Antritt des neuen Jahrhunderts«, dessen resigniertem Pessimismus er sich natürlich als Achtzehnjähriger nicht anschließen konnte. Seine Glanznummer aber war der »Faust«, den er aus dem Kopfe vortrug, und nur das eine betrübte ihn ein wenig, daß seine Freunde, so beifällig sie auch die ernsten Partien der Dichtung aufnahmen, doch immer am unbändigsten über die Sauferei in Auerbachs Keller und über das »verdammte Aas« und die »verfluchte Sau« in der Hexenküche jubelten. Fühlten sie denn nicht, daß der Prolog im Himmel, die Monologe, die Gretchenlieder, die Kerkerszene viel gewaltiger und schöner waren? Das Schlimmste war aber doch, daß bei einem Vereinsfeste, bei dem auch Gäste zugegen waren, ein dicker Magazinverwalter auf ihn zutrat und sagte:

»Djunger Mann, Sie haob'n jao'n kullosaoles Gedächtnis! Mit dem Gedächtnis können Sie 'ne Frau mit achtzigtausend Mark kriegen.«

Er dachte sich dies Gedächtnis in einem Magazin angestellt. Und das, nachdem Asmus den Tasso rezitiert hatte – man denke: den Tasso!

In etwa siebenundzwanzig Vorträgen sprach Morieux – sehr stilvoller Weise – über Voltaire, und bei jeder Spitzbüberei des Herrn Arouet mußte er vor unbezähmbarem Vergnügen feixen. Die Vorträge und Rezitationen wechselten mit Musik, gesungen, gegeigt und gehämmert, und unter den Musikanten waren solche, die einstmals echte und namhafte Künstler werden sollten und in diesen Stunden, wenn nicht ihr Bestes, so vielleicht ihr Heiligstes gaben. Auch gemeinsame Ausflüge unternahmen sie, und einer dieser Ausflüge führte sie in den Sachsenwald.

Bismarck, der Johannes Semper und Heinrich den Seefahrer verbannt hatte, war in Berlin, und das war Asmussen eben recht; er hätte ihm damals nicht begegnen mögen. Aber im Sachsenwalde war ein Förster, der eines Mitgliedes Onkel war. Dieses Mitglied hatte einmal »Das Blatt im Buche« in durchaus ernsthafter Absicht deklamiert und damit eine komische Wirkung erzielt, die durch keine Selbstbeherrschung zu unterdrücken war. »Ich hab' eine alte Muhme«, so beginnt das Gedicht, und genau das Organ einer alten Muhme hatte der Deklamator. Aber den Sachsenwald kannte der Deklamator; er kannte jeden Weg und Steg, und Asmus wollte ihm schon seine Bewunderung aussprechen, als sie plötzlich vor dem Försterhause standen und aus dem Hause die Försterstochter ihnen zur Begrüßung entgegentrat. Jetzt wunderte sich Asmus nicht mehr, daß das »geschätzte Mitglied« hier herum Weg und Steg kannte; denn diese Försterstochter war wohl das Hübscheste, was der Sachsenwald zu geben hatte. Sogleich empfand Asmus in der Herzgegend ein so süßes Weh, daß er bei dem bald darauf aufgetragenen Mahle nur Flüssiges genießen konnte und den Deklamator des »Blattes im Buche« mit argwöhnisch brennenden Blicken ansah. Nach dem Essen sollte Asmus rezitieren, und zwar die Szene zwischen dem Patriarchen und dem Tempelherrn, weil es Morieux »kolossal« fand, wie er zugleich das edle Ungestüm des Ritters und die bornierte Heimtücke des Pfaffen zum Ausdruck bringe, sogar im Gesicht! Und Asmussens Herz stieg wie das Roß eines Ritters, der in die Schranken reitet und vom Balkon die Farben seiner Dame winken sieht. Er machte seine Sache auch gewiß so gut wie je, und als er geendet hatte, klatschte auch die Försterstochter mit den Händen, aber nur ein einziges Mal; sie hatte nämlich eine Motte gefangen, die sie schon minutenlang mit den Augen verfolgt und nur aus Rücksicht auf die Kunst so lange verschont hatte. Unmittelbar nach Semper erhob sich, wenn auch unaufgefordert, der Führer durch den Sachsenwald, um »das Blatt im Buche« zu rezitieren. Da die Vereinsmitglieder an die Schrecken dieser Deklamation schon gewöhnt waren, so ging es mit einigen zerbissenen Lippen und zerrungenen Händen ab; nur Morieux explodierte natürlich in einem jähen Nasenlaut, den er durch ein heftig gezogenes Taschentuch in ein dringend nötiges Ausschnupfen maskierte. Die Tochter des Waldes aber blickte strahlend auf den Handlungsgehilfen, als wollte sie sagen: »Ein Künstler bist du auch noch?«

»So'n Syrupskringel!« knirschte Asmus in sich hinein, und damit meinte er nur den Handlungsgehilfen, obwohl es in gewissem Sinne auch auf die Tochter des Waldes paßte. Asmus hatte ja bald heraus, daß sie zu den höheren Dingen keine Beziehungen unterhielt; aber doch blieb er ganz in ihr gefangen; sie war eine Brezel, die der himmlische Menschenbäcker mit unendlich vielem Syrup bestrichen hatte. Und als nun alle nach einer Waldlichtung eilten und »Dritten abschlagen« spielten, da traf es sich merkwürdig oft so, daß die Försterstochter vor dem alten Muhmen-Deklamator stand, und dann legte er – dieser Frechling – ganz ungeniert, wie im Eifer des Spiels die Hände um die Taille des hochatmenden wonnigen Geschöpfes. »Der Schuft,« dachte Asmus, und die Treue von 1880 wankte in ihren Grundfesten. Er fragte sich, ob er es auch wagen würde, ihr die Hände um die Hüften zu legen. »Nie,« sagte er sich. Wenn sie es ihm verwiesen hätte, wäre er vor Scham und Stolz gestorben. Und als es das Spiel so fügte, daß sie beide vor ihm standen und er als »Dritter« den Platz räumen mußte, um nicht »abgeschlagen« zu werden, da nahm er das als ein tiefschmerzliches Symbol. Beim Abendbrot holte er dann nach, was er mittags versäumt hatte; in seiner grollenden Versunkenheit fraß er alles in sich hinein, was ihm vorkam: Schinken, Rühreier, Schwarzbrot und Liebesgram. Beim Abschied wollte er erst ohne Gruß verschwinden; aber sie sollte sich nicht einbilden, daß sie ihn verwundet habe, und mit blutendem Herzen gab er ihr lächelnd die Hand, und wie die andern winkte er, im Waldesdunkel langsam verschwindend, noch lange mit Lächeln zurück. Zu Hause verfiel er sofort in vierfüßige Trochäen, und das dauerte auch den folgenden Tag noch fort, und als das Gedicht wohl an tausend Füße hatte, fühlte er sich bedeutend ruhiger. Und als er nach dreien Tagen in einem uralten Exemplar von Herders »Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit« las und plötzlich auf einer Waldwirrnis von Gedanken die hübsche Försterstochter auftauchte, da war der Generalsuperintendent aus Weimar schon stärker als die Blume des Waldes. Das blutende Herz war geheilt wie eine Stecknadelwunde.

Aber die Treue von 1880 sollte ihm noch eine bessere Liebe und eine tiefere Herzenswunde bringen.


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