Otto Ernst
Semper der Jüngling
Otto Ernst

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LIII. Kapitel.

Enthält die Geschichte Hildens vom Marschall Davoust an bis zu Fräulein Paulsen.

Napoleon und sein Marschall Davoust hatten den Urgroßeltern Hildens ihr Glück zerstört. Diese hatten zu den 20 000 gehört, die man zu den Toren Hamburgs in Hunger und Kälte hinausgejagt, und Hildens Urgroßvater war unter denen gewesen, die auf dem Wege nach Oldensund zugrunde gegangen. Die seelenstarke Frau hatte selbst den toten Gatten bis nach Oldensund getragen, und dort hatte er teilgenommen an jenem ewig klagenden Grabe, das Friedrich Rückert besungen hat.

Wo finden wir Kost und Kleider,
Wir zwanzigtausend an Zahl?
Die andern schleppten sich weiter,
Wir blieben hier zumal.

Wir konnten nicht weiter keuchen,
Erschöpft war unsere Kraft:
Frost, Hunger, Elend und Seuchen
Sie haben uns hingerafft.

Ein ungeheurer Knäuel,
Zwölfhundert oder mehr,
Es zieht sich über den Greuel
Ein dünner Rasen her.

Über diesen Rasen war Asmus in früher Kindheit spielend dahingesprungen – wie manchesmal!

Die arme gute Großmutter, die das Elend der Eltern schaudernd miterlebt und früh den Gatten verloren hatte, war ein Stern in Hildens Jugend gewesen. Eine kindlich-fromme Frau, die ihren Glauben nicht als eine Tugend, sondern als ein Geschenk ihres Heilandes empfand, lehrte sie ihre Enkelkinder beten und geistliche Lieder singen. Aber nicht nur geistliche Lieder sang sie, sie sang:

Ich denk an euch, ihr himmlisch schönen Tage
Der seligen Vergangenheit!
Komm Götterkind, o Phantasie, und trage
Mein sehnend Herz zu seiner Blütezeit!

und sobald sie das sang, stand die kleine großäugige Hilde an ihren Knien und trank ihr das Lied von den Lippen, und sie wußte, wenn die Großmutter das sang, dann erzählte sie auch bald von der Franzosenzeit und von lieben Toten. Unter dem Herzen dieser Frau hatte Hildens Mutter gelegen, und die grenzenlose Güte dieses Herzens war auf die Tochter übergegangen, nicht aber seine Festigkeit und Stärke. Hildens Mutter gehörte zu jenen Menschen, die aus Gutmütigkeit heiraten können und ihr Mitgefühl mit dem Werbenden für Liebe nehmen. Sie war wehrlos in der Hand ihres Mannes.

Dieser Mann war der schwere, ewig lastende Schatten in Hildens Kindheit. Er war ein Selbstling von jener Art, die in Gegenwart eines vor Hunger Sterbenden einen Kapaun mit Genuß verzehren kann, die vielleicht ein Stückchen hergeben würde, wenn man sie daran erinnerte, aber nie von selbst auf diesen Gedanken verfällt. Als »Kaufmann« – er vertrieb als eine Art Stadtreisender allerlei Dinge für andere Geschäfte – dejeunierte, dinierte und soupierte er in besseren Restaurants und empfand es wie eine Niedertracht von seiner Frau, daß sie immer wieder Mittel für den Haushalt verlangte. Die wenigen Bissen aber, die er den Seinen hinwarf, würzte er ihnen mit hämischen, kränkenden Reden, und wenn er vollends angetrunken nach Hause kam, dann konnte er stundenlang immer in derselben Sofaecke sitzen und immer dieselben peinigenden Bosheiten wiederholen.

Es war ein schlimmer, schlimmer Tag gewesen, als aus diesem Hause die Großmutter für immer geschieden war. Und nicht zu mahnen brauchte man die Kleine, daß sie hingehe und die Blumen auf dem Grabe der Heimgegangenen begieße! An jedem Tage der milderen Jahreszeit machte sie sich unaufgefordert auf den Weg nach dem Friedhof. Und wenn sie ihr frommes Werk getan hatte, setzte sie sich auf das Gitter des Grabes und dachte daran, wie schön die Großmutter gesungen hatte:

Umglänze mich, du Unschuld früher Jahre,
Du mein verlor'nes Paradies!
Du süße Hoffnung, die mir bis zur Bahre
Nur Sonnenschein und Blumenwege wies.

Und bei dem Wort »Bahre« sah sie immer die Großmutter auf der Bahre liegen, und dann mußte sie weinen. – Neben der Großmutter lag auch die Tante Romona, die wunderschöne Spanierin Romona Viego, die mit 24 Jahren schon acht Kinder gehabt hatte, und das jüngste lag ihr im Arm. Das war eine gefeierte Sängerin gewesen, und als die kleine Hilde einmal die herrliche Frau gesehen hatte, auf dem Divan liegend, ganz in weißen Gewändern und eine Zigarette rauchend, da war sie ihr als die oberste und heiligste aller Frauen erschienen. Das Grab der Tante Romona pflegte sie auch, und dann wandelte sie oft stundenlang zwischen den Hügeln des Friedhofes schauend und sinnend umher und fühlte sich heimischer als in der Gegenwart ihres Vaters.

Zwischen diesem Manne und seiner ältesten Tochter war ein Gegensatz von Ewigkeiten her. Ihr Wesen war von jenem Adel getragen, dem am letzten Ende doch mit aller Brutalität nicht beizukommen ist, der wie eine uneinnehmbare innere Festung das Herz umgibt. Das aber ärgerte ihn, reizte ihn, und er schalt sie hochmütig, übergeschnappt und verhöhnte ihren regen Bildungstrieb. Sie duldete tapfer an der Seite ihrer Mutter und half ihr heimlich, soviel sie konnte, in ihren Ängsten und Nöten. Ihrem stolzen, wahrheitsliebenden Wesen war alle Heimlichkeit zuwider; aber sie begriff, daß es gegen einen gemeinsamen Feind zusammenzustehen galt. Und sie fürchtete ihn; er hatte sie wiederholt geschlagen. Einmal hatte er sie geschlagen, als sie bis spät in die Nacht das Haus hatte hüten müssen und eingeschlafen und durch langes Klopfen und Rütteln an der geschlossenen Haustür nicht zu erwecken gewesen war. Da, als sie wieder einhüten sollte und der Vater ihr streng befohlen hatte, weder zu schlafen noch sich einzuschließen, setzte sie sich an die Haustür, lehnte den Kopf dagegen und schlief beruhigt ein. Wenn die Haustür aufging, mußte sie ihren Kopf treffen, und dann mußte sie sicher erwachen. Als die Eltern sie so fanden, erklärte die Mutter, daß sie nicht wieder ausgehen werde, wenn das Kind nicht zu Bett gehen dürfe, was ihrem Gatten zu sehr ausgedehnten und sehr ironischen Bemerkungen Anlaß gab.

Nur nach langen Kämpfen und unter verletzend spöttischen Glossen hatte er zugegeben, daß Hilde dem dringenden Rat ihrer Lehrer folge und ins Präparandeum eintrete. Und bald nachdem dies geschehen, hatte er seine Familie verlassen. Er gab ihnen keinen Pfennig zu ihrem Unterhalt; aber dennoch wünschten sie ihn nicht zurück; trotz allem Mangel und aller Sorge schien es ihnen, als wäre der Himmel heiterer geworden. Mit treu vereinten Kräften schlugen sie sich durch. Aber dann wurde die Mutter krank und kränker, und endlich lag sie ein ganzes Jahr lang auf dem Schmerzenslager. Nun mußten sie den Gatten und Vater doch an seine Pflicht gemahnen, und auf Mahnen und Drängen kam er ihr halbwegs und mit Verwünschungen nach. Hätte Hilde nicht eine Freundin gehabt, die ihr oft geholfen, so hätte sie das Seminar verlassen und einen Dienst annehmen müssen. Aber es kam der Tag, da sie mit drei kleineren Geschwistern am Sarge der Mutter stand. Da plötzlich erschien auch eine Tante mit ihren Töchtern und mit Trauerkränzen, und siehe, sie erhoben ein mehrstimmiges, schallendes Klagegeheul.

»Geht hinaus!« sagte Hilde.

Die Tante glaubte nicht recht zu hören.

»Drei Jahre hat sie gelitten, und Ihr habt Euch nicht um sie und nicht um ihre Kinder gekümmert. Geht hinaus und nehmt Eure Kränze mit.«

Und die Klageweiber schlichen betreten mit ihren Kränzen davon.

Ein Bruder ihrer Mutter gab ihnen nun das Notdürftigste zum Leben. Die Verstorbene hatte immer darauf gehalten, daß ihre Kinder, wenn es irgend zu erschwingen war, am Sonntag einen Kuchen bekämen. Und eines Sonntags kaufte Hilde ihren Geschwistern für wenige Pfennige ein paar Kuchen, weil sie die verlangenden Blicke der Kleinen nicht ertragen konnte. Das hörte der Onkel und überhäufte sie mit Vorwürfen, daß sie nichts verdiene und fremdes Geld noch obendrein vergeude. Da beschloß sie, ein Ende zu machen. Sie ging zum Armenpfleger und sorgte dafür, daß ihre Geschwister bei wackeren Leuten ihrer Bekanntschaft untergebracht würden. Und dann ging sie zum Seminardirektor, um ihren Austritt aus dem Seminar anzumelden. Sie wollte einen Dienst annehmen, und wenn es der niedrigste wäre. Nur nicht mehr von der Gnade der Menschen abhängen!

Herr Direktor Dr. Korn war noch im Schlafrock und Pantoffeln; aber er dachte nicht daran, diese Toilette einer jungen Dame wegen zu ändern.

»Was wünschen Se?« fragte er unwirsch.

Sie erklärte, daß sie auszutreten wünsche.

Er starrte sie an und sagte: »Se sind wohl nicht recht jescheit. Jetzt, wo Se 'n halbes Jahr vor der Prüfung stehen?«

Sie erklärte ihm, daß sie müsse und warum sie müsse.

»Hm. Und wat woll'n Se denn jetzt anfangen?«

»Irgendeinen Dienst annehmen.«

»I Jott bewahre. Det jiebt's nich. Wir lassen Se nich los. Wir jeben Ihnen in einem unserer Schulhäuser 'ne Wohnung, umsonst, mit Feurung. Für's Essen wird sich auch Rat finden. Und vielleicht läßt sich auch noch irgendwo 'n kleines Stipendium losmachen.«

Hilde hatte Mühe, ihre Tränen zu unterdrücken.

»Also austreten is nich. Det schlagen S' sick man aus'm Kopf.«

»Ich weiß nicht, wie ich Ihnen danken soll, Herr Direktor,« stotterte Hilde.

»Is auch jar nich nötig. Halten Se man'n Kopf hoch.«

»Vielen, vielen Dank, Herr Direktor.«

»Bitte« sagte Korn nicht; all dergleichen Überflüssigkeiten verachtete er.

So war nun der äußersten Not gewehrt, aber freilich nur der äußersten. Wohl hatte sie sechs Freitische: aber die Woche hatte noch immer sieben Tage, und auch am Morgen und am Abend empfindet der Mensch ein Bedürfnis nach Nahrung. Damit nun ihre Mitschülerinnen nicht auf den Gedanken verfielen, daß sie nichts zu essen habe, versagte sie sich das Abendbrot: dann hatte sie ein paar Groschen für ein Frühstück. Auch war es für ein siebzehnjähriges Mädchen ein unheimliches Wohnen hoch oben in dem verlassenen Schulhause, und in verzweifelten Augenblicken flüchtete sie sich in den Keller, an den Herd der Schuldienerfamilie. Aber es kam die Prüfung, die sie mit Auszeichnung bestand, und mit ihr kam das befreiende Gehalt von achthundert Mark pro anno. Als sie die erste Vierteljahrsrate empfangen hatte, zahlte sie zunächst alle ihre Schulden, und dann ging sie hin und kaufte für die Schuldienerfrau ein Geschenk, weil sie der Meinung war, daß man erwiesene Freundlichkeiten vergelten müsse, sobald man die Mittel dazu habe. Ihre Sympathie mit Ludwig Semper war nicht ohne einen tiefen Grund.

Inzwischen aber war der reiche Onkel in Griechenland gestorben, der Besitzer großer Marmorbrüche, der »König der Mainotten«, der einmal gesagt hatte, wenn Hilde groß sei, solle sie seine Königin werden. Wie ein Meteor war er damals aufgetaucht und verschwunden. Nun war er tot, und alle Verwandten reisten nach Griechenland, um die Erbschaft in Empfang zu nehmen, nur die Chavonnes nicht; denn die hatten kein Geld zum Reisen. Und nach einiger Zeit hieß es, die Chavonnes seien bei der Erbschaft ausgefallen, der Onkel habe sie in seinem Testament nicht bedacht. Um ihrer Geschwister willen ging Hilde zu einem Anwalt, und der erklärte, wenn man viel Geld habe, könne man nach Griechenland prozessieren. »Das haben wir nicht,« sagte Hilde und ging mit dem ruhigsten Herzen von der Welt von dannen. Sie war ja imstande, sich selbst zu helfen; ihre Schwestern hatten ihr Auskommen, und ihren Bruder, der ein Handwerk lernte, konnte sie immerhin mit Taschengeld versorgen. In solcher Vermögenslage sich mit den Verwandten um Geld schlagen? Wozu?

Auch bekam sie ja Privatstunden, mehrere Privatstunden an der Schule einer unglaublich frommen Schulvorsteherin. Aber Hilde hatte nicht mehr die Frömmigkeit der Großmutter; eine andere Frömmigkeit war in ihr emporgewachsen. Und als die gute alte Dame, die die junge Lehrerin ob ihres Wissens und ihres Lehrgeschicks nicht genug rühmen konnte, ihr auch den Geschichtsunterricht übertragen wollte, da lehnte sie ab.

»Das kann ich nicht,« sagte sie. »Ich habe gehört, wie Sie den Geschichtsunterricht erteilen. Sie geben einen frommen Geschichtsunterricht; überall sehen Sie Gottes Fügung. Das – das kann ich nicht. Wenigstens so nicht.«

Da sah das kleine alte Fräulein Paulsen geraden Blickes hinauf in Hilde Chavonnes weit offene, dunkelleuchtende Augen und sagte: »Geben Sie nur ruhig den Geschichtsunterricht. Was Sie tun, kann nicht schlecht sein.«


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