Otto Ernst
Semper der Jüngling
Otto Ernst

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V. Kapitel.

Ob der Mensch schlafen muß oder nicht. Von stummer Liebe und von stygischen Gewässern.

Der Präparand hatte ein kindliches Vergnügen daran, wenn die Bücher sich neben ihm aufhäuften. An Faust mußte er denken, der hatte auch »über Büchern und Papier« gesessen. Faust hatte alle Fakultäten durchstudiert und sagte dann, er sei so klug als wie zuvor. Aber das war im 16. Jahrhundert! Jetzt war die Sache schon anders. Asmus wollte auch alles studieren, alles! Und dann wollte er doch sehen! Er wollt' es schon herausbekommen,

»was die Welt
Im Innersten zusammenhält«!

Und er konnte dem Famulus eigentlich nicht so unwirsch begegnen, wie es Faust tat. Freilich:

»Man sieht sich bald an Wald und Feldern satt;
Des Vogels Fittig werd' ich nie beneiden«

das war natürlich Torheit, oder, wie Asmus in jugendlicher Kraft sagte: »Blödsinn«; aber was dann folgte, das war doch wahr und schön!

»Wie anders tragen uns des Geistes Freuden
Von Buch zu Buch, von Blatt zu Blatt!
Da werden Winternächte hold und schön,
Ein selig Leben wärmet alle Glieder –«

Ja, ja, ja, so war es, da hatte der »trockne Schleicher« dennoch recht! Und zuweilen fragte sich Asmus, ob es nicht das schönste Leben wäre, immer am Tische zu sitzen, links Bücher und rechts Bücher, vor sich Bücher und hinter sich Bücher, und gar nicht wieder aufzustehen und niemals schlafen zu gehen. Wenn Ludwig Semper ihm mit leisem Finger auf die Schulter klopfte und sagte: »Du mußt zu Bett gehen,« dann fragte sich Asmus immer: »Warum geht man eigentlich schlafen? Ich werde noch einmal beweisen, daß man überhaupt nicht zu schlafen braucht.«

Er hatte den Gang und die Haltung seines Vaters geerbt; sein Vater aber ging mit großen Schritten und mit gesenktem Kopf.

»Jung', geh' doch grade!« rief seine Mutter; »grad auf wie ich, sagte der schiefe Tanzmeister,« so rief sie viele hundert Male, und dann richtete Asmus den Kopf empor und trug ihn über eine Minute lang hoch in den Lüften; dann aber sank er langsam, langsam wieder hinab, dem Tal der Träume zu.

Wer aber nun gefürchtet hätte, daß Asmus Semper ein Bücherwurm und Stubenhocker werden könnte, der würde doch nur den vierten Teil seines Wesens gekannt haben. Wie er als Knabe zu seinen Einkaufgängen immer mehr Zeit gebraucht hatte, als der Weg eigentlich erforderte, so fand er noch immer auf seinen Schul- und Heimwegen an diesem wunderbaren, ewig sich wandelnden Panorama der Welt ein unermeßliches Vergnügen. Da war zum Beispiel ein hübsches Mädchen, das ihm jeden Morgen begegnete. Sie war sehr einfach, aber ordentlich gekleidet und schien eine etwas bessere Stellung in einer Fabrik zu haben. Eines Morgens trafen sich ihre Blicke. Und von da ab traf es sich jeden Morgen, daß sie ihm in die Augen sah und er ihr. Das traf sich wohl monatelang so. Zuletzt fanden sich ihre Blicke schon ganz von weitem, auf zwanzig Schritte, und blieben so lange ineinander haften, bis die beiden Morgenwanderer aneinander vorbei waren. Und eines Morgens – war es möglich? war es denkbar? – eines Morgens schien sie leise zu nicken. Asmus griff an den Hut; aber weil er so verwirrt war, tat er es erst, als sie schon vorüber war. Dann fragte er sich auch, ob es nicht eine kolossale Dreistigkeit wäre, sie zu grüßen. Aber am nächsten Morgen nickte sie schon ganz deutlich, und tief zog Asmus den Hut, als wäre sie die Königin Semiramis. Und nach und nach nickte sie immer deutlicher und lächelte dabei, und Asmus zog den Hut und lächelte ebenfalls. Er mußte an Don Juan denken, der auch mit allen Mädchen angebunden hatte. Als aber nun die Semper auf Frau Rebekkas Betreiben wieder einmal umgezogen waren und Asmus einen andern Weg zur Schule nehmen mußte, da hörten die Begegnungen auf. Es wußte wohl keiner vom andern, wer er sei, und ob ihm ein Glück vorübergegangen oder ein Unglück. Langsam, wie der Regenbogen aus dem Grau hervorgetreten war, ward er wieder aufgesogen vom Grau.

Er ging durch manche graue Straße und manchen grauen Tag; denn der Himmel Hamburgs verhüllt sich oft wochenlang. Aber immer war er erstaunt, wenn er die andern seufzen hörte: »Nun haben wir in drei Wochen die Sonne nicht gesehen!« Brauchte man denn die Sonne? Gewiß, wenn sie am Himmel stand, dann war die Welt über alles Begreifen schön; aber konnte man nicht auch ohne Sonne fröhlich, glücklich und begeistert sein? »Drei Wochen keine Sonne?« fragte er ungläubig. Er hatte sie nicht vermißt. Ihm war es, als wäre eben noch Sonnenschein gewesen. Unter seiner Hirnschale wölbte sich ein ewig heiterer Himmel. Aber merkwürdigerweise sah man ihm das nicht an. Er schaute meistens mit einem ernsten Gesicht in die Welt, wohl darum, weil er sie über alles Erwarten schön fand.

Und in warmem Behagen stapfte er durch den tagelangen, wochenlangen Nebel und den »fisselnden« Regen Hamburgs und schaute mit Behagen in die grauen Kanäle und mit Behagen empor an den altersgrauen Häusern der ehrwürdigen Stadt. Jedes dieser Häuser sah anders aus und guckte einen an wie ein Mensch und sagte: »Hier ist sicheres und behagliches Wohnen.« Und seltsam, obwohl die Straßen schmal und dunkel waren, glaubte man's doch, während man draußen durch die neuen Viertel seines heißgeliebten Oldensund, wo die wachsende Industrie eine Mietskaserne nach der andern aufwarf, nur mit Ekel und Grauen ging. Asmus Semper hatte sich nie eine Vorstellung von der Hölle machen können; seitdem er diese neuen Arbeiterviertel, diese rauchbeschmutzten Kasernenreihen, diese Kolumbarien, diese vierstöckigen Hundehütten – nein, Hundehütten waren gewöhnlich hübscher – seitdem er die freche Prosa, die schamlose Häßlichkeit dieser Zementkisten gesehen hatte, seitdem konnte er sich ein Bild machen von einem Ort der ewigen Verdammnis. Seine Seele hatte ja Millionen von Saugfäden, die selbst aus dem ärmsten und dunkelsten Winkel noch Schönheit und Freude sogen; auch in seiner Tabak- und Studierstube fand er noch Schönheit und Freude; aber vor dem gemeinen Blick dieser Häuser zogen sich alle Fäden seiner Seele schaudernd zurück, und nie empfand er ein grimmigeres Mitleid mit den Armen, als wenn er durch diese Straßen ging.

O, wie hatte er's dagegen wieder gut getroffen mit seiner neuen Wohnung in der roten Twiete. Diesmal hatte die quecksilberne Frau Rebekka einen guten Griff getan, und sie triumphierte in hellen Tönen. Das Haus selbst war freilich auch nur eine Mietskaserne; aber gegenüber lag ein Park mit uralten Bäumen, und davor stand eine unbewohnte, strohbedeckte Hütte, und neben dem Park öffnete sich unter hohen Baumkronen, schmal und schattenheimlich, wie ein Weg zur Unterwelt, der Philosophenweg. O nein, es fiel dem Präparanden Semper gar nicht ein, um der Bücher willen solche Dinge stehen und liegen zu lassen; er durchkostete den Park bis in seine fernsten, zartesten Wipfel, wenn auch nur mit den Augen – denn im Klettern hatte er's niemals weit gebracht – er bevölkerte die Strohdachhütte mit den Gestalten Pestalozzis und Jeremias Gotthelfs, Berthold Auerbachs und Fritz Reuters; am Eingange des Philosophenweges aber sah er den Laertiaden Odysseus die Opferbräuche vollziehen, die den Schatten des Teiresias dem Hades entlocken sollten. Er war schon hundertmal durch diesen Philosophenweg gegangen und wußte ganz genau, daß nur ein kümmerliches Rinnsal ihn begleitete und daß er auf eine Goldleistenfabrik mündete – aber wenn er von seinem Bett aus durchs Fenster nach dem Eingang des Weges sah, dann war es der Ort,

»Wo in den Acheron sich der Pyriphlegethon stürzet
Und der Strom Kokytos, ein Arm der stygischen Wasser.«

daran hätten siebzigtausend Goldleistenfabriken nichts zu ändern vermocht.


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