Otto Ernst
Semper der Jüngling
Otto Ernst

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XLI. Kapitel.

Die Schule am Wiesenhang.

Und die Kämpfe mit diesem System nahmen bald wieder ihren frischfröhlichen Anfang, und in Asmussen stiegen lebhafte Zweifel darüber auf, ob es sich angenehmer unter dem Korporalstock oder unter dem Federhalter eines Bureaukraten lebe. Es war gar nicht zu leugnen, Drögemüller hatte meistens den Buchstaben des Gesetzes für sich, und es gab viele Gesetze mit vielen Buchstaben. Diese Gesetze konnten erträglich sein in der Hand eines Mannes, der den Geist vom Buchstaben zu sondern wußte; er aber verschärfte diese Gesetze noch durch seine Persönlichkeit. Wenn man ihm klarzumachen suchte, daß der Lehrer ein Künstler sei, der zu seinem Werk der freien Bewegung, der guten Laune und einer schaffensfröhlichen Stimmung bedürfe, den man deshalb mit Liberalität und mit Achtung vor seiner Eigenart behandeln müsse, dann zeigte Drögemüllers Angesicht ein irres, aber überlegenes Lächeln, als spräche man Chinesisch zu ihm und als verstünde er das Chinesische besser. Wenn die Verordnung vier schriftliche Hausarbeiten in der Woche vorschrieb und nur drei gemacht waren, dann kümmerte es Drögemüller nicht, daß der Verbrecher mit aufopfernder Begeisterung und treustem Eifer zu arbeiten pflegte und seine Klasse so weit fortgeschritten war wie irgendeine – er kannte keine Scham vor dem Geiste und bestand auf seinem Schein. Nicht das Geschaffene zu würdigen und zu mehren, sondern auf Übertretungen zu fahnden – darin erkannte er seinen göttlichen Beruf. Zu diesem Zwecke schlich er überall mit seinem Notizbuch umher, zu diesem Zwecke horchte er sogar an den Türen, und es verbesserte seine Stimmung gegen Asmussen nicht, als dieser eines Tages eine Tür, hinter der er Herrn Drögemüller ahnte, mit großer Kraft öffnete und dabei den spitzesten Ellbogen des Vorgesetzten traf.

»Pardon,« sagte Asmus, »ich konnte nicht ahnen, daß Sie hinter der Tür ständen.«

Wenn sich nun auch Asmus bewußt war, daß er alles leistete, was eine menschliche Behörde von ihm verlangen konnte, so verdarb ihm doch diese Aufpasserei einen Teil seiner besten Kraft. Ihm war dabei zumute wie dem Reisenden, der eine geweihte Stätte besucht und der aus allen Winkeln trinkgeldsaugende Blicke auf sich gerichtet sieht; eine große, freie Bewegung des Herzens konnte nicht aufkommen. So war es denn Trost und Erquickung, mit Dr. Rumolt, seinem neuen Freunde, in freien Abendstunden von der Schule der Zukunft wenigstens reden zu können.

Sie waren die Flottbeker Chaussee, die lieblichste Landstraße der Welt, hinuntergewandert, waren in einen zum Flußufer hinabführenden Engpaß eingebogen und hatten sich auf einer Bank in halber Höhe des Weges niedergelassen. Vor ihnen breitete sich ein beblümter Wiesenhang, von Gebüsch umkränzt, und über die Büsche hinweg sah man den großen, stillen, majestätischen Strom. Die Wiese gehörte zu einem Mühlengehöft, und die alte Mühle drehte schläfrig ihre Flügel.

»Sehen Sie,« sagte Rumolt, »das wär' eine Schulstube, gelt? Was meinen Sie: auf dieser Wiese mit seinen Jungens oder Mädels liegen und von Gras und Blumen sprechen, von Frosch und Schmetterling, von Busch und Baum, von Rind und Schaf, von Müller und Mühle, von Schiff und Seefahrt, von den Flotten der Hansa und von Störtebekers Räuberfahrten, und dann mit Jungen oder Mädchen hinunterrudern oder -segeln und ihnen zeigen, wo die Helden der Gudrunsage auf dem Wulpensande kämpften und wo Hettel von Hegelingen gewohnt. Meinen Sie nicht, daß ihnen da eine andere Welt aufgehen würde als die, die ihnen zwischen vier Mauern als »Welt« vorgetäuscht wird?«

»Das meine ich allerdings.«

»Hinaus ins Freie! – Das ist das ganze Geheimnis der Pädagogik. Die Welt anschauen und anfassen, das ist alles. Sie nennen es bei Gott Anschauung, wenn sie Bilder und Präparate im Zimmer vorzeigen. Das ist, wie wenn jemand einen Vortrag übers Meer halten und zur Veranschaulichung ein paar Tropfen Seewasser in einem Probiergläschen vorzeigen wollte. Sie zeigen ein paar Tropfen vom Meere des Lebens. – Sehen Sie hier, diese Wiese, dieses Gehöft, dieser Strom, so weit wir ihn sehen, dieser Himmel, sie umschließen nahezu alles menschliche Wissen und Erkennen. Auf diesem Fleckchen könnte man eigentlich alles lernen, was der Mensch wissen und brauchen kann.«

»Aber auf die Dauer würde es Ihren Schülern langweilig werden.«

»Gewiß, wir wollen ja auch von Ort zu Ort wandern. Ich will ja nur zeigen, daß die Natur überall Millionen Anknüpfungspunkte bietet, die in der Schulstube nur in der Einbildung vorhanden sind. Denn das Wissen der Schule ist gar kein Wissen. Wissen ist Können; nur was man kann, das weiß man auch. Selbst handeln, selbst schaffen muß das Kind, wenn es lernen soll. Wenn ich frei in meinem Beruf wäre, so müßten meine Schüler ohne Ausnahme Ackerbau treiben. Nicht, daß sie alle Landleute würden, bewahre; viele würden ja gar kein Talent dazu haben – aber der Ackerbau umfaßt nahezu den ganzen Kreis des menschlichen Wissens und Könnens, und er lehrt dieses Wissen und Können durch Tat!«

»Der Unterricht, wie Sie sich ihn denken,« sagte Asmus, »würde allerdings eine wesentlich kleinere Schülerzahl voraussetzen.«

»Gewiß,« fuhr Rumolt fort. »Ich denke, ein Lehrer kann nur so viele Kinder wirklich erziehen, wie ein Vater allenfalls erziehen kann, und zwölf, die ehrwürdige Patriarchenzahl, erscheint mir da als das äußerste Maß.«

»Da brauchen wir viele Lehrer, und zwar Männer von außerordentlich vielseitiger Bildung.«

»Daß unsere Lehrer eine bessere Bildung empfangen könnten, als sie auf Seminaren und Universitäten meistens finden, daß sie ihre beste Kraft in einem öden Datenwissen verzehren und verzetteln müssen, das wissen Sie so gut wie ich. Im übrigen aber dürfen Sie sich meinen Lehrer nicht wie einen allwissenden Magister von heute vorstellen. Er wird sich nicht schämen, ein Lernender mit Lernenden zu sein, und wird keinen Augenblick zaudern, zu sagen: ›Das weiß ich nicht, ich werde mich zu unterrichten suchen,‹ oder ›Forscht selber nach, und wer es gefunden hat, der sag es uns‹.«

»Der banalste Einwand ist der gewichtigste,« meinte Asmus, »das Geld. Der Staat müßte sich einen ganz andern Schulsäckel zulegen als den heutigen.«

»Ja – hahahaha – das müßte er,« lachte Rumolt. »Er müßte sich an den eigentlich doch recht naheliegenden Gedanken gewöhnen, daß er keine höhere Aufgabe hat als die Erziehung seiner Bürger, daß er gar nicht besser für seinen eigenen Bestand sorgen kann als durch die Erziehung seiner Bürger, und daß er darum kein größeres Budget haben sollte als sein Erziehungsbudget.«

»Statt dessen macht er das Einjährigen-Zeugnis zum Erziehungsideal,« bemerkte Asmus.

»Ja!« Rumolt schlug ihm lachend aufs Knie. »Ist eigentlich eine ärgere Posse denkbar? Eine militärische Vergünstigung als Speck in der Seelenfalle! Und nach diesem Zeugnis müssen sie nun alle ohne Unterschied streben – die das Geld dazu haben, natürlich – und alle, die im Leben »etwas Besseres« werden wollen, müssen dasselbe famose Abiturium machen. Da schimpfen sie auf die Gleichmacherei der Kommunisten und Sozialdemokraten – aber gibt es eigentlich eine schlimmere Gleichmacherei als unsere Prüfungsvorschriften? Da hab ich einen Burschen in der Untersekunda, einen Prachtbengel, vorzüglich begabt in der Mathematik und allen Naturwissenschaften, von merkwürdigem Geschick in allem Technischen – was er anfaßt, gelingt ihm, und obendrein noch hochmusikalisch. Aber auf dem Kriegsfuß mit allem, was fremde Sprachen heißt. Nun sitzt er das zweite Jahr in meiner Klasse, und wenn seine fremdsprachlichen Leistungen nicht besser werden – und dazu ist keine Hoffnung – dann bleibt er zu Ostern wieder sitzen und erreicht nicht einmal das Einjährigen-Zeugnis. Und ich halt es für sehr wohl möglich, daß er nach sieben Jahren der Angst und Mühe hingeht und sich erschießt. Nun frage ich Sie: warum soll dieser Mensch nicht auf die Universität gehen und Naturwissenschaften studieren, warum soll er nicht aufs Polytechnikum gehen und Ingenieur werden dürfen? Wäre nicht denkbar, daß er einmal von seinem Laboratorium aus die Welt aus den Angeln höbe, ohne den Beistand der Herren Xenophon, Ovid und Victor Hugo? Doch –« Rumolt zeigte nach Westen –

»Doch laß uns dieser Stunde schönes Gut
Durch solchen Trübsinn nicht verkümmern! –
Sie rückt, sie weicht, der Tag ist überlebt!«

Was denken Sie, wenn man bei solchem Anblick mit seinen Schülern von der Sonne spräche, nicht von ihrer chemischen Zusammensetzung und ihrem Kubikinhalt – das würd' ich am Tage tun –, aber von den Ländern, denen sie jetzt das erste Licht bringt, von der Sonne als Gottheit und Symbol, von Karl Moors Wehmut: ›So stirbt ein Held‹ und von Faustens Sehnsucht, ihr zu folgen? Müßten da nicht in den Seelen der Kinder und Jünglinge wie von selbst die Ewigkeitsgedanken erwachen?«


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