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Wie Asmus schlafwandelte und die Gedankenwelt des Herrn Quasebarth auf den Kopf stellte.
Als obendrein der Architekt nach Süddeutschland übersiedelte und auch diese Speisung ihr Ende fand, sah Asmus sich wieder ganz auf dem alten Punkte. Es galt, eifriger denn je nach Privatstunden auszuschauen, und er fand auch immer wieder neue; aber da sie meistens schlecht bezahlt wurden, so mußte er ihrer so viele geben, daß er an gewissen Tagen mit einer dreiviertelstündigen Unterbrechung von sieben Uhr morgens bis elf Uhr abends bei der Arbeit oder auf dem Marsche war. Um sechs Uhr abends kam er dann zum Mittagessen. Das Diner war in zehn Minuten erledigt, und dann lehnte er sich ins Sofa zurück, um 35 Minuten lang nichts, gar nichts zu tun. Solche Bedürfnisse hatte er früher nicht gekannt. Mit dem Blick auf die Uhr genoß er die Minuten einzeln, und die Zeit schien dadurch länger zu werden. »Noch sieben schöne Minuten,« dachte er, »noch sechs, noch vier,« und die letzten Minuten kostete er, wie man Tropfen eines kostbaren Weines einzeln auf der Zunge zergehen läßt. O weh, dann war er doch ins Träumen geraten und hatte fünf Minuten über die Zeit genossen! Nun hieß es rennen.
Eines Abends auf dem Heimwege stieß er mit dem Kopfe gegen den Mauerpfeiler eines Gartenportals. Wie konnte denn das angehen? Hatte er denn im Gehen geschlafen? Nein, das war nicht möglich. Er blutete an der Wange, und am andern Tage neckte man ihn in der Klasse, er sei bekneipt gewesen.
Wenige Tage später, auf demselben Wege, erwachte er plötzlich auf einem freien Platze. Er mußte sich lange besinnen, eh' er begriff, wo er war. Er war in einer ganz verkehrten Richtung gegangen und hatte nun einen noch weiteren Weg nach Hause als sonst. Er war so erschöpft, daß er nach zehn Schritten immer wieder einschlief; aber der einstündige Weg mußte gemacht werden, da half nichts. Er nahm ein heftiges Tempo an und stampfte den Boden wie ein Grenadier beim Parademarsch; aber nach wenigen Minuten wurden seine Schritte langsamer – langsamer – langsamer. Am andern Morgen erinnerte er sich nicht, wie er nach Hause gekommen.
Und noch einige Tage später erwachte er auf demselben Heimwege von einem trappelnden Geräusch. Verstört blickte er auf und fand, daß er vor zwei sich bäumenden Pferden stand, die um seinetwillen nicht weiter wollten. Er sprang zur Seite, und der Kutscher fuhr fluchend weiter und schimpfte etwas von »Besoffenheit« vor sich hin.
Dieser Schreck war von so nachhaltiger Wirkung, daß Asmus nicht wieder im Gehen einschlief. Die Theorie, daß der Mensch eigentlich überhaupt keinen Schlaf brauche, hatte er aufgegeben.
Manchesmal in dieser Zeit mußte er an Adolfinen denken, wie sie lachend ihren großen Mund aufriß und rief: »Du willst Lehrer werden? Du bist wohl verrückt!« – – – –
Und wer wußte, ob er nicht wirklich eines Tages die Flinte ins Korn warf und ans Zigarrenbrett ging! Aber da war Ludwig Semper, sein Vater. Je älter Ludwig wurde, desto früher stand er auf; er schlief nur wenige Stunden in der Nacht. Und in der Frühe des Morgens bereitete er seinem Sohne den Kaffee und strich ihm sein Brot. Und wenn Asmus seine bescheidene Toilette beendet und sich zum Frühtrunk gesetzt hatte, dann wußte er, ohne aufzublicken, daß der Blick seines Vaters auf ihm ruhte. »Er freut sich, daß es mir schmeckt,« dachte Asmus. »Und er freut sich, daß ich ins Seminar gehen kann und etwas werde, was er nicht werden durfte.«
O ja, zu Hause schmeckte ihm noch das Brot; aber er mußte auch den Tag über von Brot leben, weil er erst um 5 oder um 6 Uhr zum Mittagessen kam, und wenn er in der Mittagspause im Seminar sein Frühstück auswickelte, dann schauderte er oft zurück und wickelte es wieder ein. Die Luft dieser alten Schulkasernen belegt alle Luft- und Speisewege wie mit einer übelschmeckenden Schicht; bis in den Magen hinein fühlte man diese Luft; er mußte sich Gewalt antun, wenn er einen Bissen hinunterwürgen wollte, und wenn einem Achtzehnjährigen der Appetit fehlt, so fehlt ihm ein Stück Jugend. Und eines Morgens fragte ihn Herr Rothgrün in der Geschichtsstunde:
»Stehen Sie morgens so früh auf?«
»Ich – o nein,« sagte Asmus ohne Verständnis.
»Sie schliefen nämlich eben,« fuhr Herr Rothgrün pikierten Tones fort.
»Ich? Nein!« erklärte Asmus wie alle Leute, die der Schlaf wider Willen überfällt, und in der Tat war der Schlaf nur wie ein leises Wölkchen vor seinen Augen vorübergezogen. Er hatte Herrn Rothgrün noch vom zweiten Samniterkriege sprechen hören, und jetzt sprach er vom dritten, also konnte nicht viel Zeit verstrichen sein; denn Herr Rothgrün erledigte solche Sachen sehr schnell. Und in eben dieser Aufmachung interessierten Asmus die Samniterkriege nur äußerst schwach.
Da ihn sein fröhlichstes Gefühl, sein Kraftgefühl in diesen Zeiten verließ, fühlte er sich ernstlich unglücklich. Daß er in der Klasse eingeschlafen war, empfand er bei seinem peinlichen Ehrgefühl als eine Schmach, und daß er Herrn Rothgrün in seiner Eitelkeit verletzt hatte, war nicht gut; denn Herr Rothgrün vergaß dergleichen schwer; aber das alles bedeutete nichts gegen einen anderen Schmerz.
Das war kein Studieren mehr, was er jetzt trieb! Das war nichts als ein Aufschnappen und Wiederfahrenlassen im Husch und Hui. Er war es gewohnt, zu dem, was das Seminar ihm gab, wenigstens ebensoviel durch eigene Arbeit hinzuzutun. Bei wichtigen Fragen und Aufgaben – und seinem Feuereifer schien fast alles wichtig – holte er sich alle Darstellungen und Behandlungen herbei, die ihm Neues bieten konnten, und durchackerte sie; aber nie beruhigte er sich bei den Büchern; er zwang sich, die Ideen eines Bacon, eines Comenius, eines Pestalozzi und Herbart, die Abhandlungen eines Schiller und Lessing, die Darstellungen eines Ranke und Mommsen unabhängig vom Buch, in eigener Form zu rekonstruieren, ihre Zusammenhänge, da, wo sie ihm fehlten, selbst zu finden; er hielt sich gleichsam selbst Vorträge; ja, er diskutierte im Schlafzimmer laut mit sich selbst und stellte Grund und Gegengrund sozusagen im kontradiktorischen Verfahren einander gegenüber, so daß Frau Rebekka, die für den Frieden eines Studierzimmers nicht allzuviel Verständnis hatte, zuweilen lächelnd hereinkam und rief: »Junge, du priesterst ja wieder ordentlich.« Er hatte nun einmal dies leidenschaftliche Bedürfnis nach Klarheit; es war, als ob eine Stimme in ihm rief: Nichts Dunkles hinter dir zurücklassen, sonst verwirrt sich alles Künftige, und er hatte den heiligen Glauben, daß, wer sich bei keinem unklaren Gedanken beruhige, endlich auch die letzten Rätsel lösen müsse. Er war in der Mathematik nicht zufrieden damit, die Lehrsätze zu beweisen und die Aufgaben zu lösen, er wollte auch die Axiome beweisen und begründen. Daß jede Größe sich selbst gleich ist – natürlich, die Wahrheit dieses Satzes begriff er intuitiv wie jeder normale Mensch; aber er wollte sie auch beweisen, und das konnte man nicht, und die ihm in späteren Jahren das bedrückte Herz befreien sollten: die intuitiven Gewißheiten, sie machten ihm in diesen Jahren Pein. Aber noch mehr: alles, was er logisch begriffen hatte, wollte er auch sinnlich erfassen. Es war der Künstler in ihm, der sich nicht beim Abstrakten beruhigen wollte. Den Satz des Menelaos von der Transversale, die die Seiten eines Dreiecks schneidet, logisch begreifen und beweisen, das konnte ein Kind; aber er wollte auch sehen, daß die Produkte der nicht anstoßenden Abschnitte einander gleich seien. Und das konnte man nicht. Ja, man konnt' es ja ausrechnen, aber das war kein Sehen! Und nun kam noch hinzu, daß er mit einem Mangel in seiner Anlage zu kämpfen hatte: in gewissen Dingen der Physik, der Anatomie, der Botanik und so weiter machte ihm das dreidimensionale Vorstellen Schwierigkeiten. Wenn er sich den Längsdurchschnitt des menschlichen Körpers oder einer Maschine oder eines pflanzlichen Gefäßsystems vorstellte, so ward es ihm bitter schwer, sich zugleich den Querdurchschnitt vorzustellen, und er grub die Nägel in die Stirnhaut, daß es schmerzte, bis er die rechte Anschauung gewann. Er hatte das Gefühl, als könne er sein Gehirn anspannen, wie die Muskeln seiner geballten Faust. Daß die Molekularbewegung und das Atomgewicht, der Magnetismus, die Elektrizität und vieles andere ihm Sorge machten, ist selbstverständlich. Warum wirkte am doppeltlangen Hebelarm das halbe Pfund genau so stark wie das ganze Pfund am einfachen, warum, in drei Teufels Namen warum? Es war so leicht, zu lernen, und so schwer, zu erkennen. Und er fand in seinem Seelendrange nicht immer Unterstützung. Um sich im raschen und klaren Erfassen geometrischer Verhältnisse zu üben, liebte es Asmus, die Figuren nicht mechanisch, sondern mit den möglichen Veränderungen in Konstruktion und Lage zu wiederholen, und bekanntlich ist es der Geometrie fabelhaft gleichgültig, ob das Hypothenusenquadrat oben oder unten, rechts oder links liegt, dieweilen sie von oben und unten, rechts und links überhaupt nichts weiß. Aber Herr Quasebarth, der Lehrer der Mathematik, dachte nicht so vorurteilslos, und als Asmus eines Tages fünf Konstruktionsaufgaben einreichte, die nicht so standen, wie es Herr Quasebarth seit siebenundzwanzig Jahren gewohnt war, sondern auf dem Bauche oder auf dem Rücken lagen oder auf dem Kopfe standen, da schrieb er mit Wucht darunter »falsch« und eine Vier, das schlechteste Zeugnis; denn er durchflog die Hefte seiner Schüler wie ein Schnellzug, der unterwegs nicht hält. Asmus machte ihn darauf aufmerksam, daß alle Aufgaben zweifellos richtig gelöst seien und nur sozusagen andere Hosen anhätten als sonst. Herr Quasebarth sagte höhnisch: »So« und dann sah er ins Heft und sagte:»Die« – und dann sagte er unsicheren Tones: »Das« – und nachdem er noch »Hm« gesagt hatte, rief er ärgerlich: »Ja, richtig sind sie wohl; aber was sollen die Veränderungen: machen Sie es doch, wie es alle anderen machen!« und er nahm die Feder und erhöhte das Zeugnis – um einen halben Grad. Er wollte damit ausdrücken, daß der Schüler richtig gearbeitet, der Lehrer hingegen recht habe.