Otto Ernst
Semper der Jüngling
Otto Ernst

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XI. Kapitel.

Wie Asmus plötzlich eine glänzende Karriere machte und dabei auf den Hund kam.

Zu diesen ganzen und halben Freunden gewann Asmus endlich eine ganze Schar von kleinen Freunden. Als er im zweiten Jahre seines Präparandentums eines Morgens in die Schule kam, ließ ihn der Oberlehrer in sein Zimmer rufen. »Herr Dohrmann hat sich krank gemeldet,« sagte er, »und wird voraussichtlich in acht Wochen nicht kommen können. Ich habe Sie zu seiner Vertretung ausersehen. Übernehmen Sie die Klasse. Ich bin überzeugt, daß Sie mein Vertrauen rechtfertigen werden.« Asmus konnte vor Überraschung nicht sprechen; er nickte nur stumm und verließ das Zimmer.

Als er draußen stand, war sein erstes Gefühl ein wirbelnder Jubel. Lehrer! Er sollte Lehrer sein! Einer ganzen Klasse sollte er vorstehen, er ganz allein! Er wußte im nächsten Augenblick selbst nicht, wie er die drei Treppen zum obersten Stockwerk hinaufgekommen war. Und als er vor der Klassentür stand und die führerlosen Kinder lärmen hörte, da stak ihm das Herz, das noch eben so hoch geflogen war, tief unten in den Schuhen. Warum sollte er, der kleinste und jüngste von den drei Präparanden, den kranken Lehrer vertreten? Warum nicht Morieux, der ein ganzes Jahr länger an der Schule war als er? Warum nicht Claus Münz, der Große und Starke, der den Kindern gewiß mehr imponierte als er? Er kannte ja nichts vom Unterrichten, rein gar nichts. Ach ja, er wußte wohl: alle in der Schule hielten ihn für außerordentlich ernst und gesetzt. Die Leiden, die Verfolgungen, die er als Knabe erduldet, hatten seinem Gesicht, seinem ganzen Wesen einen zusammengerafften, entschlossenen Ernst gegeben, und wer ihn nicht in vertrauten Stunden gesehen, der konnte nicht wissen, daß hinter den Wolken seiner Stirn die volle Sonne stand. Er hatte gerade um jene Zeit auf Menschen solcher Art in schwerhinwandelnden Versen ein schwerernstes Gedicht gemacht, das nannte er »Erscheinung«.

Eine düstre Wolke seh' ich schwimmen
Durch den abendlichen Himmelsraum.
Nur um ihres Scheitels Zacken glimmen
Zarte Lichter wie ein Flockensaum.

Gleichwie starrgewalt'ge Bergesschroffen
Ragt die Wolke hoch in den Azur,
Doch um ihre Stirne lichtgetroffen
Hängt des Alpenglühens Rosenflur.

Denn verborgen hinter jener Mauer
Strömt der Gnadenquell des Sonnenlichts,
Und die Wolke, uns ein Bild der Trauer,
Blickt nach dort verklärten Angesichts.

Also sah ich düstre Menschenstirnen
In den Grenzen dieser Erde auch:
Sie umfloß wie Glanz der Alpenfirnen
Eines fremden Lichtes leiser Hauch.

Augen sah ich, die dem Hier entrinnen,
Das mit Tränenschatten sie umhüllt;
Doch versunken war ihr Blick nach innen
Und von dort mit sel'gem Glanz erfüllt. –

Er gab diesem Licht einen zum Himmel gewandten Blick, ein überirdisches Angesicht, weil er das für erhabener hielt und er damals gerade ein Dichter wie Klopstock und die Hainbündler werden wollte; in Wirklichkeit aber sprang seine Fröhlichkeit wie diejenige Klopstockens mit frischen Jugendbeinen auf der Erde umher. Das wußten die in der Schule nicht. Sie schrieben ihm auch weit größere Kenntnisse und Fähigkeiten zu, als er besaß, und das machte ihm Unbehagen, weil es ihm vorkam, als täuschte er sie, als müßte er seine Kenntnisse einmal alle aus dem Kopfe hervorholen und auf den Tisch legen, damit sie sähen, wie wenig er wisse und könne. Vor neuen, gewichtigen Aufgaben stand er stets mit einem ehrfurchtsvollen Gefühl der Unberufenheit.

Mit solchem Gefühl im Herzen drückte er endlich die Klassentür auf. Er stand vor den Kindern.

Sie verstummten vor Überraschung. Was will der denn, dachten sie. Asmus gebot ihnen, ihre Sachen unter den Tisch zu legen und sich ordentlich hinzusetzen. Sie gehorchten; aber einige duckten sich hinter den Rücken des Vordermannes und kicherten, weil der kleine Schreiber aus dem Zimmer des Oberlehrers Schulmeister sein wollte. Da steckte Asmus von seinen ernsten Gesichtern das allerernsteste auf und sah den Aufsässigen ruhig in die Augen – da saßen sie still und ohne Laut. Das fühlte er sofort, die Zügel in der Hand behalten, das war nicht so schwer; aber das Unterrichten!

Ja, die Unkundigen halten Unterrichten für die einfachste Sache von der Welt. Man sagt den Kindern, was sie wissen sollen, und dann wissen sie's ja! Aber man soll ihnen gar nichts sagen, das ist's ja gerade! Alles sollen sie selber sagen, durch unaufhörliche Fragen soll man's aus ihnen herausholen; so verlangt es das »erotematische« oder »katechetische« oder »heuristische« Lehrverfahren. Asmus kannte diese gelehrten Vorschriften wohl; aber als er nun vor den sechzig Gesichtern stand, wußte er nichts damit anzufangen. Ihm war, als solle er den Kindern über ein meilenbreites Wasser die Hand reichen. Und wenn ihm vorher das Herz in den Schuhen gesteckt hatte, so hatte er jetzt zum mindesten vier Herzen, eines in den Schuhen, eines im Halse, das ihn würgte, eines in der Brust, das ihm wehtat und eines in der Darmgegend. Und nun kamen überdies noch Münz und Morieux herein; denn es war Brauch, daß, wenn ein Präparand unterrichtete, die andern zuhörten und hernach ihre Kritik übten. Wie ein Doppelbeckmesser mußten sie aufpassen, ob auch alle Fragen des Katecheten mit »W« anfingen (denn so verlangt es das »System«), ob Asmus auch keine »Wahlfragen« stellte, d. h. Fragen, auf die man nur mit Ja oder Nein zu antworten brauchte, die also die Schüler zum Raten verleiteten, ob er auch rechtzeitig zusammenfasse und wiederhole, ob er auch alle Kinder gefragt habe, bevor er eins zum zweitenmal frage, ob er auch tadle, wenn ein Schüler beim Fingerzeigen auf der Bank trete, ob er auch bemerkt habe, daß Müller sich in vereinfachter Manier die Nase geputzt habe usw.

Asmus sollte zunächst eine Anschauungsstunde geben, und er holte sich aus dem kleinen Schulmuseum einen ausgestopften Fuchs, der aber dank der Kunst des Ausstopfers den Hinterleib einer feisten Katze hatte.

»Was ist das?« fragte Asmus.

»Das ist ein Hund,« antwortete ein Schüler; denn die Stadtkinder kannten keinen Fuchs.

Statt nun an diese nicht ganz unrichtige Antwort anzuknüpfen und den Fuchs zunächst als Hund zu behandeln, oder aber mit Eleganz darüber hinwegzugehen und einen anderen zu fragen, biß sich Asmus sofort in diese Antwort fest.

»Nein, ein Hund ist das nicht,« sagte er, »woran sieht man, daß es kein Hund ist?«

»Er hat gar keinen Maulkorb um!« rief ein kleiner Bursche.

»Haben denn alle Hunde Maulkörbe?« fragte der junge Präzeptor. (O weh, eine »Wahlfrage!«)

»Nein,« riefen viele Kinder. (O weh, der Präzeptor duldete, daß die Schüler im Chor antworteten, ohne es zu tadeln! Münz und Morieux notierten eifrig in ihren Heften.)

»Wozu gehört der Maulkorb also gar nicht?«

»Der Maulkorb gehört gar nicht zum Hund,« sagte ein Schüler.

Das genügte Asmus nicht so ganz. Er wollte den Irrtum beseitigen, daß der Maulkorb ein organischer Bestandteil des Hundes sei (er wußte, daß die Kinder auch das Hufeisen für einen Teil des Pferdehufes halten), er wollte die Antwort: »Der Maulkorb gehört nicht zum Körper des Hundes;« aber wie sollte er aus diesen Kleinen das Wort »Körper« herauskatechisieren? Sollte er fragen: »Ist der Maulkorb etwa ein Körperteil des Hundes?« Nein, das durfte er nicht, das war eine »Ja-und-Nein-Frage«. Er versuchte es auf mancherlei Weise; denn er meinte, jeder auftauchende Irrtum müsse sofort und gründlich beseitigt werden; aber das ersehnte Wort kam nicht. So biß er sich im Maulkorb des Hundes fest und war noch immer nicht beim Fuchs, obwohl er schon am ganzen Körper schwitzte.

Endlich mußte er das Rätsel doch aufgeben, und so war Zeit und Mühe verloren.

»Also ein Hund ist das nicht. Woran sieht man das?«

Da stand ein Genie auf und sagte:

»'n Hund hat nicht solchen Schwanz!«

»Na also!« jubelte Asmus, und in seiner Freude über das erlösende Wort vergaß er, daß das Genie »'n Hund« statt »ein Hund« gesagt hatte. Münz und Morieux notierten das.


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