Otto Ernst
Semper der Jüngling
Otto Ernst

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XLIV. Kapitel.

Zwei Briefe, und jeder ein Schlag.

Er hatte seinen Eltern nichts von der Vorladung vor den Schulrat gesagt, um sie nicht zu beunruhigen; er sagte ihnen auch nichts von dem Ausgange; denn seine Mutter würde doch Bemerkungen über seinen »Hitzkopf« gemacht haben. Eben weil sie so hitzköpfig war, verurteilte sie alle Hitzköpfigkeit.

»Drinnen auf'm Tisch liegen zwei Briefe für dich,« sagte Frau Rebekka.

Eilig ging er hinein, öffnete den einen der Briefe und las:

Hilde Chavonne
Hermann Kiefer
Verlobte.
Hamburg den – – – – –

Das Blatt war seinen Händen entfallen.

Er sah nach der Tür – sie war noch offen – schnell ging er hin und drückte sie ins Schloß. Nur allein sein. Dann ließ er sich auf einen Stuhl fallen.

Merkwürdig, wie ihn das traf. War es denn nicht selbstverständlich, daß Hilde Chavonne sich einmal verlobte? Und hatte er denn je geglaubt, sie werde sich mit ihm verloben? Nein, nicht einmal im Traum hatte er das gehofft. Darum hatte er ja auch nie die geringste Anstrengung gemacht, sie zu gewinnen. Er war ihr während des letzten Jahres fast völlig ferngeblieben, nicht eigentlich mit Absicht; aber da es sich so gefügt hatte, daß sie sich nur selten und flüchtig sahen, war es ihm recht gewesen. Vor einem Vierteljahr hatte er sie zuletzt gesehen, an einem Festabend der »Treue von 1880«, als er mit einem hübschen Mädchen zusammen ein Duett gesungen hatte. Das Fräulein Chavonne war an jenem Abend sehr still, sehr ernst, und obwohl freundlich, doch sehr zurückhaltend gewesen.

Und jetzt – verlobt! –

Er war längst wieder aufgesprungen und hatte instinktiv zu seinem Beruhigungsmittel gegriffen: zum Wandern. Auf und ab gehen, immer auf und ab, dann hat man das Gefühl der Bewegung, das Gefühl: Es geht vorüber – es geht vorüber.

Sie ist verlobt! Wie konnte sie ihm das antun! Haha – im selben Augenblick mußte er laut auflachen. Hatte sie denn die geringste Verpflichtung, auf ihn zu warten, auf ihn? Hatte er ihr das geringste Zeichen gegeben, daß sie auf ihn warten solle? Hatte er überhaupt auf heiraten gemacht? Nein, er, der als Präparand alles heiraten wollte, was ihm in den Weg kam, er hatte in den letzten Jahren das Heiraten als ein Ding angesehen, das noch in weiter Ferne liege; ja, es war ihm eine gewisse Beruhigung gewesen, daß es mit dem Kniefall und mit der langen Liebeserklärung in Periodenform noch gute Weile habe. Seine Arbeit, sein Beruf hatten sein ganzes Interesse aufgesogen.

Jetzt, jetzt mit einem Male wußte er's: Nur an Hilde hatte er gedacht, wenn er überhaupt an eine Frau gedacht hatte. Wenn er sich das Weib an sich gedacht hatte, das hehre Weib, das edle Weib, das holde Weib – nur an Hilde Chavonne hatte er gedacht, nur an sie. Wenn er Liebesgedichte gemacht hatte, platonisch-elegische Liebesgedichte in weinenden Odenstrophen – hatte er an sie gedacht. Jetzt wußte er's, daß er sich nur eine als sein Weib denken konnte: Hilde – und er begriff nicht, daß er das nicht gewußt hatte, bevor er diesen Brief geöffnet. Er begriff es nicht, weil er sich seiner Unreife nicht bewußt war. In ehrlicher Gedankenarbeit war sein Hirn über seine Jahre gereift; aber sein Herz war noch unreif wie ein Apfel im Frühling, und unreif wie der Same in solch einem Apfel war die Liebe in diesem Herzen. Jetzt, da das Schicksal einen tiefen Schnitt in dieses Herz getan hatte, entdeckte er die Liebe darinnen.

So fühlte er nicht den rasenden Schmerz des Betrogenen, Zurückgestoßenen; denn er hatte nicht die rasende Lust des Liebenden und Hoffenden gefühlt; er empfand die Wehmut eines Mannes, der eines Morgens ein zartes Bäumchen seines Gartens erfroren findet und erkennt, daß es sein schönstes Bäumchen gewesen; er empfand eine Trauer, wie sie junge Eltern empfinden, denen ein kaum Geborenes gestorben ist; er empfand den dumpfen, unbefreiten Schmerz um ein Werdendes, das, zu großer Schönheit bestimmt, im Keime vernichtet war.

Mechanisch griff er nach dem zweiten Briefe; mechanisch öffnete er ihn – er war von Rumolt – mechanisch überflog er die ersten Zeilen, aber nur die ersten.

»Mein lieber Freund!

Von Ihnen hätte ich mündlich Abschied nehmen mögen. Aber es durfte nicht sein; denn Sie würden versucht haben, mich zurückzuhalten. Sie sind von festerem Stoff als ich und werden, das weiß ich, den Kampf besser bestehen, den Kampf gegen der Menschen Stumpfsinn, Trägheit und Niedrigkeit. Meiner Hand entsinken die Waffen. Damit Sie es nicht in gehässiger Entstellung hören, was mich zu meinem Scheiden veranlaßt, will ich es Ihnen selbst sagen. Ich habe einem meiner Schüler – ich glaube, ich habe Ihnen von ihm gesprochen – einem Untersekundaner, der zum zweiten Male hoffnungslos vor dem Examen stand und dessen Qualen ich nicht mehr mit ansehen mochte, in unerlaubter Weise geholfen, habe ihm die Examenaufgaben vorher mitgeteilt. In seiner Freude hat es der Junge nachher selbst ausgeplaudert. So bracht' die Sonn' es an den Tag. Hätte er das Examen nicht bestanden, wär' er aus der Welt gegangen; nun gehe ich, und das ist besser. Leben Sie wohl, teurer Freund; unsere Freundschaft war kurz, aber wahr. Ich danke Ihnen schöne Stunden, von denen ich dort erzählen will, wohin ich gehe.

Rumolt.«

Asmus hatte die letzten Zeilen mit fliegendem Atem gelesen; jetzt sprang er nach der Tür.

»Wo willst du hin?« rief Frau Rebekka, »dein Essen ist fertig!«

»Ich esse nichts – ich muß –«

»Junge, du hast ja keinen Hut auf! Was ist denn los –?«

Er entriß ihr den dargebotenen Hut und stürmte mit dem Rufe: »Ich muß weg!« hinaus.

Ohne Besinnen stürzte er über Stock und Stein nach Rumolts Wohnung. Die Wirtin bestätigte ihm weinend das Schreckliche. Am Ufer des Kanals hatte man Rock und Hut gefunden, die Leiche war noch nicht gefunden worden.

Aber am nächsten Tage fand man auch sie. –

Das war eine denkwürdige Post gewesen. Zwei Briefe, und jeder ein Schlag. An einem Tage Freund und Geliebte verloren; denn von nun an war sie ihm Geliebte.


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