Otto Ernst
Semper der Jüngling
Otto Ernst

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XXXV. Kapitel.

Asmus wird im Examen gepufft und getreten und ist unzufrieden, aber sehr glücklich.

Und so kam er denn mit allen Ehren und ohne Schaden durch das Examen, wenn man von einigen blauen Flecken an seinem linken Fuße und in der linken Rippengegend absah. Diese Flecke rührten wieder von Seybold her, von demselben Seybold, der ihn als »Schäflein« wegen seiner »Inkollegialität« und seiner »Anmaßung« so bieder gehaßt hatte. Das mathematische Examen hatte Seybold sehr glatt bestanden. Seybold konnte nicht einmal ein Dreieck berechnen; aber während der schriftlichen Prüfung wandelte einen Freund von ihm ein Bedürfnis an, und der Freund ging hinunter und deponierte an einem dunklen Orte die Lösung aller Aufgaben. Nach einer halben Stunde hatte Seybold merkwürdigerweise auch ein Bedürfnis.

»Muß es denn sein?« fragte argwöhnisch der die Aufsicht führende Herr Rothgrün.

»Ja, ich hab'n Durchfall,« erklärte Seybold.

»Aber damit hätt' es ja noch Zeit gehabt,« schmunzelte Herr Rothgrün wohlwollend. »Nun, gehen Sie nur.«

Seybold ging hinunter, »fand die Lösung«, dachte »Heureka«, beantwortete solchermaßen durch Vorspiegelungen der Verdauungsorgane Fragen, die eigentlich an das Gehirn gerichtet waren, und half sich mittels eines Durchfalls durchs Examen. Zunächst durchs mathematische.

Bei den Klausuraufsätzen saß Seybold wieder neben Semper, und als dieser gelegentlich einen Blick in die Papiere seines Nachbarn warf, sah er, daß dieser wörtlich von ihm abschrieb.

»Mensch, bist du des Teufels?« flüsterte Asmus. »Das muß ja herauskommen. Schreib' wenigstens auch von anderen ab.«

Seybold sah das ein und schrieb die andere Hälfte der Arbeit von seinem Vordermann ab; denn er hatte einen weiten Blick.

»Ein Lehrer muß jesunde Sinne haben,« hatte Korn gesagt.

Nur dies verdammte mündliche Examen! Da konnte man nicht sagen: »Erlauben Sie, daß ich austrete!« Und wenn Asmus blind und taub gewesen wäre, so würde er das Nahen des Examinators doch immer rechtzeitig erfahren haben; denn wenn dieser noch drei Schüler weit entfernt war, begann Seybold schon wie ein Räder-, Walzen- und Kolbenwerk zu treten, zu puffen und zu zischen: »Sag' mir zu! Sag' mir zu!« und so trug Asmus Semper Seyboldens Reisezeugnis auf dem Leibe davon.

Auch Seybold bestand wiederum das Examen, und der ganze praktische Unterschied bestand darin, daß er ein Anfangsgehalt von 1200 Mark, Asmus aber ein solches von 1300 Mark erhielt, worin Seybold eine große Ungerechtigkeit erblickte.

1300 Mark! Insofern war Asmus sehr zufrieden; denn unbegrenzte Möglichkeiten lagen in dieser Summe. Aber wenn er den verflossenen Lebensabschnitt überblickte – was rechtfertigte eigentlich das »glänzende Examen«, das er nach der allgemeinen Ansicht gemacht hatte? Die Kollegen hatten ihm erzählt, was der Schulrat Korn vor einer anderen Abteilung der Prüflinge über ihn gesagt hatte, und darüber freute er sich zwar von Herzen; aber eigentlich war ihm alles das ein großes Rätsel, ein Wunder: denn ihm waren diese verflossenen drei Jahre eine zerstörte Illusion. Was hatte er sich von diesen Jahren versprochen an geistigem Aufschwung! Und wie bitter-bitterwenig hatte er vor sich gebracht. Er hatte überhaupt nicht das Gefühl, daß er geistig gewachsen wäre. Wiederum hatte er, wie schon öfter, die Empfindung, daß die Menschen merkwürdig wenig von ihm verlangten, viel, viel weniger, als er selbst von sich zu fordern pflegte.

Nur wenn er die beiden »Alten« betrachtete, war er ganz glücklich. Die solltens jetzt besser haben. Frau Rebekka lief mit ihren sechzigjährigen Beinen wie ein Wiesel immer von einem Zimmer ins andere und sang:

»Nach Sevilla, nach Sevilla!
Wo die letzten Häuser stehen,
Sich die Nachbarn freundlich grüßen,
Mädchen aus dem Fenster sehen,
Ihre Blumen zu begießen,
Ach, da sehnt mein Herz sich hin!«

und wie in seiner früheren Kindheit sah Asmus bei dem Wort »Sevilla« einen freien Platz mit Häusern, auf den eine unendlich goldene Sonne und ein unendlich helles, unendlich stummes Feiertagsglück herabschien.

Und dabei dachte Rebekkens Herz gar nicht an Sevilla, was schon daraus hervorging, daß sie im nächsten Augenblick sang:

»Herr Junker, lat hee mit tofred'n,
            rudiridiridirallalla,
Ick mutt min Swin to freten ge'm,
            rudiridiridirallalla!

Das war nämlich das Bruchstück eines Liedes, in dem ein Junker seiner Magd mit Liebesanträgen nachstellt, die diese dann mit der einleuchtenden Begründung zurückweist, daß sie ihren Schweinen zu fressen geben müsse. Die Schweine gehen vor, das mußte der Junker einsehen. Aber auch an Junker, Magd und Schweine dachte das singende Herz der Rebekka nicht; es dachte an den Triumph des Sohnes, an den leckeren Pfannkuchen, den sie ihm backen wollte, und an den besseren Rock, den ihr Gatte nun bekommen sollte; denn es gab ihr einen Stich ins Herz, wenn der stattliche Mann in abgetragenem Gewande ging. »Er fragt ja nichts danach,« klagte sie kopfschüttelnd.

Aber auch Ludwig Semper wollte sich diesmal einen Extragenuß vergönnen. Heute war Dienstag, und am Freitag gab es »Lohengrin« im Theater. Diesmal wollte er wirklich hin.

»Aber nun tu's auch!« riefen Asmus und Rebekka wie aus einem Munde.

»Ja, ja – natürlich!« beteuerte Ludwig.

Am Mittwoch sagten Asmus und seine Mutter wieder: »Geh nun aber auch wirklich hin!«

»Gewiß, gewiß!« sagte Ludwig.

Am Donnerstag sagten sie: »Wirst du nun auch nicht wieder sagen: ›Ach, wozu soll ich hingehen?‹«

»Nein, nein – wenn ich's doch sage!«

Er war auch am Freitag mittag noch fest entschlossen und freute sich. Als er um sechs Uhr noch keine Miene zum Aufbruch machte, rief Frau Rebekka:

»Du, du – du mußt jetzt gehen.«

»Ach, ich hab mir's anders überlegt,« sagte Ludwig. »Was soll ich da.«

Ja, was sollte er da.

Erstens war sein Asmus nun am Ziel, und das war ein Glück, das eigentlich für den Rest seines Lebens allein ausreichte und das er jedesmal neu genoß, wenn Asmus den Blick wegwandte und er ihn ungestört betrachten konnte.

Zweitens hatte er am Lohengrin schon so viel Vorfreude genossen, daß eine Steigerung nicht mehr denkbar war.

Und drittens tauchten auf der grauen Wand vor seinem Zigarrentische, sobald er befahl, alle Sagen der Vorwelt auf, nicht die vom Schwanenritter allein, und belebte sich der stauberfüllte Raum mit Klängen, die an kein irdisches Instrument und keine menschliche Schrift gebunden waren.

Frau Rebekka war gründlich böse und schalt. »Ich versteh den Mann nicht,« rief sie.

Asmus verstand ihn. Er dachte daran, daß er nun bald als Lehrer vor 60 Kindern stehen werde; er blickte von der Seite her in des Vaters Auge, in dem die Abendsonne liebend verweilte, und er verstand es, daß man selig sein kann im Glück seiner Träume.


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