Otto Ernst
Semper der Jüngling
Otto Ernst

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XXIV. Kapitel.

Die Bucklige lacht; aber die Schlanke macht es wieder gut. – Der Schiffbrüchige von Salas y Gomez als Mittler zwischen den Parteien.

Zwei Stunden später traten die vier im Gänsemarsch bei dem Direktor ein, Semper wieder voran.

»Wir haben dem Herrn Pastor erklärt, daß unser Lachen nicht ihm gegolten habe; aber er will diese Erklärung nicht annehmen,« berichtete Asmus und erwartete das Vernichtungsurteil.

Der Direktor ging einmal das Zimmer auf und ab und durchstach dann alle vier, jeden einzeln, mit einem Blick. Dann ging er noch einmal auf und ab und durchstach hierauf Asmussen mit einem besonders langen Blick. Und dann sagte er:

»Sie können jeh'n.«

Die Angelegenheit war erledigt. Sie war erledigt für den Direktor und den Pastor; keiner kam wieder darauf zurück.

Aber nicht erledigt war sie für die Seybolde und Wiedemänner. Das war ja köstlich! Das war ja erbaulich! Also so waren die »Schäflein«, wenn sie unter sich waren! Dann betrugen sie sich wie die Gassenbuben und bewarfen Geistliche (im Ornat! versicherte einer) mit Steinen! mit Schmutz! Das waren also die Leutchen, die eine Eins bekamen, wenn andere nur eine Zwei kriegten! Das waren die Herren, die mit hochmütiger Verachtung erwiderten, wenn man ihnen vorhielt, daß sie ihre Kollegen beim Direktor verraten hätten! Für die Schäflein, und sonderlich natürlich für Asmussen, kamen schlimme Tage, und die kleine schieläugige Schwester des Schicksals lachte, daß ihr der Buckel tanzte und rief:

»Du glaubst, wer recht hat, müsse obendrein auch noch Recht bekommen? Du bist wohl verrückt?!«

In dieser Zeit, da ihm die Welt ein ausgesucht widerwärtiges Gesicht machte, sollte er etwas erleben, was nach »Duplizität der Ereignisse« aussah. Wie sich ihm nämlich einst, da er noch ein Knabe war, aus dunklem Bangen ein Weg ins Licht gezeigt hatte, als er zwischen den Bahndämmen in der Rainstraße, vor der Tür einer Schenke, einem lieben braunen Mädchen begegnet war, so sollte er auch jetzt wieder bei einem braunen Mädchen Erhebung und Erheiterung des Herzens finden. Herr Mansfeld, ein befreundeter Lehrer, hatte ihn zum Abendbrot eingeladen, und als Asmus nun die Treppen zur Wohnung des Gastfreundes emporstieg, stand da auf einem Absatz eine rankgewachsene Brünette und blickte nachdenklich auf einen Koffer ihr zu Füßen, der nicht allzu leicht sein mochte. Es war Fräulein Hilde Chavonne, seine ehemalige Kollegin. Sie stand im Begriff, zu eben den Lehrersleuten, die Asmus geladen hatten, in Pension zu gehen, und Asmus bat bescheidentlich um die Erlaubnis, ihr den Koffer hinauftragen zu dürfen. Das gewährte sie mit einem gnädigen Lächeln, und als man droben war, halfen Asmus und Herr Mansfeld beim Auspacken der Bücher, die der Koffer enthielt. Dabei schlug sich von selbst ein starkes, längliches Heft auf, das mit der Hand gezeichnete und kolorierte Landkarten enthielt.

»O, wie famos!« rief Asmus. »Haben Sie die gezeichnet?«

Hilde klappte schnell das Heft zu. »Machen Sie sich nicht lustig darüber!« rief sie ängstlich. »Sie können es gewiß tausendmal besser.«

»Ich? Ich kann gar nichts, ich kann überhaupt nicht zeichnen,« sagte Asmus.

Sie sah ihn zweifelnd an; aber als sie in seine Augen sah, glaubte sie ihm, und nun schlug sie langsam selbst das Heft wieder auf, und von Blatt zu Blatt, wie er staunte und lobte, wurde sie heiterer und stolzer. Sie stand dicht neben ihm, und dabei geschah es, als er sich über das Heft bückte, daß der Ärmel ihres Kleides seine Wange streifte. Von diesem Augenblick an war Asmus wieder glücklich.

Sie erschien nicht beim Abendbrot, weil sie müde war, und überhaupt blieb es auf lange Zeit hinaus bei dieser flüchtigen Begegnung.

Merkwürdig, dachte er im Nachhausegehen: ein ganz ähnliches Gefühl hab ich schon einmal gehabt – ganz so wie jetzt war die Welt schon einmal – nicht die gewöhnliche Welt, aber die andre, die immer über ihr schwebt wie Morgenduft über den Hügeln, die war schon einmal so, damals, als ich zwischen den Bahndämmen »am Rain« mit dem kleinen braunen Mädchen geplaudert hatte, mit der »Königin der Mainotten«. Und was noch merkwürdiger ist, die beiden haben in gewisser Hinsicht etwas Übereinstimmendes – nicht nur, daß sie beide braunes Haar und braune Augen haben, das will nichts sagen – auch der Teint und das ganze Aussehen – auch das Fräulein Chavonne hat etwas Fremdländisches – so – so etwas Französisches – übrigens ist ja auch ihr Name französisch. Aber ihr Wesen ist – gewiß: es ist deutsch – und doch wieder so ganz anders als das des fürchterlichen »deutschen Weibes« mit der Häkelnadel. Wenn man sie zu Pferde sähe, dachte er, mit wehendem Schleier, den Falken auf der Faust, auf dieser feinen, schmalen Faust – es würde keinen Augenblick überraschen.

»Wie sitzest du zu Pferde
So königlich und schlank!«

sang er vor sich hin, daß ein vorübergehender Bürger stutzte und ihn anstarrte . . . .

Seit diesem Abend fühlte sich Asmus auf eine wunderbare Weise frei und leicht, und er trug das Leben wieder mit aufgerichteten Schultern. Er hätte nicht sagen können, woher das kam; es kam aber einfach daher, daß ihn in dieser armen, bürgerlichen Lehrerin ein adliger Mensch berührt hatte, und das hatte um so wundersamer gewirkt, als es menschlicher Pöbel war, der sein Leben verfinstert hatte.

Seybold und Wiedemann waren ganz unzweifelhaft Pöbel; daß aber unter den anderen Feinden auch anderes Material war, das sollte er bald erfahren. Zunächst freilich schienen die Gegensätze noch unversöhnlich. Herr Quasebarth brachte eines Tages die Rede auf den die Klasse zerspaltenden Streit und sprach sein Bedauern aus.

»Ja,« rief eines der Antischäflein, »die andere Partei macht ja auch nicht den geringsten Versuch zu einer Annäherung.«

Da lachte Asmus laut aus, daß es durch die Klasse scholl.

Seit vielen Monaten geschah ihnen Unrecht auf Unrecht – und da sollten sie etwa noch um Frieden betteln? Lieber »Kampf bis zur Vernichtung«.

Seiner Jugend erschien die Welt als ein ehrenhaftes Geschäft, bei dem man eine berechtigte Forderung nur zu präsentieren brauche, um sofort Zahlung zu erhalten. Er ahnte noch nicht, daß dieses allerdings reelle Geschäft eine sehr weitschichtige Buchführung hat und daß seine Bilanzen oft erst nach zehn, nach fünfzig, nach hundert Jahren oder später erscheinen, je nach der Größe des Gegenstandes. Man kann diese Welt auch ein Gericht nennen und das Leben einen Prozeß, der durch hundert oder tausend Instanzen geht. Man bekommt gewöhnlich sein Recht, aber oft mit einer Begründung, die man nicht erwartet hat, und manchmal, wenn man das Urteil erhält, ist man tot.

Bald darauf, in der Rezitationsstunde trug Asmus aus dem Kopfe »Salas y Gomez« vor, mit sämtlichen drei Schiefertafeln. Als er nach dieser Stunde über den Korridor ging, stieß er auf Herrn Rothgrün, der in der Nachbarklasse Sempers Freudenschrei:

»Ein Schiff! Ein Schiff! Mit vollen Segeln lenkt
Es herwärts seinen Lauf, mit vollem Winde!«

vernommen hatte. Und Rothgrün meinte mit wohlwollendem Lächeln: »Glauben Sie wohl, daß der Mann noch eine so starke Stimme hatte, nachdem er jahrelang bloß von Eiern gelebt hatte?« Rothgrün war eben Kritiker. Anders aber war der Seminarist Blankenburg. Er trat nach dieser Stunde an einige Häupter seiner Partei heran und sagte:

»Ich finde, es geht nicht länger. Wir können den Verruf nicht weiter aufrechterhalten. Im Grunde war es ja doch nur Neid. Daß er Kollegen beim Direktor verpetzen könnte, glaubt ja längst kein Mensch mehr. Wir blamieren uns. Und wir müssen wieder anfangen.«

Und in den andern wachte die Hochherzigkeit des Jünglingsalters freudig wieder auf, und es wurde beschlossen, auf dem bevorstehenden Bergfeste die feierliche Versöhnung zu begehen.


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