Otto Ernst
Semper der Jüngling
Otto Ernst

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XXXVIII. Kapitel.

Schon wieder gibt es einen Zusammenstoß.

Sempern erfüllte ein seltsam unbehagliches Gefühl. Sollte ein Lehrer sich wie ein Handlanger traktieren lassen? Sein aufbrausendes Blut, das sich schnell über jedes Unrecht empörte, wollte ihn zu offener Auflehnung fortreißen. Dazu kam, daß seine Jugend, wenn auch nicht von revolutionärem Sinn, so doch von revolutionären Gedanken genährt war. Er hielt es noch immer mit den Tyrannenmördern und Volksbefreiern. Aber andrerseits hatte er zu viel klaren Verstand, um an eine Welt ohne Regierung und Gesetz zu glauben. Jeder mußte sich unterordnen, das wußte er wohl. Und wenn ein Vorgesetzter schwach war, – die, die ihn eingesetzt hatten, waren Menschen und dem Irrtum unterworfen wie er selbst. Aber wenn die Obrigkeit in der Wahl der Oberen gar zu töricht oder gewissenlos war, dann war Auflehnung so natürlich und notwendig wie sonst die Unterordnung, dann war Widerstand Pflicht, vor allem der Kinder wegen. Aus diesem Zwiespalt kam er nicht heraus.

Andere Skrupel und Sorgen kamen hinzu. Er mußte den Kleinen Religionsunterricht geben. Waren nun diese biblischen Geschichten geoffenbartes Gotteswort, dessen Wahrheit sich auch dem kaum erwachten kindlichen Geiste auf wunderbar intuitiven Wegen erschloß? Nein, das glaubte er nicht, konnte er also auch nicht lehren. Sollte er also die Geschichte der Juden und das Leben Jesu kritisch, rationalistisch, liberal-theologisch behandeln? Der Hamburgische Staat nahm es im Gegensatz zu andern deutschen Staaten mit der Gewissensfreiheit leidlich ernst und schrieb seinen Lehrern nicht vor, wie sie die Bibel zu behandeln hätten. Aber wenn dies alles nicht zweifellose, der kindlichen Seele ohne weiteres zugängliche göttliche Wahrheit war – dann war es ja heller Unsinn, diese Materien mit sechs- bis siebenjährigen Kindern zu behandeln, dann waren es Materien für reife Jünglinge und Männer. Diese religiösen Bedenken verfitzten sich mit pädagogischen und künstlerischen. Die biblischen Historien mit den Worten der Bibel erzählen, das hieß nach seiner Meinung, die armen kleinen Kerle mit unverständlichen Worten und Begriffen quälen und war also unmöglich. Die alten Berichte aber mit eigenen, modernen Worten erzählen, dagegen sträubte sich alles in ihm, das schien ihm eine unerhörte vandalische Versündigung gegen die erhabene, ehrwürdige Kraft und Schönheit dieser Mythen. Man konnte ja auch den »Faust« mit anderen Worten erzählen; aber war das der »Faust«?

Aber das Allerschlimmste war doch, daß diese Geschichten unzweifelhaft einen persönlichen Gott annahmen und von einem Jesus berichteten, der Wunder tat, vom Tode auferstand und gen Himmel fuhr. Sich mit leeren Worten um diese Fragen herumdrücken, war unwürdig, war ihm unmöglich. Freilich, er konnte es machen wie Dr. Korn; er konnte den Kindern sagen: So berichtet die Bibel; was ihr glauben wollt, ist eure Sache. Aber das konnte man vor Jünglingen tun, nicht vor sechs- bis siebenjährigen Knäblein. Die konnten noch nicht sondern und wählen; die hingen mit dem treuen Blick des Glaubens an seinem Munde; die glaubten alles, was er sagte, und ahnten noch nicht, daß ein Lehrer etwas sagen könne, was er selbst nicht glaube.

Endlich blieb noch der Ausweg, sich als »Beamten« zu fühlen, der ein Amt und keine Meinung habe. Er konnte diese Dinge einfach nach der orthodoxen Dogmatik behandeln und zum Beispiel die Stelle von der Schlange, die »denselbigen in die Ferse stechen werde«, als messianische Weissagung hinstellen, am Ende des Monats sein Gehalt einstreichen und die Verantwortung denen überlassen, die den Religionsunterricht verlangten, das war das sicherste. Aber diese handwerkerliche Auffassung von seinem Beruf konnte er sich eben nicht angewöhnen, so selbstverständlich sie auch Herrn Drögemüller schien. Denn diese sechzig Kinder wurden einmal sechzig Menschen, und was er als winziges Körnchen in ihre Seele warf, war vielleicht nach zwanzig Jahren ein Baum, ein nährender Fruchtbaum oder ein Giftbaum oder ein leeres Gestrüpp. Der Arzt, der nach bestem Wissen und Können in einen lebendigen Menschen hineinschnitt, konnte auch nicht zur Verantwortung gezogen werden; aber es war doch ein verteufeltes Gefühl, einen Menschen unter dem Messer zu haben.

Er beschloß bei sich, diesen Unterricht so bald wie möglich abzugeben, und fand, daß der Modus seines ehemaligen Direktors noch der redlichste und erträglichste sei. Er trug den Kindern die Bibel vor, wie sie war, und enthielt sich jeder kritischen Beleuchtung. Nur sagte er dann nicht: Ihr könnt's glauben, könnt's auch lassen, sondern getröstete sich der Hoffnung, daß sie sich bei wachsender Reife in der Stille ihres Herzens wohl selbst mit diesen Dingen abfinden würden.

Ein herzlicher Unterricht konnte das freilich nur in solchen Augenblicken werden, wo die Naivität der biblischen Geschichten mit der Naivität der Kindesseele zusammenfiel; und in solchen Augenblicken atmete das Herz des jungen Schulmeisters erleichtert und beglückt. Und eine Fülle der Freuden quoll fast aus allen andern Stunden. Nur stampfte ihm Herr Drögemüller eines Tages auch in den Leseunterricht hinein. Herr Drögemüller dachte es sich wunderschön, wenn alle drei neuangestellten Lehrer den Leseunterricht auf völlig gleiche Weise erteilen würden, und zwar auf ebendieselbe Weise, die er vor 25 Jahren auf dem Seminar erlernt habe. In seiner Schule sollte alles ordentlich hergehen: alle sollten auf Schuhen kommen, alle sollten Schulgeld zahlen, alle denselben Glauben haben und auf dieselbe Weise »gebildet« werden.

Einer der neuen Herren tat ihm auch den Gefallen; Asmus aber und der andere gingen ihre eigenen Wege. Herr Drögemüller bemerkte das mit Mißfallen.

»Machen Sie es nicht so, wie ich es Ihnen neulich gezeigt habe, Herr Semper?« fragte er.

»Nein,« lautete die ebenso kurze wie unzweideutige Antwort.

»Warum denn nicht?«

»Weil ich meine Weise für richtiger halte.«

»Aber Herr Semper – Sie werden wohl zugeben, daß ich mehr Erfahrung habe als Sie –.«

»Das mag sein; aber ich muß meine Methode selber finden, und nur nach der Methode, die meiner Überzeugung entspringt, kann ich unterrichten. Wenn es die Jungen immer machen müßten wie die Alten, dann könnten Sie und ich überhaupt noch nicht lesen.«

»Das ist ja wohl sehr geistreich, Herr Semper; aber gleichwohl muß ich Sie bitten, meine Wünsche zu respektieren.«

»Mit Recht sagen Sie »Wünsche«, Herr Drögemüller, und nicht »Befehle«. Denn »Befehle« gibt es hier nicht. Ich bin nur verpflichtet, meine Schüler zu fördern. Welche Methoden ich dabei anwende, ist ganz allein meine Sache.«

Drögemüller war bleigrau im Gesicht geworden und schnappte, als wenn er Luft für einen längeren Satz einnehme; er entschied sich dann aber nur für ein: »Na, wenn Sie meinen –« und ging mit rachsüchtig geschwungenen Beinen hinaus. Als er draußen war, stenographierte er etwas sehr Langes in sein Notizbuch. Die Methode ist frei, dachte Drögemüller, darin hat er recht; aber ich werde schon andere Pfeifen schnitzen, nach denen er tanzen soll.

Zunächst indessen sollte Asmus ein wenig nach den Pfeifen des Exerzierplatzes tanzen. Bei der Generalmusterung im Sommer war er endgültig »gezogen« worden, und nun war die Order gekommen, daß er sich am 1. Oktober auf dem Altenberger Kasernenhofe einzufinden habe.


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