Otto Ernst
Semper der Jüngling
Otto Ernst

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XV. Kapitel.

Asmus hört ein französisches Lied von deutschem Heimweh, gibt Privatstunden bei Lachtauben und Häschen und erhält sein erstes Dichterhonorar.

Schon acht Tage später bewegte sich durch die Straßen von Oldensund und Altenberg ein Trupp von Auswanderern dem Hamburger Hafen zu. Außer Moldenhuber und Johannes Semper waren noch andere ausgewiesen worden; Europamüde hatten sich ihnen angeschlossen, und zahlreiche Verwandte und Freunde gaben ihnen das Geleite bis zu den Landungsbrücken. Man war auf gewisse Weise heiter; einige hatten ihrer Heiterkeit mit Alkohol auf die müden Beine geholfen. Man konnt' es Heiterkeit nennen, wie man es Sonnenschein nennen kann, wenn durch unaufhörlich ziehende Wolken hin und wieder auf Minuten die Sonne mit stechendem Glanze hindurchblickt. Man sang sogar, man sang lustige Lieder; aber kein Mensch nahm sie lustig. Asmus ging eine Weile allein neben seinem Bruder Johannes. Sie sangen beide nicht mit; aber plötzlich sang etwas in Asmus. Er hatte es oft, daß plötzlich eine Melodie in ihm aufwachte, die er nur einmal gehört und die er dann wochenlang, monatelang vergeblich in seiner Erinnerung gesucht hatte. Vor mehr als einem Vierteljahr hatte er mit dem blinden Pianisten zusammen die »Fantastische Symphonie, op. 14« von Berlioz gehört. Und da hatte ganz besonders ein Gesang gedämpfter Geigen sich wie ein weicher, warmer Herbsttag ihm in das Herz gelegt. Er hatte sich die Worte gemerkt, die den Komponisten zu diesem Gesange angeregt hatten; aber die Melodie hatte er doch vergessen. Heute mit einem Male schlug jene wundersame, süßtraurige Weise die Augen auf.

sang es in ihm. Dann hörte er seinen Bruder sprechen.

»Sobald ich drüben bin, schick' ich meine Adresse; dann mußt du mir fleißig schreiben.«

»Gewiß,« sagte Asmus.

»Schreib mir sobald als möglich, wie es Vater und Mutter geht – sie werden allmählich alt.«.

»Ja, ja,« sagte Asmus nachdenklich.

»Mach' ihnen nur recht viel Freude. So wie ich etwas übrig habe, schick' ich auch Geld.«

»Aber überarbeite dich auch nicht,« fügte Johannes noch hinzu. Dann schwiegen sie wieder. Und wieder hub in Asmus die sanfte, traurige Weise an:

Je vais donc quitter pour jamais
Mon doux pays – – –

Endlich waren sie am Landungsplatz, und da griff der Anblick der vielen Hunderte von Zwischendeckspassagieren wie mit Krallen in Asmussens Herz. Er wußte ja von all diesen Leuten gar nicht, warum sie auswanderten, ob sie es gern oder ungern taten, was sie erhofften und was sie verließen; aber er sah in dieser ganzen Masse von Männern, Weibern und Kindern mit ihrer in Bündel geschnürten Habe nur ein großes Elend, ein großes, bitteres Elend, und zum ersten Male in diesen Tagen des Abschieds traten ihm heiße, reichliche Tränen ins Auge. Er trocknete sie schnell; denn es galt, Abschied zu nehmen und den Brüdern ein fröhliches, ermunterndes Gesicht zu zeigen. Der guten Frau Rebekka wollte fast das Herz brechen, und sie empfahl ihren Söhnen noch hundert Dinge, die sie nicht vergessen sollten; sie knöpfte Alfred den Rock zu und knotete Johannes den Schal fester um den Hals, um sie gegen die rauhe Seeluft zu schützen, die indessen von Hamburg noch fünf Stunden weit entfernt ist. Endlich fuhr das Schiff unter Hurrarufen und Winken der Zurückbleibenden davon.

Als Asmus wieder daheim war, ging er heimlich ins Schlafzimmer, wie er von jeher getan, wenn er mit sich allein sein wollte. Er trat ans Fenster und blickte nach Westen. Wo werden sie jetzt sein, dachte er.

Je vais donc quitter – – –

Die Melodie schlang sich wie ein Gewinde von Orangenblüten durch alle seine Gedanken.

Je vais donc quitter pour jamais
Mon douc pays, ma douce amie!
Loin d'eux je vais trainer ma vie
Dans les pleurs et dans les regrets.

Das Lied paßte ja eigentlich gar nicht so recht zu diesem Tage: es war ein französisches Lied, und hier handelte es sich um eine deutsche Heimat; auch der Sinn der Worte paßte nur halb; aber die Töne, die Töne sangen ein wunderbares Heimweh, und sie folgten ihm bis in den Traum und bis in manchen folgenden Tag.

Viel Zeit war indessen für wehmütige Stimmungen und Gedankenspiele nicht übrig; das Leben schickte sich an, unserm Seminaristen mit realen Forderungen hart auf den Leib zu rücken. Mit den beiden Söhnen hatten die alten Semper zwar zwei beträchtliche Esser, zugleich aber einen für ihren Haushalt noch beträchtlicheren Geldzuschuß verloren. Vorübergehende Arbeitslosigkeit kam hinzu, und die fetten Jahre der dreihundertundsechzig Mark pro anno waren vorbei; im ersten Seminarjahr gab es nur einhundertundzwanzig Mark Stipendien, im zweiten zweihundert, im dritten zweihundertundvierzig. Aber wie sollten nun die Semper ihren Studenten durch drei endlose Jahre hindurchschleppen?!

Frau Rebekka verzagte an diesem Unternehmen. Durch den Spalt einer angelehnten Tür belauschte Asmus eines Tages ein Gespräch seiner Eltern.

»Dann muß er eben den Lehrer an den Nagel hängen und Zigarrenmacher werden,« sagte die Mutter.

»Ach, Unsinn!« klang die Stimme Ludwig Sempers.

»Ja, Unsinn! Weißt du, woher das Geld kommen soll? Ich weiß es nicht. Wir riechen nach Geld wie die Gänse nach Franzbranntwein.«

»Na ja, das findet sich,« sagte Ludwig.

»Ja, das sagst du immer,« meinte Rebekka. »Wozu auch?« fuhr sie fort. »Die anderen Kinder sind auch alle begabt und sind auch keine Lehrer geworden.«

Sie sagte das nicht lieblos; sie sagte es mit jener Resignation des Armen, der das Gefühl hat, daß das Talent für den Mittellosen ein Unglück ist.

Aber obwohl sie das Wort nicht lieblos gesprochen hatte, ging es Asmussen wie ein Messer durch's Herz. Sie hatte Wahrheit gesprochen, die Mutter. Seine Brüder waren wohl ebenso begabt wie er, vielleicht begabter, und mußten Zigarren drehen. Sollte er seinen Eltern, die sich von Sorge zu Sorge schleppten, drei Jahre lang auf der Tasche liegen? Nein.

Asmus beschloß, seinen Unterhalt durch Privatstunden selbst zu verdienen. Dazu waren freilich nicht wenige solcher Stunden nötig.

Er ging dreimal in der Woche zu den Kindern eines Fettwarenhändlers, drei allerliebsten, wohlerzogenen Kindern, zwei Mädeln und einem Buben. Die Älteste war ein Lachtäubchen, und wenn Asmus über eine seltsame Aufgabenlösung ein humoristisches Augenrollen vollführte, wollte sie sich unter den Tisch kichern; nur wenn er die Frage an das etwas »thumbe« Brüderlein richtete, machte sie ein bekümmertes Muttergottesgesichtchen. Die Stunden wurden glänzend bezahlt, mit 75 Pfennigen, und jeden Monat zählte der blendend weiß beschürzte Vater mit verbindlichstem Dank und höflichen Komplimenten die blanken Silberstücke auf die Ladenbank. Hier war alles warm und gut.

Auch mit dem einzigen Kinde des Gelehrten, zu dem er sechsmal die Woche ging, lebte er gute und feine Stunden. Freilich nicht von Anfang an. Als er bei dem sechsjährigen Bürschchen mit dem Unterricht beginnen wollte, bemerkte er, daß es kaum die Entwicklung eines Vierjährigen hatte. Infolge von Krankheit oder Verzärtelung war es so zurückgeblieben, daß es fast gar nicht sprechen konnte, und wenn es nach vielen Ermunterungen und Mühen endlich den Mund auftat, so sagte es »trein« statt »klein« und »Josche« für »Rose«. O, o, oh, dachte Asmus, was fang ich da an. Zudem war der Kleine furchtsam wie ein Häslein; er starrte seinen Lehrmeister nach Wochen noch an wie einen bösen Mann und war durch die zündendsten »Witze« und die komischsten Gesichter nicht ins Lachen zu bringen. Hundertmal, tausendmal sprach ihm Asmus die richtigen Laute vergeblich vor – das konnte nicht immer kurzweilig und fröhlich sein; dem Kleinen traten dicke Tränen ins Auge, und dann war alles vorbei . . . Dann mußte Asmus aufspringen und ein paarmal auf und ab gehen und sich sagen, daß er die Geschichte vom Sisyphos bisher immer viel zu leichtfertig und teilnahmlos aufgefaßt habe. Endlich, nach sechs Wochen, sagte das Bübchen plötzlich ganz richtig »klein« und »Klavier«. Asmus traute seinen Ohren nicht.

»Sag' mal Klaus!« – »Klaus.«

»Klemme!« – »Klemme!«

»Klosett!« – »Klosett!«

»Hurra« brüllte Asmus, »hurra, er kann es!« und er sprang – er konnte nicht anders – er sprang über einen Stuhl. Da lachte das Bürschchen zum ersten Male laut auf, und nun kam Sonnenschein ins Werk. Von nun an ging es vorwärts, und nach einem halben Jahre streckte sich aus den verhutzelten Hüllblättchen der kleinen Menschenknospe ein vollkommen helles und frisches Geistchen hervor.

Die Wirksamkeit in diesem Hause hatte für Asmus noch ein anderes Ergebnis. Irgend jemand hatte dem Vater seines Schülers gesteckt, daß der junge Herr Semper auch dichte, und eines Tages erbat der Vater von seinem Hauslehrer ein Lied für eine Naturforscherversammlung. Asmus sagte zu und dichtete etwas hervorragend Ungeeignetes. Der Doktor hatte sich ein munteres Kneiplied gedacht; Asmussens Werk aber war mit mehreren Zentnern Naturphilosophie befrachtet. Der Gelehrte, ein Gentleman, fragte gleichwohl mit verbindlichem Dank nach seiner Schuldigkeit. Vor Asmussens Phantasie stieg wie eine Leuchtkugel ein funkelndes Fünfmarkstück auf; aber er ließ sich grundsätzlich nicht übergentlemannen und sagte, es sei eine Gefälligkeit, für die er kein Honorar beanspruche.

»Nun, dann werd' ich es auf andere Weise gutzumachen versuchen,« sagte der Doktor.

Und von nun an erschien in jeder Unterrichtsstunde eine Tasse Kaffee, ein wundervoller Kaffee, nicht mit Zichorien wie zu Hause. Und da er ein Jahr lang im Hause des Gelehrten wirkte, so kamen Hunderte von Tassen Kaffee heraus, und sie waren sein erstes Dichterhonorar, ein so hohes, wie er es viele Jahre später noch nicht erreichen sollte.


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