Otto Ernst
Semper der Jüngling
Otto Ernst

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VI. Kapitel.

Fortsetzung des Beweises, daß Asmus kein Bücherwurm, sondern ein Sklave irdischer Lust ist.

Aber auch derbere Freuden verschmähte Asmus nicht; der Welt- und Sinnenlust war er ergeben wie in seiner Kindheit. Nicht jeden Sonntag und nicht den ganzen Sonntag verbrachte er bei den Büchern, nein, gewöhnlich suchte er am Sonntag nachmittag seine Freunde Knapp und Diepenbrock aus, die ehemaligen Mitdirektoren seines Puppentheaters. Zunächst ging er zu Knapp, den er gewöhnlich mit seinem Vater zusammen im Garten beschäftigt fand. Einmal waren sie bei der Mohrrübenernte, da sagte der alte Knapp:

»Na, Asmus, haust du deine Jungens auch fix?«

»Nein,« rief Asmus lachend, »ich unterrichte überhaupt noch gar nicht.«

»Ja, hauen mußt du sie, sons wird da nix aus.«

Und dann zog der alte Knapp eine Mohrrübe aus und gab sie Asmussen.

»Da – muß deine Kinder mitnehmen un muß sie sagen: »So wachsen die Worzeln.«

Asmus sah den Bildungswert dieses Verfahrens nicht ohne weiteres ein; aber er dankte höflich und steckte die Wurzel ein.

Und wenn die beiden dann zu Diepenbrock kamen, dessen Eltern ein Logier- und Speisehaus hatten, dann sah er da einen interessanten Mann auf dem Sofa liegen. Er hieß Zöllner, war Zigarrenmacher und lag jeden Sonntag, den Gott werden ließ, auf dem Sofa und las. Er besaß nicht nur den großen Meyer, sondern auch sämtliche Klassiker und Halbklassiker in prächtigen Einbänden. Und wenn er zwölf Sonntage hintereinander auf dem Sofa gelegen und gelesen hatte, dann ging er am dreizehnten hin und betrank sich so vollständig und andauernd, daß er eine Woche lang nicht aus dem Rausche herauskam; dann kehrte er wieder zu Meyer und den Klassikern zurück. Diepenbrock hatte viele Messer und Gabeln zu putzen, und Ewald Knapp und Asmus Semper halfen ihm dabei, damit er schneller fertig werde; aber Asmus mußte zwischendurch immer wieder nach dem Mann auf dem Sofa blicken, der ein schönes, vornehmes Gesicht mit einem langen braunen Bart hatte.

Wenn sie dann endlich fertig waren, gingen die drei fast eine Stunde weit nach der Hamburgischen Vorstadt St. Pauli, nach diesem St. Pauli, das in der ganzen Welt bekannt war als ein Stapelplatz irdischer Genüsse und Seligkeiten für Anspruchslose. Da gab es nicht nur Kuchenbuden, Obstbuden, Bücherkarren, Karren mit Spielsachen, mit Kokosnüssen, die vor den Augen des Publikums geöffnet wurden, mit ambulantem Käse, der sich alle Düfte der Vorstadt unterwarf, mit Limonaden und Likören, da gab es auch Kasperletheater, Mordgeschichtenbilder, fliegende Museen, Naturalienhandlungen, Wachsfigurenkabinette, Theater, Singspielhallen – o, diese Singspielhallen! Am Abend waren die Portale mit hunderten von bunten Lichtern umkränzt, und wenn eine Tür aufging, sah man durch Rauchwolken wunderschöne Frauen tanzen – »wenn ich Lehrer bin und viel Geld verdiene, da geh ich auch hinein,« sagte sich Asmus.

Das erste aber, was die drei taten, war regelmäßig, daß sie – immer bei demselben »Konditor« – einen Eisenbahnkuchen kauften. Das war ein Gemisch von zerriebenem Schwarzbrot und Syrup mit einer Zuckerglasur darüber und war vielleicht eher zu den Laxiermitteln als zur Gattung der Kuchen zu rechnen; aber es schmeckte um so schöner, als es für 5 Pfennige einen halben Kubikdezimeter gab. Dann gaben sie sich zufrieden dem Genuß des Schauens, Kauens und Staunens hin.

»Der siebenfache Raub- und Elternmörder Timm Thode, das größte Scheusal in Menschengestalt!« schrie ein dickes Weib und schlug mit einem Rohrstock klatschend gegen ein 12teiliges »Gemälde«, das die Leistungen des Gefeierten im einzelnen zur Darstellung brachte. Schon von weitem schlug Asmus einen andern Weg ein, er wußte auf der Welt nichts Widerwärtigeres als diese Bilder und die erklärenden Gesänge der Schausteller.

Aber dann gab es einen Mann auf dem »Spielbudenplatze«, der war am ganzen Leibe mit Musik bewaffnet. Mit dem Fuße schlug er Becken und Triangel, mit dem Ellbogen eine große Trommel, mit der rechten drehte er einen Leierkasten, mit dem Munde blies er eine Panflöte, und wenn er den Kopf schüttelte, erklangen von seinem Hute, der einer chinesischen Pagode glich, eine Menge von Glöcklein. Die Musik war gewiß scheußlich; aber die Fertigkeit des schwitzenden Mannes blieb bewundernswert. Er hatte denn auch immer ein Rudel von Jungen um sich, und darum mußte er die linke Hand frei behalten.

»Käupt, Lüd, käupt!« schrie mit furchtbarer Schnapsstimme, die dem Bellen eines heiseren Wüstenwolfes glich, ein Mann, der Datteln verkaufte. Aber es waren keine Datteln mehr, es war nur noch ein unerklärbares Mus, das zu Klumpen geballt auf der Karre lag. »Tein Penn dat Pund, Lüd!« schrie der Mann. »Ick verkäup se mit Schoden, Lüd; ick sett dor noch bi too! Blos ut Schobernack käupt mi wat af, Lüd!«

Und einmal kam Asmus an eine Bude, auf deren Vorderseite ein Schwein mit Menschenaugen abgebildet war. Das Tier hatte einen seelenvollen Blick und schien darüber nachzusinnen, ob es ein Mensch oder ein Schwein sei. Was es in seinem Zweifel noch bestärken konnte, war der Umstand, daß es an den Hinterfüßen fünf menschliche Zehen hatte. Wohl hundertmal drehte Asmus sein Zehnpfennigstück in den Händen herum; aber dann sagte er sich, daß ein zukünftiger Lehrer seiner Bildung jedes Opfer bringen müsse; er gab es hin und trat ein. Er fand in einem Glashafen voll Spiritus ein kleines totes Ferkel, das genau wie jedes andere Ferkel aussah. Der Schausteller, ein großer Kerl in Hemdärmeln, erklärte ihm, das Ferkelauge sei ein vollkommenes Menschenauge, und die hinteren Zehen seien Menschenzehen. Asmus blickte schon lange nicht mehr auf das Ferkel im Glashafen, sondern auf den Mann in Hemdärmeln; er sah ihn mit staunenden Blicken an; denn er begriff nicht, daß ein Mensch so unverschämt sein könne.

»Das ist ja alles Schwindel!« sagte Asmus. Im nächsten Augenblick fühlte er sich unsanft vor die Bude befördert, und wenig fehlte, so wäre er die Stiege, die zum Eingang hinausführte, hinuntergefallen. Es war nicht die erste Erfahrung dieser Art, die er im »Kampfe gegen das Unrecht« machte; aber noch viel, viel weniger war es die letzte.

Nach solchen Erlebnissen gab es einen Wirbel in seinem Kopfe. Wie konnte so etwas geschehen! Das war doch Unrecht! Und Unrecht brauchte man sich doch nicht gefallen zu lassen! Unrecht durfte man sich gar nicht gefallen lassen . . .

Wenn es sich aber traf, daß die drei sich männlich aufgelegt fühlten, so wandten sie den kindlichen Freuden des Spielbudenplatzes nach gründlicher Betrachtung mit kritisch geschürzten Lippen den Rücken und gingen noch dreiviertel Stunden weiter nach Hamburg hinein. Dort gab es nämlich eine Wirtschaft, wo man ein ganzes Seidel »echtes Kulmbacher« für fünfzehn Pfennige verzapfte und sechzehnjährige Männer mit Hochachtung behandelte. Sie saßen dort eine Stunde lang bei einem Glase und übten Kritik nach Art der Jugend, das heißt sie rezensierten die Bälle der Billardspieler, ohne von diesem Spiel etwas zu kennen. Auch das Billardspiel war ein pium desiderium Asmussens; aber ach, zu all dergleichen gehörte ein Lehrergehalt. Ja, wenn man 1200 Mark verdiente – nach einem vorzüglichen Examen bekam man sogar 1300 Mark das Jahr – dann ließen sich alle Sehnsüchte kühlen.

Wenn sie mehr Geld als gewöhnlich hatten, so gingen sie in ein Vorstadttheater, wo die Vorstellung 7 Stunden dauerte. Da gab es Musik, Couplets, Liedervorträge, Männer, die abgeschossene Kanonenkugeln auffingen, wunderschöne Trapezkünstlerinnen in Trikots und dazu noch ganze Dramen in fünf oder mehr Akten, z. B. Anna Field, die Frau in Weiß oder ein Opfer der Liebe von Charlotte Birch-Pfeiffer. Aus den Stücken machte sich Asmus nicht viel; aber der jugendliche Held und Liebhaber gefiel ihm über die Maßen. Asmussens Vater behauptete, diesen Mann schon vor dreißig Jahren als jugendlichen Liebhaber gesehen zu haben, und taxierte ihn auf sechzig Jahre. Aber er hatte sich aus besseren Tagen in Spiel und Stimme einen edlen Rest bewahrt, und dieser genügte, um Asmus zu entflammen. Vor allem diese Sprache! Das mußte auch in Wirklichkeit ein edler, seelenguter Mensch sein, davon war Asmus tief überzeugt. Und die Liebhaberinnen verehrte und liebte er ohne Ausnahme; denn er war etwas kurzsichtig und saß auf einem billigen Platze weit hinten. Eine sanfte Stimme und ein weißes Gewand genügten, um ihn von der heiligen Unschuld einer Heldin zu überzeugen. Er war in jenem Alter, wo die Ästhetik der jungen Leute immer dem andern Geschlechte recht zu geben pflegt.

Wenn sie aber sehr viel Geld hatten, fünfzig Pfennige oder noch mehr, dann gingen sie in ein »richtiges« Theater, wie Asmus es nannte, das heißt ins Stadt- oder Thaliatheater. Einmal erwischte Asmus auf der höchsten Galerie einen Platz, von dem aus er nur dann die Bühne erblicken konnte, wenn er seinen Körper in einen fast rechten Winkel bog. Man gab Don Carlos, ein Stück, das zwischen sechs- und siebentausend Verse hat. In den Zwischenakten hatte er beachtenswerte Kreuzschmerzen; aber sobald der Vorhang wieder aufging, waren sie verschwunden. Es war eine Begeisterung mit Hindernissen; aber so stark war sie, daß die Jünglinge noch stundenlang im Regen spazieren gingen und sich nur in Ausrufungssätzen über den Don Carlos und seinen Dichter unterhielten. An solchen Abenden hatte Asmus stärker denn je das Gefühl: Warum geht man eigentlich zu Bett? Man verliert ja die Hälfte des Lebens, die Hälfte der Welt! Und als er eines Tages bei Grabbe die Worte fand: »Die Zeit, die man nicht schläft, heiß ich dem Tode abgewonnen,« da jauchzte er förmlich auf: Ja, das ist mein Mann.


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