Otto Ernst
Semper der Jüngling
Otto Ernst

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XLV. Kapitel.

Wenn's kommt, dann kommt's in Haufen.

Was wird nun kommen? dachte Asmus. Denn er glaubte an sein heimatliches Sprichwort: »Wenn't kummt, denn kummt't in Hupen.«

Und ein drittes Unglück kam, aber nicht von außen, sondern ganz heimtückisch aus dem tiefsten Innern richtete es sich auf wie eine Natter auf dunklem Dickicht. Ihm kamen Zweifel am Wert seines Berufes.

Mit dem jähen Optimismus der Jugend war er an diesen Beruf herangetreten. Jeder Jüngling, auch der bescheidenste, hat, wenn auch kaum bewußt, das Gefühl: Wenn ich in die Welt eingreife, wird es anders, wird es schneller vorwärtsgehen – wie ein ungestümer Reisender, dem der Zug zu langsam fährt, das Gefühl hat: Könnt' ich aussteigen und nachschieben!

»Hätt' ich tausend Arme zu rühren!
Könnt' ich brausend die Räder führen!
Könnt' ich wehen durch die Haine!
Könnt' ich drehen alle Steine!«

und wenn er sich auch sagt, daß vor und mit ihm Bessere und Stärkere wirken und gewirkt haben – er glaubt nicht, daß einer so viel Lust und Mut gehabt wie er, vor allem nicht, daß einer so viel Glück gehabt, wie er haben wird!

Und nun erreichte er nicht mehr als die andern! Nun ja, er leistete vielleicht etwas mehr als dieser und jener, und seine Kollegen und Freunde rühmten zuweilen seine Leistungen; aber ganz etwas anderes hatte er gehofft, ganz etwas anderes! Er wußte ja freilich von früher her, daß Unterrichten kein ununterbrochener Sieges- und Eroberungszug sei; aber doch hatte er sich Erziehung und Unterricht im stillen als eine Fleischwerdung des Lehrwortes gedacht. Aber das Wort ward nicht Fleisch: Seine Jungen konnten am Ende des Jahres etwas mehr als zu Anfang; aber sie waren dieselben Menschen geblieben, wenigstens merkte er keine Änderung. Die Guten, Offenen, Zarten waren zwar offen, zart und gut geblieben; aber die Rohen, Hinterhältigen, Unwahrhaftigen waren sich nicht minder treu geblieben. Es schien ihm auch, daß die Klugen zwar klug blieben, die Dummen aber auch dumm. Und gerade die Dummen waren das ewige Ziel seiner Mühen; zu ihnen kehrte er, wie magnetisch gezogen, immer wieder zurück; denn daß die Klugen etwas begriffen hatten, bedeutete ihm nichts, solange die Dummen im Dunkel saßen. Das schien ihm die furchtbarste Ungleichheit und Ungerechtigkeit der Welt, daß die einen spielend und lachend erhaschten, was die andern mit Ängsten und Mühen nicht erringen konnten. Und die Welt kommt nicht vorwärts, wenn die Dummen nicht mitkommen, dachte er. Und er machte es sich zur tollkühnen Aufgabe, aus den Dummen Kluge zu machen; alle sollten alles lernen; in seiner Schar sollte keiner zurückbleiben. Herr Drögemüller hielt ihm vor, daß er im Pensum zurück sei, und das war deshalb, weil es ihn immer wieder zu den Schwächsten hinzog, weil ihn immer wieder dies wunderbare Geheimnis der Dummheit lockte. Er konnte sich Viertelstunden, halbe Stunden lang mit solch einem verschlossenen Geiste einkapseln und das verworrene, zerrissene Gespinst seiner Vorstellungen mit langsam tastenden Fragen zu ordnen und zu entwirren suchen; er gab in einer Oberklasse den geographischen Unterricht, und er setzte sich vor, nicht zu ruhen, bis alle die Entstehung der Jahreszeiten aus der Stellung der Erdachse zur Ekliptik begriffen hätten, und zuweilen sprang plötzlich aus solch einem leeren Auge ein Funke wie aus einem toten Stein, und dann kam aus Asmussens Augen ein Strahl, und Licht floß zusammen mit Licht und machte die Erde selig und schön – aber wenn das Hirn sich dem einen erschlossen hatte, verschloß es sich dem andern um so fester, und ob Asmus auch mit zusammengebissenen Zähnen rang und bohrte – er mußte daran zweifeln, allen seinen Schülern den auf- und abschwebenden Jahresreigen von Licht und Schatten verständlich zu machen.

Dabei quälte ihn mit Recht der Gedanke, daß er über den Schwachen die Starken vernachlässige und sie durch den langsamen Gang des Unterrichts langweilen und unlustig machen müsse. Aber konnte er sich denn überhaupt allen so hingeben, wie es geschehen müßte, wenn man ihm fünfzig, ja sechzig Menschenkinder auf den Hals lud? Es konnte ja alles nur oberflächliche Husch- und Pfuscharbeit, nur äußerlicher Bildungsaufputz werden. Es bemächtigte sich seiner das Gefühl, daß überhaupt alles töricht und falsch sei, was er da treibe, und zwar von der Wurzel aus falsch; von einem tieferen Grunde her müsse alles anders angefaßt, müsse auch ganz anderes erstrebt werden. Er erinnerte sich, daß sein bestes Lernen immer ein Erleben gewesen sei. Aber dies Lernen in der Schule, wie er es nach dem herrschenden Formalismus betreiben mußte, war kein Erleben. Es drang nicht zum Innersten und Tiefsten des Menschen hinab. Und er dachte sich einen Menschen, mitten in den Kampf des Lebens gestellt. Was er da brauchte – gab ihm das die Schule? Non scholae sed vitae! hatte es im Seminar geheißen. Leerer Schall! Das Meiste, was er den Kindern geben mußte, war nicht Lebensbrot, waren nicht Lebensworte, nicht Lebenswerte.

So hoch ihn sein Optimismus getragen hatte, so tief versank er jetzt in Mißmut und Verzagen, und Melancholie bog seinen Mut »wie eine junge Weide bis an den Rand des Lebens«. Jene unversiegliche Federkraft aus tiefstem Lebensgrunde – nun schien sie dennoch versiegt.

Öfter als sonst bezog er in Gemeinschaft mit Heide, Goers und Stockelsdorf die Akademie des Herrn Kuhlmann und war dann nicht selten der Ausgelassenste von allen; aber seine Scherze hatten eine Bitterkeit und Schärfe, die die Freunde oft erstaunt und befremdet aufblicken ließ. Manchmal verstummte er mitten in der tollsten Lustigkeit, mitten im eifrigsten Diskurs und sprach dann den ganzen Abend kein Wort mehr. Dann hatte ihn das Gefühl überfallen: Was soll der ganze Unsinn? Darum ging er auch noch öfter allein ins Wirtshaus. Er hatte ein abgelegenes Hotel entdeckt, in dessen Speisesaal er ganz allein den Abend verbringen konnte. Das liebte er jetzt: ganz allein mit einer Flasche in einem möglichst großen Saale sitzen und sinnen und träumen. Nur wenn der Kellner kam, unterhielt er sich gern eine Weile mit ihm. Es hatte ihn immer schwer geärgert, wenn er einen Kellner schlecht und geringschätzig behandelt sah, wie es ihm überhaupt so schien, als wenn die Menschen diejenigen, die ihnen die härtesten und lästigsten Arbeiten abnahmen, am verächtlichsten behandelten. Er suchte, es an seinem Teile gutzumachen, behandelte die Kellner nun extra als Gentlemen und gab ihnen so reichliche Trinkgelder, daß einige, allerdings wenige von ihnen zuweilen eine abwehrende Gebärde machten und sagten: »Ooh – lassen Sie doch – ich habe ja erst vorher bekommen!« Sie nahmen es aber immer.


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