Otto Ernst
Semper der Jüngling
Otto Ernst

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IX. Kapitel.

Ein Afrikaforscher, der nicht revanchelüstern ist.

Ganz, ganz anders war Sempers zweiter Wandergenosse. Er war hager, sehnig und steif, von scharfgeschnittenem Gesicht, und sein silberweißes kurzgeschorenes Haar stand senkrecht aufgerichtet wie Nägel. Eigentlich hieß er Herrig; aber nach einem Vororte Hamburgs, wo die Insassen einer gewissen Anstalt gezwungenermaßen kurzgeschoren gingen, nannte der liebevolle Witz seiner Klassengenossen ihn »Fuhlsbüttel«. Weit davon entfernt, musikalisch zu sein, sang er, wenn er die Wacht am Rhein singen wollte, die Lorelei, die aber auch noch falsch. Er war überhaupt vom Kopf bis zu den Füßen amusisch, und unter allen Kunst und Literaturschätzen der Welt gab es nichts, was seinen Herzschlag beschleunigen konnte. Allein auch er hatte etwas, was ihn Sempern interessant machte: nämlich eine grammatische Nase, und in der Analyse knifflicher Satzgebilde galten er und Asmus für Rivalen. Auch kannte er eine Menge Pflanzen und Insekten bei Namen, und Asmus, den seine Dorfschule in dieser Hinsicht mit wahrhaft imposanten Lücken ausgestattet hatte, ergriff mit Freuden die Gelegenheit, sich aus dem »Thesaurus« seines Freundes zu bereichern. Dafür bereicherte sich John Herrig, wie man sehen wird, aus einem anderen Schatze seines Freundes Asmus.

Zunächst freilich war es eine Bereicherung von zweifelhaftem Wert. Sie unterhielten sich auf ihren Wanderungen stundenlang mit bitterem Ernst über Fragen der Politik, der Volkswirtschaft, der Gesellschaftsmoral, der Philosophie, kurz de omnibus rebus et quibusdam aliis. (Morieux war immer nach zwei Minuten auf eine Hanswursterei abgesprungen.) Dabei sprachen sie auch von ihrer Zukunft.

»Ich bleibe nicht Lehrer,« sagte Herrig, »ich werde Afrikaforscher.« Da war es Asmussen, als ob plötzlich eine unbekannte Gewalt, von der er nie gewußt, die gar nicht auf seinem Innern, sondern auf einer weiten Zukunft zu kommen schien, ihm ein Wort auf die Lippen legte:

»Ich – ich –« sprach er zögernd, »ich möchte ja wohl Dichter werden!« Und schnell setzte er hinzu: »Aber das ist ja natürlich Unsinn.«

Dann gab es einen Tag, da gingen John und Asmus lange schweigend nebeneinander her.

»Warum reden wir eigentlich nichts?« sagte Asmus endlich.

»Hm,« machte Herrig, »weil wir nichts mehr zu streiten haben. Ich habe nach und nach alle deine Anschauungen angenommen.«

Asmus erschrak fast, als Herrig so nüchtern den wahren Sachverhalt feststellte. Er hatte recht: das innere Freundschaftsverhältnis war eigentlich abgestorben. Anschauungen aber, die man von einem anderen angenommen hat, weil man nichts mehr zu erwidern wußte, sind immer ein zweifelhafter Reichtum gewesen.

Asmus indessen ertrug es nicht, einen toten Freund mit sich herumzuschleppen. Er versuchte, von seinem Blut in die Adern seines kalten, blaßhaarigen Freundes hinüberzuleiten. Sie wollten an den herrlichen Sonnabend-Feierabenden etwas zusammen arbeiten. Und er holte Schillers Briefe über ästhetische Erziehung hervor, an denen er sich schon einmal geärgert hatte, weil er sie nicht verstand. Vielleicht gelang es, sie mit zwei Köpfen zu bewältigen. Aber nach einigen Briefen mußten sie's abermals aufgeben. Nun studierten sie Latein zusammen und lasen den Gallischen Krieg. Auch andere römische Autoren lasen sie; wenn sie ihnen lateinisch zu schwer waren, dann in Übersetzungen, und in den anschließenden Unterhaltungen fanden die alten Herren eine mehr oder weniger endgültige Beurteilung.

»Dieser Ovid ist doch ein fürchterlicher Quatschkopp!« rief Herrig eines Abends aus.

Das ärgerte Asmus und er versetzte:

»Und dein Sueton ist ein altes Waschweib.«

Auf solche Weise erwärmte sich nach und nach wieder das Freundschaftsverhältnis; bald aber sollte es trotzdem für immer erkalten.

John Herrig schöpfte nämlich aus seinem Freunde noch einen reelleren Reichtum als den der Weltanschauung. Wenn sie auf ihren Ausflügen einkehrten, um zu ihrem mitgenommenen Frühstück ein Glas Bier zu trinken, so zahlte Asmus regelmäßig die Zeche und teilte die vom Vater erhaltenen Zigarren mit seinem Freunde. Er sagte sich nämlich: Wenn er Geld hat, so wird er sich natürlich revanchieren; wenn er keins hat, versteht es sich von selbst, daß der bezahlt, der etwas hat. Und Asmus erwischte hin und wieder Privatstunden, die mit 50 Pfg. bezahlt wurden.

Und wenn sie rückkehrend, hungrig, durstig und müde von der Sonnenhitze, in Oldensund eintrafen, dann fand es Asmus unmenschlich, den Freund noch eine Stunde weit nach seinem Mittagessen gehen zu lassen, und er sagte: »Komm mit und iß mit mir; meine Mutter wird wohl soviel haben.«

Und Frau Rebekka, die für sieben Menschen kochte, darunter für fünf Söhne, deren Appetit täglich wuchs und sich nach oben hin jedem Voranschlag entzog, hatte auch noch genug für einen achten, und sie, die nach einem Worte ihres Gatten so sparsam war, »daß sie den Flicken eines Flickens flickte«, und das so akkurat, daß Herr Aufderhardt, der Schneider, ausrief: »Das ist so schön gemacht, daß ich es nicht besser kann!« – sie, die aus einem Rock eine Weste, aus der Weste eine Mütze, auf der Mütze einen Handschuh, aus dem Handschuh einen Putzlappen machte, und so das arme Tuch in Wahrheit zu Tode hetzte, um es zuletzt noch an den Lumpenhändler zu verkaufen, – sie strahlte von Heiterkeit und Stolz, wenn ein Gast an ihrem Tische saß und tüchtig einhieb. Das war eben eine der leichtsinnigen Anmaßungen, die sie von ihrem Gatten übernommen hatte, daß sie sich für berechtigt hielt, unbeschränkte Gastfreundschaft zu üben. Wer im Augenblick einer Mahlzeit als Freund das Semperische Haus betrat, der wurde an den Tisch gebeten, das war eine Überlieferung von Semperischen Urvätern her.

Und nun merkte Asmus eines Tages, daß dieser Satan, dieser Herrig, doch Geld hatte! Und daß es ihm gleichwohl gar nicht einfiel, sich zu »revanchieren«. Diese Entdeckung machte Asmussen von oben bis unten gefrieren. Von allen Lastern, soweit er sie bis jetzt kennen gelernt hatte, war ihm eins immer als das häßlichste erschienen: der Geiz. Und mit einem Schlage war er aufgetaut, und aus dem Grunde seines Herzens atmete er auf, als Herrig bald darauf, nachdem er den Freund für die nächste gemeinsame Arbeit in seine Wohnung geladen hatte, hinzufügte:»Du kannst ja dann bei mir zu Abend essen.«

Gott sei Dank, dachte Asmus, er ist doch nicht geizig.

Als Asmus am nächsten Sonnabend in die Stube seines Freundes trat, fiel ihm sofort dessen Verlegenheit auf. Nach einiger Zeit stotterte Herrig:

»Abend – Abendbrot hast du wohl schon gegessen!«

»Ja,« sagte Asmus, »Adieu!« Und nun war er sich klar über John Herrig.

Er hatte vorläufig kein Glück mit den »Freunden« unter seinen Studiengenossen.


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