Otto Ernst
Semper der Jüngling
Otto Ernst

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

XLVIII. Kapitel.

Wiederum tanzt eine Salome; wiederum heischt sie das Haupt das Johannes.«
(Johannes Chrysostomos.)

Als die beiden Männer in das Wohnzimmer traten, fanden sie Frau Mansfeld mit einer Handarbeit, Fräulein Chavonne mit den Vorbereitungen zum Unterricht des folgenden Tages beschäftigt. Die junge Dame saß mit dem Rücken gegen das Licht; aber gleichwohl glaubte Asmus zu bemerken, daß sie erschrecke und erblasse. Zwar lächelte sie, als sie ihm dann die Hand gab; er zweifelte aber doch nicht daran, daß er ihr unangenehm und unwillkommen sei. Mansfeld holte sein Bild hervor, und Asmus nahm es in Augenschein; wäre er verpflichtetes Mitglied einer Jury gewesen, so würde der gute Mansfeld wohl nicht allzuviel Schmeichelhaftes zu hören bekommen haben; aber abgesehen davon, daß Asmus sich durchaus nicht als Kenner fühlte, gehörte er nicht zu jenen »unentwegten« Bekennern, die die Wahrheit auch dann sagen, wenn sie nur verletzt und keinem nützt; er machte also dem harmlosen Dilettantismus Mansfeldens neben einigen Anstellungen ein paar balsamische Komplimente.

Nach dem Abendessen sagte Mansfeld: »Ich habe Sie so lange nicht gehört – möchten Sie nicht ein Gedicht sprechen?«

Asmus, ohne sich zu zieren, stand auf und sprach, zwar in Hinblick auf die Anwesenheit der Damen mit einiger Befangenheit, »Des Sängers Fluch«. Frau Mansfeld war eine überaus fleißige und praktische Frau und ließ auch während des furchtbarsten Fluches die Häkelnadel nicht ruhen; Hilde aber, die inzwischen zu einer Stickerei gegriffen hatte, ließ schon nach den ersten Versen die Hände in den Schoß sinken und horchte mit großen Augen. Nun schlug Mansfeld vor, man möchte doch jede Woche einmal zusammenkommen und etwas Gutes lesen, namentlich Dramatisches; er komme fast nie ins Theater, und Asmus setzte für nächsten Mittwoch »Emilia Galotti« aufs Repertoire. Frau Mansfeld indessen, die die Claudia lesen sollte, lehnte jede Beteiligung entschieden ab; sie wollte mit dem Theater nichts zu tun haben. Sie konnte sich nicht verstellen; sie war Frau Mansfeld aus Hamburg und nicht Claudia Galotti aus Italien, und überdies wußte sie ganz gut, daß in dem Stück ein junges Mädchen verführt werden sollte. So etwas paßte sich nicht für eine Lehrersfrau, und im Grunde ihres Herzens mochte sie es etwas »frei« von dem Fräulein Chavonne finden, daß es sich auf Asmussens Bitte bereit erklärte, sogar das zu verführende Mädchen selbst zu verkörpern. Asmus las den Prinzen und Appiani, Mansfeld den Marinelli und den Odoardo; aber es ging doch nicht. Dieser las nämlich den Marinelli wie einen stellungsuchenden Schneidergesellen, und sein Odoardo wäre durch ein gutes Glas Bier mit Leichtigkeit zu besänftigen gewesen. Er sah das auch selbst ein, und Asmus widersprach seiner Selbstkritik mit keinem Wort. Einig waren alle darin, daß Fräulein Chavonne die Angst Emiliens und die Eifersucht der Gräfin Orsina vorzüglich gelesen habe. Asmus war überrascht: hatte sie schon einmal Eifersucht empfunden? Es war etwas Echtes und Elementares in ihrem Vortrag gewesen.

Von nun an mußte Asmus allein lesen, und als man dahinter gekommen war, daß er plattdeutsch reden könne wie ein Oldensunder Bauernjunge und wie ein Hamburger Ewerführer, da mußte er Groth und Reuter lesen. Und als er die nun las, da machte er eine wundersame Entdeckung: Hilde Chavonne konnte lachen! Natürlich hatte er sie auch sonst schon lachen sehen; aber immer hatte nur ein Teil ihres Wesens gelacht, und nur ein kleinerer Teil; der tiefe, fast traurige Ernst ihres Wesens hatte immer das Übergewicht behalten; es war immer ein Lachen mit ernstem Grundton gewesen, nicht jenes Lachen des ganzen Menschen, das aus dem Mittelpunkt unseres Wesens elementar hervorbricht und alle unsere Seelen- und Körperteile kräftig durcheinander zu schütteln scheint. Und sie selbst schien beseligt, berauscht von der Entdeckung dieser Kraft wie ein Kind, dem man zur Weihnacht beschert; wenn er den Blick vom Buche erhob und in ihr lachendes Gesicht sah, dann glühten ihn zwei jauchzende Augen an, und niemand hätte sagen können, ob es Lust oder Dankbarkeit sei, was ihnen den feuchten Schimmer gab. Wenn er aber von traurigen Dingen las und – anfangs zufällig, bald mit Absicht – die Augen über den Rand des Buches hinausgehen ließ, dann sah er ihre Augen auf sich ruhen, als wäre es sein Leid und sein Kummer, von dem er gelesen. Und obgleich die beiden Mansfeld ein dankbares Publikum waren, dachte er bald bei allem, was er las, nur das eine: Wie wird es ihr in die Seele klingen? fühlte er bei jedem Wort den unhörbaren Widerhall ihres Herzens.

Es ist klar, daß ein Ereignis oder eine Erwägung, die ihn von den Mittwoch-Besuchen hätte zurückhalten können, bald zu den undenkbaren Dingen gehörte. Zu Hause und unter den Freunden, in Konzert und Theater, in Wissenschaft und Kunst gab es keine Freuden, und am allerwenigsten gab es unter dem himmlischen Gezelte Naturerscheinungen, die ihn hätten hindern können, am Mittwoch nachmittag nach dem ländlichen Vororte hinauszupilgern, in dem die Mansfelds wohnten. Die altgeheiligte Ordnung des Wochenreigens hatte sich verkehrt; der Mittwoch war zum Sonntag geworden. Sehr schlau bemerkte Frau Rebekka eines Tages mit dem Scharfblick des Weibes und der Mutter: »Da bei den Mansfelds, da muß ein Magnet sein.«

Mit dem Magnet hatte es seine Richtigkeit. Wenn der Sommernachmittag gar zu verlockend ins Fenster lachte, ließen sie Bücher Bücher sein, wanderten zu vieren hinaus nach Eppendorf, Lokstedt oder Niendorf und ergaben sich auf einer Wiese dem Reifenspiel. Von den Freundinnen Hildes hatte er gehört, daß ihr Turnlehrer sie immer vor allen gerühmt habe wegen ihrer Anmut; eines Tages, als sie sich zu schwach gefühlt und sich von der kaum erfaßten Reckstange wieder hatte fallen lassen, da hatte der Lehrer gerufen: »Fräulein Chavonne fällt sogar mit Grazie vom Reck!« Asmus konnte dem Manne nur von ganzem Herzen recht geben, und wie der »Magnet« beim Lesen seine Blicke, seine Stimme, seine Gedanken anzog, so flogen ihm jetzt die meisten der Reifen zu, die Asmus zu versenden hatte, wenn er auch galant genug war, sich hin und wieder der gnädigen Frau zu erinnern.

Ein Spiel auf grünem Rasen in heller Sommerluft, das war nun ohnehin für das Herz des Asmus ein ununterbrochener Freudentanz; als er nun aber auch noch das liebliche Mädchen mit seinen schmalen Füßen, in flatterndem Gewande über den sonnengrünen Teppich hüpfen sah, da schien ihm, daß die Welt wohl überhaupt schön sei, daß sie aber noch nie so schön gewesen sei wie an diesem Tage. Anmut der Bewegung und körperliche Geschicklichkeit waren nicht seine Stärke; aber mit dem, was er konnte, kokettierte er redlich, und er hatte das Gefühl, daß er plötzlich mehr könne, als er sich zugetraut. Freilich, bei einem unparteiischen Zuschauer würde auch Hilde Chavonne den Verdacht erweckt haben, daß ihr der Eindruck ihrer Sprünge und Tanzschrittchen nicht gleichgültig sei, und daß sie wie jedes junge, schöne, tanzende Weib um den Kopf eines Mannes tanze.

Und gewiß hätte Asmus ihr lieber seinen Kopf auf einer Schüssel entgegengetragen, als ihr von Liebe zu sprechen. Wenn es sich auf dem Heimwege traf, daß sie allein nebeneinander gingen, dann begann wieder jenes wunderlich närrische Doppelspiel von Lippen und Herzen, das sie schon damals, nach Asmussens einmaligem Auftreten als König getrieben hatten. Sie sprachen über einen Roman oder über eine Schulverordnung oder über ein Sonnentaugewächs, das sie gefunden, oder über eine Wolkenbildung, und mit allem, was sie sagten, meinten sie: »Ich liebe dich – ich liebe dich!« Es war eine Chiffresprache, die sie redeten. »Dieser Weg führt nach Bahrenfeld,« bedeutete soviel wie: »Du bist ein entzückendes Geschöpf!« »Die Linden haben ausgeblüht« sollte heißen: »Ich möchte dich küssen;« aber keiner hatte den Schlüssel zur Sprache des andern. Das Herz des Asmus drängte, raunte, flüsterte ihm zu wie ein eifriger Souffleur: »Sag' es ihr, sag' es ihr, tu den Mund auf – es ist gar nicht schwer – und sag: »Süße Hilde, ich hab' dich lieb!« – »Wie kann ich denn ›du‹ zu ihr sagen!« erwiderte Asmus. »Meinetwegen sag' ›Sie‹«, entgegnete das Herz, »aber sag' etwas!«, und dann tat Asmus wirklich den Mund auf und sagte: »Jetzt wird ja auch bald der neue Bahnhof eröffnet.« Sie war doch zu hoch, zu heilig; sie konnte sich an einem Menschen wie ihm nicht genügen lassen. Sie hatte es ja auch bewiesen, als sie sich verlobte. An ihm war sie vorbeigegangen.

Endlich, endlich kam eine prächtige Gelegenheit, dem Herzen Luft zu machen. Mansfeld hatte mit seinen Schülern einen Ferien-Ausflug unternommen, und Asmus und die Damen hatten sich angeschlossen. In einer hübschen Gartenwirtschaft, die den freundlichen Namen »Zum Morgenstern« führte, hielt man Rast, und Hilde hatte sich daran gemacht, die gepflückten Feldblumen zu einem Strauße zu ordnen, als Asmus zu ihr trat. Mansfeld und Frau waren abseits mit den Kindern beschäftigt.


 << zurück weiter >>