Otto Ernst
Semper der Jüngling
Otto Ernst

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XXIX. Kapitel.

Asmus hört eine feierliche Messe und zieht mit den Juden durch die Wüste, und Rebekka Semper hält Kant für überflüssig.

Noch im letzten Seminarjahr bekam Asmus einen anderen Direktor; Dr. Korn war zum Schulrat ernannt worden – »ich habe mich nie um ein Amt beworben,« konnte er mit Stolz in seiner Abschiedsrede sagen – und an seine Stelle war Herr Murow getreten, ein breiter, hünenhafter Mann und liberaler Theologe, der in seiner Antrittsrede seine Heimat sehr deutlich verriet, als er erklärte, daß »das Wark des Lahrers nur jäde–ihen könne, wenn das Harz dabei wäre.«

Murow und Semper waren nach wenigen Wochen Freunde, und eines Morgens winkte der Direktor den Jüngling mit heimlichem Lächeln auf die Seite.

»Hier hab' ich 'n Konzartbillet – Missa solemnis von Cherubini – sahr jute Musik – haben Sie Lust?« Und er reichte ihm die Karte hin.

Ob Asmus Lust hatte! Er wußte gar nicht, was er sagen sollte, und stammelte etwas hervor, was ein Dank sein sollte.

Am Abend saß er in der Petrikirche in Hamburg, auf einem Platze, wo er weder Sänger, noch Orgel, noch Orchester sehen konnte. Das war's, was er brauchte. Denn seine Musik kam von andern Orten her, als dorther, wo sie erzeugt wurde. Sein Theater und sein Konzert war immer noch anderswo als auf der Bühne und auf dem Podium – über einem Baumwipfel des Hintergrundes, in einem Winkel des Saales, im Lichtkreis einer einsamen Lampe sah er weit hinter dem Geschehen der Bühne, hörte er hoch über den Klängen der Musik Erlebtes und – nie Erlebtes, fühlte er ein Leben – ach, das man nur in solchen Stunden erleben kann, das man nie in Wirklichkeit erleben wird. Wo, in welchen nie geahnten Kammern seiner Seele hatten diese Bilder geschlummert, die für Sekunden erwachten und dann verschwanden, um niemals wieder zu erscheinen? Waren es Erinnerungen aus einem vergangenen Leben – Ahnungen eines künftigen Seins? War es das Unentwickelte, Unerwachte, das in der Welt ist und das aus dem Traume sprach? . . . . .

Und es kam ein Orgelbrausen und ein Frauengesang, der ging über alle Winkel und Lichter der Kirchenhalle hinaus, das war ein Strom, für den die Gewölbe des Hauses zu niedrig waren; wie ein ungeheurer Flammenstrom fuhr er durch alle Schranken von Stein und Erz hinaus in den unendlichen Himmel. Da betete Asmus Semper abermals. Er betete, daß er einst, wenn er wirklich ein Dichter werde, eine Dichtung schaffen wolle, deren Held ein König des Verstandes sein solle. Vor der klaren Schärfe seines Verstandes sollte verjährter Wahn und Glaube zergehen wie Nebel vor der Sonne. Und die Menge sollte ihn hassen, verfolgen, ihn steinigen, weil er ihre Welt entgöttert habe. Und das würde das tragische Schicksal dieses Zertrümmerers sein: die andern würden nicht wissen, nicht ahnen, daß er ein Mensch war, der beim Klingen einer Quelle lachen und weinen konnte, daß seine Brust ein Dom war, der von tausend Orgel- und Engelstimmen klang und hinter dessen bunten Fenstern alle süßen Farben und alle heiligen Dämmerungen des Lebens wohnten; niemand sollte es verstehen, daß er das zarteste Herz von allen besaß.

Als Asmus unter einem klaren, sternenreichen Winterhimmel nach Hause ging, war er sich klar darüber, daß es nichts sei mit Meister Bruhns Anschauungen über Verstand und Gemüt. Aber trotz dieser und noch weit größerer Meinungsverschiedenheiten schauten sie einander doch mit Freundschaft und Liebe in die Augen an jenen wahren Sonnabenden, da die Sonne des Abends aufs Klavier schien und der Meister zu Asmussens Geige die Begleitung spielte oder – die strenge Pflicht auf eine Weile vergessend – ganz von selbst in einen Beethoven oder Bach überging.

Der Weg nach Hause führte Asmus regelmäßig durch einen Stadtteil, der stark, wenn nicht vorwiegend von Juden bewohnt war, und wenn er nun von den sonnabendlichen Feierstunden bei Meister Bruhn heimkehrte, paßte es immer sonderlich gut zu seiner Stimmung, wenn ihm die Juden in Festtagskleidung begegneten und in ihrem Gang und ihren Mienen den Sabbath erkennen ließen. Er fand es schön, den Feiertag am Abend zu beginnen mit dem Blick in ein heiliges »Morgen«; auch sein Sonntag begann immer am Samstagabend, begann oft schon in der Musikstunde, wenn er deutsche Lieder hörte, begann manchmal schon mit der Vorfreude auf diese Stunde. Aber nicht fand er es schön, wie es die Juden taten, den Feiertag auch am Abend mit Sonnenuntergang zu beschließen. Er wenigstens konnte aus den heiligen Geheimnissen des Sabbats nicht zurückfinden in den Alltag, wenn nicht ein langer, tiefer Schlaf dazwischen lag. Immer und immer riefen ihm diese festlich gekleideten Juden die Kindheit zurück, die unvergeßliche Zeit, da er mitten im verschneiten Winter das sonnige Land Abrahams gesehen und mit Elieser um Rebekka geworben hatte, am Brunnen der Stadt Nahors. Wenn er sie aber gar am Laubhüttenfest mit dem Paradiesapfel und mit Myrten, Palmen und Weiden nach der Synagoge wandeln sah, dann verwandelte sich der Weg nach Oldensund in die vierzigjährige Wüstenwanderung vom bitteren Wasser zu Mara und der Oase Elim bis zu dem Tage, da Jericho fiel unterm Hall der Posaunen, dann sah er die ährensammelnde Ruth auf dem Acker des Boas und sah die Harfe Israels hangen an den Weiden Babylons.

Schön wie die Kindheit war nun nach allen Sorgen und Kämpfen die Zeit des Seminarbesuchs geworden, als sie sich ihrem Ende zuneigte. Ludwig Sempers Verdienst hatte sich ein wenig erhöht; Asmussens Stipendium war auf zweihundertundvierzig Mark im Jahre gestiegen; ein paar gute Privatstunden taten ein übriges, eine Zeitschrift hatte ein paar Gedichte von Asmus Semper angenommen, und aus Amerika kamen gute Nachrichten.

Aber unter alledem war noch nicht das Beste. Das, was die ganze Welt so heilig und schön machte, war das Studium. Nicht das Studium fürs Seminar; bei dem war immer noch nicht viel Freude zu holen. Nein, das Studium, das niemand von ihm verlangte als er selbst. Und darum war der Sonnabend so unaussprechlich schön, weil er nun den ganzen Sonntag über studieren konnte, was er wollte. Freilich hatte Frau Rebekka ihre Bedenken. Das Examen nahte wieder heran, und ob Kant und Spinoza und Gedichtemachen und Hamletdeklamieren dazu nötig sei, darüber hegte sie schüchterne Zweifel. Sie gab diesen Zweifeln auch Ausdruck und meinte, ob er sich nicht zu sehr zersplittere.

»Ich hab' da neulich in so'n Buch von Kant hineingeguckt, – das ist ja'n fürchterlicher Schnack; daraus wird ja kein Deubel klug.«

»Ja, mitunter ist es sehr schwer,« sagte Asmus.

»Ja, ist denn das notwendig, daß du das lernst?«

»Ja, Mutter, das ist sehr notwendig.«

»Wenigstens solltest du das Dichten aufschieben, bis du mehr Zeit hast, das strengt dich doch auch an.«

»Na ja, wenn es mich anstrengt, werd ich es aufgeben«, versicherte Asmus und lächelte nach innen.


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