Otto Ernst
Semper der Jüngling
Otto Ernst

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XXX. Kapitel.

Das unlesbarste Kapitel des ganzen Buches: Asmus prügelt sich mit Kant und Spinoza und verrenkt sich mehrere Hüften.

»Jung, du verschmierst ja all die schönen Bücher!« rief Frau Rebekka eines anderen Tages erschrocken, als sie ihm über die Schulter in die »Kritik der reinen Vernunft« hineinblickte.

Ja, das tat er freilich. Wenn er ein Buch wirklich las, so durchackerte er es mit dem Bleistift und warf jede Scholle herum und erquickte sich an dem frischen Ackerduft, der dann emporstieg; alle Bedenken, alle Zweifel, alle Widersprüche, die ihm aufstiegen, schrieb er an den Rand, und das gab einen wunderlichen Buchschmuck. Gar oft ging es ihm wie seinem geliebten Faust:

»Hier stock ich schon und kann nicht weiter fort;
Ich kann das Wort so hoch unmöglich schätzen,
Ich muß es anders übersetzen,
Wenn ich vom Geiste recht erleuchtet bin . . .«

und das war immer der schlimmste Zweifel: ob er vom Geiste recht erleuchtet war. Er balgte sich mit dem dürren Königsberger Männchen wie wahnsinnig; aber er wußte wohl, daß er mit einem Gottessohne rang wie Jakob an der Stätte Pniel, und daß man sich dabei die Hüfte verrenken konnte. Er verrenkte sie sich mehr als einmal und mußte manchmal einsehen. daß er nur deshalb widersprochen hatte, weil er nicht richtig verstanden hatte; das beschämte ihn wohl, aber hielt ihn von immer erneutem Ringen nicht ab. Nichts lag ihm ferner als Überhebung; seine Pietät gegen das Genie war eher zu groß als zu klein, und selbst solche Sätze wie:

»Aber hierin liegt eben das Experiment einer Gegenprobe der Wahrheit des Resultats jener ersten Würdigung unserer Vernunfterkenntnis a priori«

konnten in ihm nicht den Verdacht erwecken, daß es dem »Alleszermalmer« denn doch wohl hin und wieder recht sehr an der Fähigkeit gemangelt habe, seine Gedanken gut und klar zum Ausdruck zu bringen. Es war einige Jahre später, daß er bei Schopenhauer an den Rand schrieb: Ach, hätte doch der Kant so schreiben können wie der Schopenhauer! Selbst, wo er für den Augenblick das sichere Gefühl hatte, gegen Kant oder Spinoza im Recht zu sein, zweifelte er nicht, daß ein späterer Tag ihm die Einsicht seines Irrtums bringen werde. Einstweilen war er überzeugt – und er blieb es auch später – daß der Monismus Spinozas kein Monismus sei; der Parallelismus von Bewegungs- und Bewußtseinsvorgängen war nur ein umschriebener Dualismus. Denn warum und wozu war diese Maschine »Mensch« so gebaut, daß ihr derselbe Vorgang als »Ausdehnung« und »Denken« erschien? Der Dualismus war in den Menschen verlegt – das war alles. Und Körper und Seele aus der Welt schaffen, indem man sie einfach als Attribute einer Substanz auffaßte – was war damit getan? Das Verfahren konnte man bei jedem unbequemen Gegensatze anwenden, und die »Substanz« war wie »das Ding an sich« ein Nichts, auf dem man alles machen konnte.

Sein Denken wurzelte fest im Empirischen, und so gern seine Seele ihr Haupt in transzendenten Lüften wiegte – ihren Boden wollte sie nicht ohne Not verlassen. So hatte er die Ideenlehre Platos wunderschön gefunden; aber sogleich hatte er sich gesagt: das ist Dichtung, ist Glaube, nicht Erkennen.

Gegen den strengen Gedanken von der Notwendigkeit alles Geschehens, dem der Mann sich unterwarf, lehnte der Jüngling sich auf. Sein die Arme reckender und streckender Wille verlangte nach Willensfreiheit, und doch schien ihm die transzendentale Willensfreiheit Kants nur eine Ausflucht. Gegen diesen Immanuel Kant, dessen Leben er mehr bewunderte als liebte, hatte er noch gar manches auf dem Herzen.

Da stand:

»daß alle unsere Erkenntnis mit der Erfahrung anfange, daran ist gar kein Zweifel; denn wodurch sollte das Erkenntnisvermögen sonst zur Ausübung erweckt werden, geschähe es nicht durch Gegenstände, die unsere Sinne affizieren . . .«

und an anderer Stelle hieß es:

»Daß es nun dergleichen notwendige und im strengsten Sinne allgemeine, mithin reine Urteile a priori im menschlichen Erkenntnis wirklich gebe, ist leicht zu zeigen . . .«

und wiederum:

»Von den Erkenntnissen a priori heißen aber diejenigen rein, denen gar nichts Empirisches beigemischt ist . . .«

War das nicht unreimbarer Widerspruch? Und wenn es dann gar hieß:

»So ist z. B. der Satz: eine jede Veränderung hat ihre Ursache, ein Satz a priori, allein nicht rein, weil Veränderung ein Begriff ist, der nur aus der Erfahrung gezogen werden kann«.

was sollte man dazu sagen? Der Begriff der Ursache war entweder genau so gut aus der Erfahrung gezogen wie der der Veränderung oder sie waren beide gleich »rein«. Unzweifelhaft hatten sie aber beide »empirische Beimischung«. Und was sollte es heißen, wenn nun Kant als ein Beispiel für »dergleichen notwendige und im strengsten Sinne allgemeine, mithin reine Urteile a priori« die Mathematik aufführte? Die Mathematik war doch menschlich konstruierte Realität, nicht von der Natur gegeben, wie Kant in der Einleitung an dem »ersten Demonstrator des gleichschenkligen Dreiecks« selbst zugegeben hatte. So waren die Sätze der Mathematik zwar allgemein und notwendig (daß das zweierlei sei, wollte Sempern auch nicht in den Sinn); aber sie waren auch für die Erkenntnis des Weltwesens vollkommen wertlos, wenn man sich nicht zu den Pythagoreern gesellte. Und was sollte man endlich gar dazu sagen, wenn Kant, ganz im Widerspruch zu dem Vorhergehenden, fortfuhr:

»will man ein Beispiel aus dem gemeinsten Verstandesgebrauche, so kann der Satz, daß alle Veränderung eine Ursache haben müsse, dazu dienen . . .«

und dann gegen Hume polemisierte, der diesen Satz

»von einer öfteren Beigesellung dessen, was geschieht, mit dem, was vorhergeht, und einer daraus entspringenden Gewohnheit, Vorstellungen zu verknüpfen, ableiten wollte.«

Asmus hielt es ganz entschieden mit Hume und war der Überzeugung, daß jedes Naturgesetz der empirischen Wissenschaften genau so »allgemein und notwendig, mithin rein a priori« oder genau so bloß komparativ allgemein und a posteriori sei wie der Satz von der Veränderung und ihrer Ursache.

Ach, schon diese Einteilung der Urteile in analytische und synthetische! Asmussens Bleistift wurde temperamentvoll und machte schwungvolle Fragezeichen und wuchtige Ausrufungszeichen! Warum sollte denn das Urteil »Alle Körper sind ausgedehnt« analytisch und dagegen das andere »Alle Körper sind schwer« synthetisch sein? Das Merkmal der Schwere war doch für den Körper genau so wesentlich wie das der Ausdehnung und war also genau so gut wie dieses im Begriff des Körpers schon gegeben! Wieso bedurfte es da der Synthese? Und gesetzt: man entdeckte ein wesentliches Merkmal eines Begriffes, das man bisher nicht gekannt hatte, so konnte man im Augenblick der Entdeckung allenfalls von einer »Synthese« sprechen und konnte das neue Urteil ein synthetisches nennen; aber sobald man wußte, daß das neue Merkmal zum Wesen des Begriffes gehöre, war es doch auch mit diesem Begriff gegeben, und das Urteil war so »analytisch« wie irgend ein anderes. O, wenn Asmus damals gewußt hätte, daß auch andere Leute, und zwar höchst gelehrte und gescheite Männer diese Unterscheidung für verworren und zwecklos hielten! So aber sagte er sich: »Daß Kant so unklar gedacht habe, ist ausgeschlossen; also tappe ich im Dunkeln, also ist mit dieser Unterscheidung noch etwas andres gemeint, das ich nicht verstehe« – und das setzte ihm zu mit harter Pein.

Und endlich dieses berühmte »Ding an sich«. Man könne es nicht erkennen, hieß es. Aber es »affizierte« uns durch Erscheinungen, stand also in Beziehung zu uns, machte uns Mitteilungen! Wozu machte es uns diese Mitteilungen? Nur um uns zu foppen? Dann war freilich alles Denken und Leben Unfug. Oder verrieten uns diese Mitteilungen, wie es jede Mitteilung tut, etwas vom Wesen des Mitteilenden? Doch wohl; Kant verwahrte sich ja auch selbst dagegen, daß man die »Erscheinung« als »Schein« verstehe. Warum nun affizierte uns das Ding an sich so, wie es uns affiziert, und nicht anders. Es mußte zu seinem Wesen gehören, uns so zu affizieren und nicht anders. Dann aber wußten wir etwas von seinem Wesen, und wenn wir etwas wußten, warum sollten wir dann nicht mehr wissen können? »Hier ist ein Wirbel«, sagte sich Asmus. Sein Bleistift fragte in aller Bescheidenheit: Was nötigt uns, hinter der »schönen grünen Weide« der Erscheinungen ein unerkennbares Ding an sich anzunehmen, und wer hat etwas von diesem Ding an sich? Die Beschränktheit menschlicher Erkenntnis leuchtet auch so ein. Daß wir nicht Zentrum der Welt sind, daß der Mensch, der kleine Fußsoldat, unmöglich den Plan kennen kann, nach dem der »Herr der Heerscharen« die Weltenschlacht schlagen läßt, – das wissen wir seit Kopernikus auch so. Also warum soll der Pfahl, an dem ich mir die Nase blutig stoße, durchaus Erscheinung und nicht Ding an sich sein? Und warum setzen wir diese Skepsis nicht ins Grenzenlose fort? Es setzte Sempern in großes Erstaunen, als er las:

»Was es für eine Bewandtnis mit den Gegenständen an sich . . . haben möge, bleibt uns gänzlich unbekannt. Wir kennen nichts als unsere Art, sie wahrzunehmen, die uns eigentümlich ist, die auch nicht notwendig jedem Wesen, obzwar jedem Menschen zukommen muß.«

Das »obzwar jedem Menschen« war es, was ihn in Staunen versetzte.

»Wirklich?« schrieb er an den Rand. »Könnte der Welturheber den Spaß dieses Sommernachtstraumes nicht noch weiter ausgedehnt haben und die Menschen Verschiedenes wahrnehmen lassen, wenn sie dasselbe nennen, und Verschiedenes nennen lassen, wenn sie dasselbe wahrnehmen?« Und er hatte eine herzliche Freude, als er später las, daß Fichte den kantischen Zweifel an der Dinglichkeit der Erscheinungswelt zu Ende geführt, das Ding an sich als widersinnig verworfen und erklärt habe: Außer mir gibt es nur Vorstellungen und sonst nichts. Mit einem wunderschön weichen, tiefschwarzen Bleistift schrieb Asmus in Riesenbuchstaben dazu:

» Gott sei Dank!! Das ist wenigstens konsequent!!«


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