Sagen aus Bayern
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Die blinde Jungfrau

Heut hat sich die blinde Jungfrau sehen lassen«, oder auch: »Heut hat sich die blinde Gerechtigkeit wieder sehen lassen«, hört man oft sagen. »Ist denn wieder das Buch herabgefallen?« fragt man dann, und die Antwort ist: »Es muß wohl so sein.« Die Geschichte ist folgende: Am alten Dom zu Bamberg, bei dem Prachttor, oben steht eine Jungfrau von Sandstein ausgehauen. In ihrer Rechten hält sie einen Stab, der ist zerbrochen, in ihrer linken Hand zehn Ziegel. Ihre steinernen Augen aber sind verbunden mit einem Tuche, wie's der Weber macht. Die Figur aber stellt eine Jungfrau vor, die einst öffentlicher Unzucht angeklagt und als schuldig erkannt wurde. Vergebens beteuerte sie ihre Unschuld; wohl mehr als zehnmal fiel sie nieder auf die Knie, rief Pfaff und Laie an, sie doch nicht schmachvoll sterben zu lassen durch Henkerhand; vergebens, man riß sie auf, und schleppte sie halbtot weiter. Als sie an den Dom gekommen war und zum alten Schloß, raffte sie sich noch mal auf, und rief, die Blicke gen Himmel: »Der Mensch hat kein Erbarmen mit meiner Unschuld, ihr Ziegel auf dem Dache habt's noch eher, so erbarmt ihr euch! « kaum hatte sie das gesprochen, fielen zehn Ziegel vom Dache und schlugen sie tot. Volk und Richter nahmen es als ein Himmelszeichen, und der Jungfrau Bildnis prangt an dem Orte, wo das Wunder geschehen ist. Der Bildhauer, der die Augenbinde vergaß, die das blinde Urteil sollte bedeuten, verband die Augen mit einem rechten Tuche, und so oft es durch das Wetter zu faulen anfängt, geht die Jungfrau wandeln. Um Mitternacht schwebt sie auf dem Domberg auf und nieder, und die Wachtposten haben nicht den Mut, sie anzurufen; sie schwebt dann weiter, und pocht an alle Domherrnwohnungen, jede Nacht es wiederholend, bis ihre Augen ein frisches Tuch bedeckt.

 


 


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