Sagen aus Bayern
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Das hohe Kreuz von Hessenthal

Oberhalb der Kapelle zu Hessenthal stand ein kleines Haus. Darin wohnte eine betagte Frau, die Witwe war und kinderlos. Sie hatte ihr gutes Auskommen, gab sich aber nie zufrieden und trachtete nur, immer mehr zu erwerben. Sie gönnte weder sich, noch einem andern etwas, gab keinem Armen ein Almosen und schaffte vom Morgen bis zum Abend, an Werk- und Feiertagen, nur um des leidigen Geldes willen. Denn das war ihr Gott, um den im Himmel kümmerte sie sich wenig, und kam nur höchst selten in die Kirche, die doch nur drei Schritte von ihrer Wohnung lag. Schon oft hatte sie der kleinen Gemeinde durch ihr Schaffen während des Gottesdienstes Ärgernis gegeben, schon oft war sie gemahnt worden, wenigstens die Andacht anderer nicht zu stören, aber vergebens.

Am Samstag vor Pfingsten tief in der Nacht war sie mit dem Flachsspinnen fertiggeworden. Sie war am darauf folgenden Tage noch so müde, daß sie ausruhen mußte, allein am Pfingstmontag schürte sie den Kessel und begann, ihr Garn zu kochen. Eine Nachbarsfrau ging vorüber zur Kirche und sah durch die offene Haustüre das Feuer unter dem Kessel und das Sieden des Garnes. Sie rief der Frau zu: »Ei, Nachbarin, wißt Ihr denn nicht, daß heute Pfingstmontag ist und schämt Ihr Euch denn nicht vor den Leuten? Gleich wird die Wallfahrt zum Herrnbilde abgehen: was werden die Leute dazu sagen, wenn Ihr da steht und Garn kocht, statt daß Ihr andächtig, wie andre, sein solltet?« »Was kümmert mich«, sprach die Frau, »Euer Pfingstmontag und Eure Wallfahrt! Wallfahrten mag gehen, wer nichts Besseres zu tun weiß; ich sage: Pfingstmontag hin, Pfingstmontag her, heute muß mein Garn gekocht sein.«

Als die Prozession von dem Herrnbilde zurückkam, war das Häuschen der Frau mit allem, was es enthielt, in die Erde versunken; nur ein tiefer Schlund war sichtbar und in der Tiefe hörte man das Strudeln des kochenden Wassers.

Lange Zeit war die Öffnung unbedeckt; später ward eine Mauer darüber errichtet und drei steinerne Kruzifixe mit den Bildsäulen der heiligen Mutter Gottes und des heiligen Johannes darauf gestellt. In der Mauer blieb eine viereckige Nische, die keine Öffnung nach innen hat; man hört aber daraus immer noch das Kochen des Wassers, am deutlichsten am Pfingstmontag.

 


 


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