Christoph Martin Wieland
Geschichte des Weisen Danischmend und der drei Kalender
Christoph Martin Wieland

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27. Kapitel

Beantwortung einer Frage, die dem Leser beigefallen sein könnte

Ehe wir in dieser Geschichte weiter fortrücken, dürfte es wohl nicht überflüssig sein, einen Zweifel zu heben, der in aufmerksamen Lesern gegen die innere Wahrheit derselben entstanden sein könnte.

Der Kalender war so wenig, was man im achten Zehend dieses Jahrhunderts einen empfindsamen Mann nannte, und paßte also (von dieser Seite wenigstens) so übel in die Danischmendische Familie, daß man sich vielleicht schon lange verwundert haben wird, wie er eine so geraume Zeit auf einem leidlichen Fuße mit diesen guten Menschen habe stehen können, unter denen er (sollte man denken) gerade so eine Figur machte, wie ein Gespenst unter lebendigen Menschen.

Allein der Mann hatte auf der andern Seite verschiedene Eigenschaften, die jenen Mangel an Sympathie vergüteten; und schon am dritten Abend seit seiner Einführung in dieses Haus fand er Gelegenheit, sich bei Perisadeh in eine bessere Meinung zu setzen, da sie ihn unversehens mit ihren Kindern in einer Gartenlaube spielend fand. Er hatte das kleinste auf seinem Schoße, während er von allerlei Blumen, die ihm die beiden größern in die Wette herbei brachten, einen Kranz zusammen band, den die Kinder ihrer Mutter zum Geschenke bringen sollten. Perisadeh lauschte eine Weile hinter den Hecken und sah ihre Freude an den frohen Spielen ihrer Kinder, und an der guten Art, wie der alte Kalender sich ihnen angenehm zu machen wußte. Die Geduld, womit er sich von dem kleinen Mädchen auf seinem Schoß alle Augenblicke in der Arbeit stören ließ, gewann ihr auf einmal das Herz. »Danischmend hat doch recht«, dachte sie: »der Mann ist nicht so schlimm als er aussieht; könnt er meine Kinder so lieb haben, wenn er kein gutes Herz hätte?«

Perisadeh – wenn sie nicht Perisadeh gewesen wäre – hätte eben so wohl denken können: wie liebenswürdig müssen meine Kinder sein, weil sogar das Bärenherz dieses alten Kalenders davon erweicht wird! – Und so wäre alles Verdienstliche von dieser Handlung des Kalenders auf einmal weggefallen.

Aber Perisadeh hatte keinen Begriff davon, daß man so denken könne. Jede Handlung eines andern Menschen, welche gut zu sein schien, war es in ihren Augen. Nicht als ob sie zu einfältig gewesen wäre, den Unterschied zwischen scheinen und sein in dem sittlichen Betragen anderer Menschen kennen zu lernen: sondern weil sie selbst alle Tage ihres Lebens immer von außen gewesen war wie von innen, und nie daran gedacht hatte, länger oder kürzer, weißer oder röter, klüger oder besser zu scheinen, als sie wirklich war, und weil sie nie mit andern als eben so ungekünstelten Menschen wie sie selbst gelebt hatte. Mit Einem Worte, der Grund, warum Perisadeh alles gut auslegte was einer guten Auslegung fähig war, war der nämliche, warum unter uns verkünstelten Aftermenschen die meisten alles übel auslegen, was nur irgend einer schlimmen Auslegung fähig ist.

Nun ist wahr, Perisadeh betrog sich dieses Mal ein wenig durch ihre Art zu schließen, so wie auch wir uns dann und wann betrügen, wenn wir so gar nicht begreifen noch glauben können, daß es wirklich edle und gute Menschen gebe. Aber, da die Gefahr betrogen zu werden bei beiderlei Arten zu schließen gleich ist, so mag doch wohl – unparteiisch von der Sache zu reden – die Art, wie Perisadeh sich dann und wann betrog, ihrem Herzen mehr Ehre machen, als die Art, wie wir uns dann und wann betrügen, unseren Kopfe macht. Denn es gehört eben kein sehr großer Verstand dazu, um von sich selbst auf andere zu schließen; aber ganz gewiß gehört ein sehr gutes Herz dazu, um von andern immer das Beste zu denken.

Wenn Sie die Gütigkeit haben wollen, dies noch einmal zu lesen, so werden Sie finden, daß es keine Antithese, sondern eine platte Wahrheit ist, und gewiß das Geld zwanzigmal wert, das es Ihnen kostet, wofern Sie selbige nicht ungebraucht in Ihrem Hirnkasten verschimmeln lassen wollten.

Ausnahmen gebe ich Ihnen übrigens willig zu. Denn, daß ich von dem Manne, der mir von hintenzu einen Dolch in den Leib stößt, um desto bequemer an meine Ehre oder an meinen Beutel zu kommen, das Beste denken sollte, das möcht ich, auch in der höchsten Flut meiner Gutherzigkeit, mir selbst nicht zumuten, geschweige denn einem andern!Dies muß wohl ein so genanntes Hysteron proteron sein? Denn wo hat jemals ein Mensch sich ein Bedenken daraus gemacht andern Leuten mehr zuzumuten als sich selbst?

Didius

Ich sagte vorhin, Perisadeh hätte sich dieses Mal ein wenig betrogen; denn in der Tat lag die wahre Ursache, warum der Kalender so freundlich mit ihren Kindern war, nicht darin, weil er ein besseres Herz hatte als sie ihm bisher zugetrauet. Leute von seiner Art, die in der Welt herum ziehen und auf anderer Unkosten leben, befinden sich oft in dem Falle, in einem Hause, wo sie ihre Mahlzeit oder ihr Nachtquartier nehmen, sich dadurch beliebt zu machen, daß sie den Kindern im Hause liebkosen; und so ziehen sie sich endlich durch die Länge der Zeit eine mechanische Fertigkeit zu, mit Kindern zu spielen, ohne daß ihr Herz darum weder schlimmer noch besser ist als sonst.

Außer diesem hatte der Kalender noch einen besondern Grund, warum er gern mit Kindern spielte. Er dachte nämlich (wie wir schon wissen) so übel von den Menschen, als man von ihnen denken kann: er hielt sie – um es gerade heraus zu sagen – für ein Pack Dummköpfe, Narren, Schurken und Spitzbuben; und (was das ärgste war) er glaubte, daß sie dies nicht etwann durch zufällige Verderbnis, sondern durch Schuld der Natur seien; auf die nämliche Art, wie die Natur ganz allein schuld daran hat, daß die Wölfe in Frankreich so gern junge Mädchen fressen.In der Tat ist dies nicht halb so wunderbar, als daß die Franzosen, mit allem ihrem Witz nicht schon längst auf ein Mittel gekommen sind, die Wölfe in ihrem Lande auszurotten. Es ist in der Tat unbegreiflich, wie eine so geistreiche Nation sich nicht schämt, vor den Augen der ganzen ehrbaren Welt ihre armen Bauerkinder von Wölfen fressen zu lassen. Sie mögen freilich ihre politischen Ursachen dazu haben: aber wenigstens sollten sie bei Galeerenstrafe verbieten, daß solche Begebenheiten nicht außer Landes geschrieben, oder wohl gar in den Mercure de France gesetzt würden. Sie täten's gewiß, wenn sie wüßten, wie man sich in ganz Europa über sie mokiert.Diese Note des Herrn M. Skriblerus bezieht sich auf die im Jahre 1775 so berüchtigte Bête de Gevaudan, die, nachdem man sie unter dem Namen einer Hyäne eine lange Zeit eine Menge Mädchen und Kinder hatte fressen lassen, endlich als eine Wölfin befunden, und ich weiß nicht mehr von welchem gallischen Herkules zu großem Triumph der ganzen Nation erlegt wurde.

Matt. Skriblerus

Dies war nun einmal sein System; und wer die Menschen kennt, weiß, daß ein Mann lieber alles was er hat, und das Hemd auf dem Leibe oben drein, fahren läßt, und nackend und bloß mit seinem System davon läuft, eh er um die ganze Welt zu gewinnen sein System fahren ließe.

Aus dieser unaussprechlichen Liebe eines Mannes zu seinem System folgt nun natürlich, daß ihm nichts angenehmer ist, als alles was ihm Gelegenheit darbietet, sich immer mehr und mehr in der Gewißheit desselben zu bestärken, und neue Gründe zu Bestreitung seiner Gegner ausfindig zu machen. Daher, liebe Perisadeh, das besondere Vergnügen, das der alte Kalender daran fand, mit deinen Kindern zu spielen! Du glaubtest, du treuherzige gute Seele du! daß es aus Menschlichkeit, aus Güte des Herzens geschehe; und der alte kaltherzige Menschenhasser tat es, um sein Schalksauge an der Blöße der menschlichen Natur zu weiden; in den schuldlosen Trieben und unverstellten Handlungen der armen kleinen Geschöpfe die Keime künftiger Untugenden und Laster aufzusuchen; alles, was darin zweideutig scheinen konnte, aufs schlimmste auszulegen; seine Freude daran zu haben, wenn er an den Lieblingen deines Herzens etwas fand, das ihn hoffen ließ, daß sie dereinst so große Narren oder so häßliche Schurken, als die Menschen alle in seinem System waren, sein würden. Hättest du in dem nämlichen Augenblicke, da deine schönen Blicke mit dankbarer Freude und herzlichem Wohlwollen auf seine halb kahle Scheitel spielten, dem alten Schalk in die Seele sehen können, gute Perisadeh! –

In der Tat, Momus war nicht klug mit seinem Fenster vors menschliche Herz! Die besten Menschen würden gerade am schlimmsten dabei gefahren sein.Es gibt zwei Gattungen Leser, um derentwillen ein Satz wie dieser eine Entwicklung vonnöten hat. Die einen sind die Armen am Geiste, oder (wie man sie gewöhnlich zu nennen pflegt) die Einfältigen, die mit aller Bedächtlichkeit, Zeit und Weile, womit sie ein Buch von einer gewissen Art lesen, doch selten so glücklich sind zu verstehen was sie lesen. Die andern haben an Lebhaftigkeit zu viel, was die ersten an Verstand zu wenig haben. Sie können sich unmöglich die Zeit nehmen, einer Stelle, deren Sinn ihnen nicht beim ersten Anblick in die Augen springt, ein wenig nachzudenken, und einige Aufmerksamkeit auf Beantwortung der so natürlichen Frage, was liesest du? zu wenden. Diesen beiden Gattungen – die sich gegen die ganze Summe der Leser ungefähr wie neunundzwanzig zu dreißig verhalten mögen, und also von Seiten eines Kommentators alle gebührende Achtung verdienen – zum besten, kann ich nicht umhin, diesen Ausspruch von seiner anscheinenden Paradoxie zu befreien. Der Autor will vermutlich damit so viel sagen: Die schlimmen Menschen denken ohnehin Arges in ihrem Herzen von allen andern; denn keiner von ihnen hält andere Leute für besser als sich selbst: und da keine Krähe der andern die Augen aushackt, so wagen die Bösen nichts dabei, wenn sie einander über der Tat ertappen; denn sie haben ein augenscheinliches Interesse, säuberlich mit einander zu verfahren. Die besten Menschen hingegen denken, so lang es nur immer möglich ist, von jedermann Gutes; und hierin besteht ein so großer Teil ihrer Glückseligkeit, daß sie notwendig sehr unglücklich werden müßten, wenn ein Fenster vor der Brust der Leute sie auf einmal aus dem angenehmen Irrtum in die traurige Gewißheit versetzte, von so viel falschen und bösen Geschöpfen umgeben zu sein. Es ist also klar, daß die Besten am meisten dabei verloren hätten, wenn Momus mit seinem vorbesagten Vorschlage, den Menschen ein Fenster vor die Brust zu setzen, durchgedrungen wäre.

M. Skriblerus

Perisadeh also – um von allen diesen Abschweifungen (wiewohl sie im Grunde etwas Besseres sind als sie scheinen) zurück zu kommen – dachte von diesem nämlichen Abend an, wo sie den Kalender unter ihren Kindern in einem so angenehmen Lichte – die Abenddämmerung trug das ihrige auch dazu bei – gesehen hatte, Perisadeh, sage ich, dachte von diesem Augenblick an so vorteilhaft von dem alten Manne, daß sie, weit entfernt seinen längern Aufenthalt in ihrem Hause ungern zu sehen, sich selbst heimliche Vorwürfe wegen der bösen Meinung machte, die sie anfangs von ihm gehegt hatte.

Danischmend, wiewohl er (aus guten Ursachen) dem Herzen seines neuen Freundes nicht viel Gutes zutraute, sah es doch gern, daß Perisadeh günstiger von ihm zu denken anfing; denn die Unterhaltung, die er in seinem Umgange fand, wurde für ihn unvermerkt zum Bedürfnis. Er hatte der Welt nicht so gänzlich entsagt, daß die menschlichen Angelegenheiten und was er ehemals davon erfahren oder beobachtet hatte, nicht noch immer der gewöhnliche Gegenstand seiner Gedanken gewesen wären. Nun spricht man gerne von dem, was man denkt; aber natürlicher Weise wünscht man sich Zuhörer, die uns nicht nur ohne Mühe verstehen, sondern auch von dem Ihrigen etwas zur Unterredung beizutragen haben, und dem Gespräche Mannigfaltigkeit, Schattierung und Leben zu geben wissen.

Der Kalender war unter allen Menschen, die ihm seitdem er in Jemal lebte vorgekommen waren, der einzige der ihm zu diesem Gebrauch dienen konnte. Die Verschiedenheit ihrer Art zu denken war hierzu mehr vorteilhaft als nachteilig; denn unter Leuten, die über alles einerlei Meinung sind, findet gar kein Dialog Statt; einer spricht allein, oder sie schweigen alle beide. Das Herz des Kalenders kam dabei in gar keine Betrachtung; genug daß er für einen Kalender ziemlich anständige Sitten hatte, und daß sein Betragen im Hause unanstößig war. Bei so bewandten Dingen entstand natürlicher Weise eine Art von Verbindung zwischen ihnen, die sich weniger auf Sympathie als auf gegenseitigem Bedürfnis gründete, und, ohne die Schwärmerei der Freundschaft zu haben, ihren vertraulichen Ton und einen großen Teil ihrer Annehmlichkeiten hatte.

Der Kalender wurde also ein Haus- und Tischgenosse unsers Philosophen, und hatte alle Ursache von der Welt, in dieser neuen Lage (die das Beste, was er seinen Umständen nach hoffen konnte, so weit übertraf) sich glücklich zu schätzen. In der Tat würde er mit einem wärmern Herzen einer der glücklichsten Sterblichen gewesen sein. Aber die Natur hatte ihm die Fähigkeit in andern glücklich zu sein versagt. Er war einer von den kaltblütigen Erdensöhnen, die es zwar, in so fern ihnen nichts darunter abgeht, ganz wohl leiden mögen, wenn andere Leute nach ihrer eignen Weise glücklich sind; aber mit Seelenruhe zusehen würden, wenn der Himmel einfiele, und alles rings um sie her zu Boden schlüge und zertrümmerte, in so fern nur sie selbst Mittel fänden unverletzt davon zu kommen.


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