Christoph Martin Wieland
Geschichte des Weisen Danischmend und der drei Kalender
Christoph Martin Wieland

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12. Kapitel

Fortsetzung der Geschichte des ersten Kalenders

»Bei allem dem was du gestern zu Gunsten deines Standes vorgebracht«, – sagte Danischmend zu seinem Gaste, indem sie früh morgens auf dem Wege zur Grotte spazieren gingen, – »wundert's mich doch, wie ein Mann wie du dazu gekommen ist ein Kalender zu werden.«

»Ein Mann wie ich damals war da ich's wurde«, versetzte der Kalender, »hat wenig Hoffnung oder Gelegenheit jemals etwas besseres zu werden. Alle Menschen – wenige außerordentliche Genien vielleicht ausgenommenDer Kalender hat wohl getan, »vielleicht« zu sagen. Denn wenn man genau nachsieht, wird sich allemal finden, daß auch die außerordentlichen Genien ohne gewisse besondere Umstände, die ihnen gerade diese und keine andre Bildung, Spannung und Richtung gaben, das was sie waren nicht geworden wären.

Helvetius

Hieran ist etwas wahr. Hindernde oder begünstigende Umstände müssen freilich immer mitwirken, wenn aus einem Menschensohn ein Alexander oder Annibal, ein Homer oder Lykurg, ein Sokrates oder Phidias, ein Hippokrates oder Archimedes werden soll. Aber es ist auch wahr – und alle Induktionen und Sophismen, welche Helvetius dagegen aufhäuft, vermögen nichts gegen ein durch die allgemeine Erfahrung so sehr bestätigtes Faktum – daß man zum Alexander, Annibal, Homer, Lykurg, Sokrates, Phidias, Hippokrates und Archimedes geboren wird, und daß die Geister von dieser Klasse ihren eigenen Weg auch durch den dicksten Wald von Hindernissen hindurch zu brechen wissen. Sie gleichen einem Eichensprößling, der mittelst Erde, Wasser, Luft und Feuer, zur Eiche heran wächst, aber auch nicht weniger ein Eichbaum wird, wenn sich gleich Mehltau und Baumwanzen, Ratten und Maulwürfe, Ziegen und Rinder mit allen vorbesagten Elementen gegen ihn verschwören. Die gewöhnlichen Menschen hingegen sind wie ein Stück Holz, Ton oder Marmor in der Hand der Kunst, woraus, je nachdem man es schneidet, hobelt, drückt und behaut, ein Schemel oder ein Priap, eine Schüssel oder ein Nachttopf, ein Apollo oder ein Silenus wird. Kurz, der Mann von Genie ist ein Werk der Natur, das seine Form und wirkenden Kräfte in sich selbst hat. Die übrigen sind alles, was Zeit und Umstände, Gewohnheit und Bedürfnis, Spitzbuben und Narren, Tyrannen und Bonzen aus ihnen machen wollen.

Dübos

Ich halte gar nichts von allen diesen Philosophen, und von diesem Unterschied zwischen Genien und gewöhnlichen Menschen. Es steht kein Wort davon in meinem Quenstädt. Wir sind alle arme Sünder, und wenn wir nicht umkehren und werden wie die Kindlein, so kommt am Ende Meister Hämmerling, und holt die Genien so gut wie die gemeinen Leute.

Der Pfarrer zu ****

Hierin hat der Herr Pfarrer recht.

J. C. H.

– werden durch die Umstände was sie sind. Was mich wenigstens betrifft, ich bin sehr überzeugt, daß ich das Beste was an mir ist meiner Kalenderschaft zu danken habe; und auch du würdest es so finden, wenn ich dir erzählte, wie ich dazu gekommen bin.«

»Ich wollte daß ich alle Tage jemanden hätte, der mir erzählte wie er dazu gekommen ist, der Mann zu werden der er ist«, sagte Danischmend: »ich kenne nichts Lehrreicheres.«

»Meiner Mutter Mann, Herr Danischmend, war in einer kleinen Stadt in Kandahar was man einen Schuhflicker nennt, wiewohl er auch in dieser Kunst sich keinen besondern Ruhm erworben hatte.

In der Tat war dies an seinem Orte nichts so Leichtes: Denn, vermöge der Polizeiverfassung meiner lieben Vaterstadt, zählte man vierzig bis funfzig Schuhflicker daselbst, welche, unter zwölfhundert beschuhte Einwohner dividiert, unmöglich so viel Schuhe zu flicken haben konnten, daß sie Salz und Kümmel damit verdient hätten; zumal, da sich unglücklicher Weise zu so vielen Schuhflickern kein einziger Schuster im Orte befand, daß also alle Leute, die es nur einiger Maßen möglich machen konnten, barfuß gingen.

Nun weiß ich nicht, wie der Schuhflicker, mein Vater, dazu kam, daß er eine hübsche Frau hatte: genug, er hatte sie, und (was er in seinen Umständen für ein großes Glück ansah) noch oben drein einen Freund, oder vielmehr einen Gönner und Beschützer, in dem Vorsteher einer Derwischerei, deren Gartenende an die Hintertür unsers kleinen Hauses stieß.

Es gibt gutherzige Leute, die es für ungereimt halten, einen Mann, der allen Evatöchtern zu Trotz ein Gelübde getan hat, kein Mann zu sein, mit einer menschlichen Schwachheit im Verdacht zu haben. Es gibt aber auch boshaftes argwöhnisches Volk, vor deren Afterreden ein Derwisch selbst nicht sicher ist, wenn er sich herab läßt der Freund eines alten Schuhflickers zu sein, der eine hübsche Frau hat.

Mein Vater war von der ersten Klasse, der Rest unsrer ganzen Stadt von der zweiten.

Aber der Derwisch ließ sich dadurch in seinen wohltätigen Gesinnungen gegen uns nicht irre machen; und es würde undankbar von mir sein, nicht zu gestehen, daß ich ihm und der Schönheit meiner Mutter, wo nicht mein Dasein, doch gewiß meine Erhaltung ganz allein schuldig bin.

Meine Kindheit brachte ich, Dank sei dem guten Derwischen! so glücklich hin, als man in diesem Alter ist, wenn man an Äpfeln, Nüssen, Kastanien und Kuchen keinen Mangel hat, und ohne Zwang und Beschäftigung in seiner natürlichen Wildheit herum laufen darf.

Als ich heran zu wachsen anfing, wollte der Schuhflicker, mein Vater, mich zu seiner Kunst anführen. Aber da ich nicht das geringste GenieDer Autor gebraucht hier das Wort Genie vermutlich ironice. Denn zur Schuhflickerei braucht es doch wohl kein sonderliches Ingenium.

Der Schulmeister von Abdera

dazu verriet, und überhaupt einen unheilbaren natürlichen Abscheu vor aller Arbeit zeigte: schlug unser Beschützer endlich vor, mich in seinen eignen Orden aufzunehmen.

Er malte mir die Pflichten desselben sehr leicht und angenehm vor: es war weiter nichts als – meinem bißchen Menschenverstand, meiner Freiheit, und noch einer solchen Kleinigkeit zu entsagen, deren Bestimmung ich damals nicht besser als den Wert der beiden erstern kannte. Das übrige, sagte er, wären mechanische Fertigkeiten, zu deren Erwerbung nichts als ein wenig Zeit und Übung erfordert würde.

Ich ließ mir alles gefallen, oder vielmehr ich sah in dem Stande der Derwischen nichts als seligen Müßiggang und Essens und Trinkens die Fülle, d. i. alles, was nach meinem damaligen Begriffe das höchste Gut ausmachte.

Aber nach etlichen Jahren fand sich, daß mir die Natur einige Triebe und Gaben zugeteilt hatte, die mit den Pflichten meines Derwischenrockes unverträglich waren. Ich bediente mich mit der größten Freiheit meiner Zunge, über die Aufführung meiner Vorgesetzten und Brüder zu urteilen; auch fühlte ich einen unwiderstehlichen Trieb in mir, mit allen Schuhflickern unsers Ortes, welche leidliche Weiber hatten, Bekanntschaft zu machen. Weil ich noch zu jung war um vorsichtig zu sein, so trieb ich's so arg, daß endlich die Ehre der Derwischerei die Zärtlichkeit überwältigte, welche Natur oder Gewohnheit dem Vorsteher für mich eingeflößt hatte. Er beraubte mich aller Freiheit, legte mir häufige Fasten auf, und da dies noch nicht helfen wollte, verordnete er mir gewisse periodische Geißelungen, die, seinem Vorgeben nach, ein herrliches Mittel gegen die Anfechtungen von Schuhflickersweibern sein sollten.

Ich zweifle sehr daß der gute Derwisch dies aus eigner Erfahrung wußte. Mir wenigstens schien's, als ob seine Arznei das Übel nur vermehre; und da sie überdem so unangenehm zu nehmen war, so fand ich für gut an einem schönen Morgen aus der Derwischerei zu entweichen, und mich der Natur und meinem Schicksal auf Geratewohl zu überlassen.

Ich trieb lange ohne Mast und Segel in der Welt umher, und brachte mein Leben kümmerlich davon, indem ich alle Arten von Professionen, die man nicht zu lernen braucht, versuchte. Bald zog ich als Troßjunge mit einer Karawane, bald machte ich den Wasserträger, bald den Eseltreiber, bald – gegen die Gebühr – den Esel selbst.Man kann sich nicht erwehren, hierbei an eine gewisse Anekdote in Lucians Lucius oder Esel schlechtweg (welche Apulejus auch seinem goldnen Esel einverleibet hat) zu denken. Die Historie ist keine von den erbaulichsten; aber was muß unser einer nicht lesen?

M. Onocephalus

Bei allem diesem regte sich etwas in mir, das durch die Verächtlichkeit der Rollen, die ich in diesem irrenden Zustande spielte, beleidiget wurde. Aber was für Auswege standen mir offen? Endlich schien mir der Stand eines Kalenders in meiner Lage der einzige zu sein, der in meiner Gewalt war, und durch den ich mich in etwas für gebessert halten konnte. Denn, wiewohl er in den Augen der Welt keiner von den ehrsamsten ist, so war er's (wenigstens in der Meinung des Pöbels) unendliche Mal mehr, als der Stand eines Wasserträgers oder Eseltreibers. Überdies vertrug er sich vollkommen mit meiner Neigung zum Herumschwärmen, und Erfahrungen über die verschiednen Denkarten und Leidenschaften der Menschen zu machen.

Ich nahm also den Habit eines Kalenders, gesellte mich zu einigen irrenden Rittern dieses Ordens, die ich für geschickt ansah mich in die Geheimnisse desselben einzuführen, und durchwandre nun bereits über dreißig Jahre lang, bald in Gesellschaft, bald allein, die meisten Provinzen in Asien.

Ich würde nie fertig werden, wenn ich dir alle Abenteuer erzählen sollte, die mir während dieser langen Wanderschaft aufgestoßen sind. In der Tat, es wäre bloß meine Schuld, wenn ich die Menschen nicht kennen gelernt hätte: und wenn mir auch diese Kenntnis zu nichts hälfe, als mich durch und durch zu überzeugen, daß es nicht der Mühe wert ist, in dieser Trödelwelt etwas andres als ein Kalender zu sein; so wär es genug, um mich's nie gereuen zu lassen, daß ich diese Lebensart ergriffen habe.«


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