Christoph Martin Wieland
Geschichte des Weisen Danischmend und der drei Kalender
Christoph Martin Wieland

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18. Kapitel

Schutzrede für die Menschheit

»Und nun, mein guter Kalender, nachdem wir diesen abscheulichen Auszug der Geschichte der Sultane durchlaufen haben, können wir uns noch wundern, wie es zugegangen, daß wir die Menschen – die im Genuß der Freiheit, und in einem Wohlstande, der die Frucht ihrer Arbeit und Begnügsamkeit ist, gut, liebenswürdig und glücklich sind – durch Unterdrückung und Elend so übel zugerichtet sehen, daß man Mühe hat, an dem zerkratzten, verstümmelten, zerdrückten Rumpfe die Spuren seiner ursprünglichen Form zu erkennen?

Du machtest ihnen einen Vorwurf daraus, daß sie so wenig Vernunft haben. Sieh und fühle nun die ganze Unbilligkeit dieses Vorwurfs!

Als sie in die Welt kamen, waren sie Kinder. Sie mußten lange wachsen, viel Erfahrungen sammeln, lange beobachten und vergleichen, sich alle Augenblicke irren, und erst durch die schädlichen Folgen des Irrtums gewahr werden daß sie auf dem unrechten Wege seien, – bis es möglich war Vernunft zu haben; zumal da die Sorge für die notwendigsten Bedürfnisse ihnen nicht erlaubte schnelle Schritte zu machen.

Indessen rückten sie doch vorwärts, lernten die Natur benutzen, erfanden Künste, bauten und pflanzten, verschafften sich Bequemlichkeiten, lebten in große Familien verteilt glücklich, und wurden ihres Daseins froh.

Aber was geschah? Der erste, der den verruchten Gedanken hatte, lieber ein Herr unter Sklaven als ein Mensch unter Menschen zu sein, zerstörte nicht nur auf einmal das Werk der Natur, sondern stieß auch so schwere Riegel vor den Kerker in den er sie sperrte, daß ihr alle Möglichkeit sich los zu machen und ihren bestimmten Lauf fortzusetzen benommen war. Was half ihr nun jenes angeborne mechanische Streben zum Fortschreiten und Emporsteigen, das die menschliche Gattung so wesentlich von allen tierischen unterscheidet? Ein Sklave, eben darum weil er nicht emporstreben darf, hört endlich auf Mensch zu sein, und wird zum bloßen Tier erniedrigt. Empört sich auch zuweilen die Vernunft in ihm, so hält der Sultan Stock und Geißel, Strick, Schwert und Pfahl bereit, ihn dafür zu bestrafen. Denn wo ein Sultan den Meister spielt, ist Denken ein Verbrechen. Aber die Tyrannen haben schon dafür gesorgt, daß die unnatürlichsten Verbrechen unter ihrer Herrschaft weniger selten sind als dies. Wie könnt ein von knechtischer Arbeit zu Boden gedrückter Sklave, über dessen Rücken stets die Geißel schwebt, Zeit oder Mut zum Denken gewinnen? Und könnt er auch, wozu hälf es ihm, als sein Elend zu vergrößern, da er seine Gedanken und Anschläge niemanden mitteilen darf? Was vermag ein einzelner Mensch?

Es ist wahr, unter so vielen Millionen Sklaven gibt es Tausende, die, als kleinere Sultane, als Gehülfen der Unterdrückung, als Günstlinge, oder als notwendige Werkzeuge der Üppigkeit, auf die eine oder andre Weise ihr Glück machen, und zu Ansehen, Macht und Reichtümern gelangen. Aber dieses Glück ist vielleicht nur ein Augenblick: man muß ihn eilends haschen, genießen, hinunter schlingen; das Gegenwärtige ist alles, wo keine Sicherheit für die Zukunft ist. Die Furcht tut also bei den Großen und Reichen die nämliche Wirkung wie bei dem niedrigsten Sklaven. Dieser kann nicht denken wenn er auch wollte, jene wollen nicht wenn sie auch könnten.

Du siehst, Freund Kalender, wie unbillig es ist, den Menschen, unter solchen Umständen, den Mangel an Vernunft vorzurücken. – Sollt es mit dem Mangel an Tugend nicht gleiche Bewandtnis haben? Ich bitte dich, was hat die Tugend mit Sultanen und Sklaven zu tun?Danischmend muß wohl nichts vom Epiktet gehört haben, dem weisen und tugendhaften Epiktet, der ein Sklave war, noch von dem weisen und tugendhaften Kaiser Markus Aurelius, der –

Onocephalus

kein Sultan war, Herr Onocephalus! Ein Zusammenfluß besonderer Umstände, welche sehr selten zusammen treffen, macht zuweilen eine Ausnahme; aber die Ausnahmen selbst bestätigen den allgemeinen Satz, von welchem sie Ausnahmen sind oder scheinen.

J. C. H.

Nenne mir, außer der Geduld, – die in gewissen Fällen keine Tugend ist – eine einzige, die in den Augen eines Sultans nicht Verbrechen wäre,In den Augen des Sultans Domitian zu Rom war es ein großes Verbrechen, daß Epiktet nicht nur selbst tugendhaft war, sondern auch andre Leute dazu machen wollte. Er ließ also den gefährlichen Mann des Landes verweisen; und wenn man die Sache recht bedenkt, so findet man noch Ursache, die Gelindigkeit des Sultans zu bewundern.

Algernon Sidney

eine einzige, die er dulden könnte, ohne seine Sultanschaft in Gefahr zu setzen! Aber er kann von dieser Seite ruhig sein. Sklaven sind keiner Tugend fähig. Tugend ist Mut immer nach den ewigen Gesetzen der Vernunft zu handeln, und Sklaven haben weder Mut noch Vernunft.

Die Sultane, die Sultane! – Gott verzeihe ihnen alles Unrecht das sie der Menschheit angetan haben; Ich kann's nicht!

Indessen sind sie weder die einzigen noch die tätigsten Urheber der Übel, die uns zu Boden drücken.«


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