Christoph Martin Wieland
Geschichte des Weisen Danischmend und der drei Kalender
Christoph Martin Wieland

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

10. Kapitel

Schutzrede des Kalenders für seinen Stand

Perisadeh sah bei einigen Stellen der Erzählung des Kalenders bald auf ihren Mann bald auf den Erzähler, mit Augen, in deren eigentümlicher Heiterkeit ein Wölkchen von Mißfallen schwamm, welches dem Alten nicht unbemerkt blieb. Danischmend selbst, wiewohl er mehr von der Welt gesehen hatte als Perisadeh, und in der Miene des Kalenders etwas fand, das ihn zu dessen Vorteil einnahm, konnte sich doch des Gedankens nicht erwehren, daß er einen schlimmen alten Vogel, und vielleicht einen gefährlichen Menschen unter sein Dach aufgenommen habe.

Der Kalender schien durch das, was seine Wirte von ihm dachten, wiewohl er es deutlich in ihren Augen las, nicht beunruhigst zu werden. Er sprach noch eine Weile von allerlei Dingen; aber da er merkte, daß Perisadeh immer ernsthafter und Danischmend immer stummer wurde, fand er für gut, den widrigen Eindruck in Zeiten auszulöschen, den er ihnen in einer Art von Sorglosigkeit, die vielleicht aus einem billigen Selbstvertrauen entsprang – von seinem Charakter gegeben hatte.

»Nicht wahr«, sagte er zu Danischmenden, »mein Aufzug, meine Lebensart, die Gesellschaft, worin du mich zu Dehly gesehen hast, und die Peitschen und Amulette, die ich zu Lahor austeilte, geben dir keine sehr vorteilhafte Meinung von deinem Gaste? Allein in meinem Stande macht man allerlei Bekanntschaften, lernt mit allerlei Menschen leben, und macht allerlei Torheiten mit. Der Stand eines Kalenders hat, wie alle andre, ohne Zweifel seine schlechte Seite; aber er hat auch seine Vorzüge. Er wird vielleicht von den meisten gemißbraucht; aber es ist gewiß, daß er eben so wohl eine Schule der Weisheit sein kann, wenn wir wollen. Unser Orden ist wenig von der Sekte jener Philosophen unterschieden, die bei den alten Griechen Cyniker genannt wurden; der ganze Unterschied liegt darin, daß der Pöbel ich weiß nicht welchen Begriff von Heiligkeit und Verdienst mit unsrer Lebensart verknüpft, weil der Stifter derselben ein Santon, und vermutlich, so wie seine ersten Nachahmer, im Kopfe nicht allzu richtig war. Ich gestehe gern, wär ich ein Fürst, oder der Wesir eines Fürsten, so würde meine erste Sorge sein, keine Müßiggänger und Landstreicher, unter welche Namen sie sich auch verstecken wollten, in meinem Lande zu dulden.«

»So dacht ich auch«, sagte Danischmend, und hielt plötzlich wieder ein, weil ihm auch dies wenige wider Willen entwischt war.

»Da ich aber«, fuhr der Alte fort, »ein Kalender bin, und in einem Teile der Welt lebe, wo eine allgemeine Verschwörung der Sultanen und Wesire gegen die Kalender nicht zu besorgen ist – so bediene ich mich der Freiheit, die man mir lassen will, und schleiche mich so leise durch die Welt als ich kann.

Ein Kalender, nach dem Begriff, den ich mir davon mache, hat den Vorteil, auf diesem großen Markte des menschlichen Lebens, – wo alle andre Leute etwas zu kaufen oder zu verkaufen, zu tauschen oder zu wechseln, zu richten oder zu schlichten, zu pfeifen oder zu tanzen, zu betrügen oder zu stehlen haben, – den bloßen Zuschauer zu machen. Er besitzt weder Land noch Geld, treibt weder Handwerk noch Kunst, hat weder Weib noch Kind, ist keines Ortes Bürger, keines Fürsten Diener, hat kein andres Vaterland als den Erdboden, hängt an nichts, ist so frei wie der Vogel in der Luft, und, wenn er weise ist, glücklicher als der Sultan von Indien.«

»Das ist nicht viel gesagt«, dachte Danischmend.

»Und warum sollt er nicht weise sein? Was so viel andre Menschen daran hindert, ist kein Hindernis für ihn. Er hat sich angewöhnt so wenig zu bedürfen, daß die Begierlichkeit ihn selten zu Torheiten verleitet, und so viel als die Natur bedarf findet er allenthalben. Indessen wandert er, ohne sich zu bekümmern ob die Welt gut oder übel geht, aus einer Provinz in die andre, von Stadt zu Stadt, von Dorf zu Dorf, macht sich mit allen Arten von Menschen bekannt, übernachtet bald unter einer vergoldeten Decke, bald in einer Lehmhütte, beobachtet aller Menschen Tun und Lassen, lernt ihre Leidenschaften und Einbildungen, ihre Tugenden und Laster, ihre Mummereien, Trugschlüsse und Possenspiele, ihre schwache und ihre häßliche Seite kennen; lernt wodurch man ihnen gefallen, und wie man auch den unbändigem Teil so kirre machen, zäumen und bemaulkorben kann, daß er alles mit sich anfangen läßt was ihr wollt. Warum sollte nun ein mit allen diesen Erfahrungen und Kenntnissen bereicherter Mann nicht weise sein, und wie sollte ihn seine Weisheit nicht glücklich machen? Wenn die Glückseligkeit darin besteht, so wenig als möglich zu leiden: wer leidet weniger als er, der so wenig bedarf, so wenig verlieren kann, durch keine Begierden gequält, durch keine Sorgen schlaflos gemacht wird, und gegen alles unvermeidliche Ungemach des Lebens durch die Gewohnheit abgehärtet ist? der mit den übrigen Menschen in so wenigen und so unbedeutenden Verhältnissen steht, daß es beinahe unmöglich ist, jemals mit ihnen in einen empfindlichen Zusammenstoß zu kommen? der sie so gut kennt, und so wenig Ansprüche an sie macht, daß es ihm nie einfällt, sich darum zu bekümmern ob sie ihn hochschätzen oder verachten? – Besteht die Glückseligkeit in dem Gleichgewichte der Seele: wer ist ruhiger als der, der bei allen Veränderungen und Katastrophen der Welt nichts zu gewinnen noch zu verlieren hat; der nichts so heftig liebt noch haßt, daß seine eigne Ruhe dabei leiden könnte; der nie in fremdes Interesse verwickelt, nie von fremden Leidenschaften herum getrieben wird, und, wenn alle Sultane der Welt Lust bekämen sich mit einander zu raufen, sehr entschlossen ist, nicht ein einziges Haar von den seinigen dazu herzugeben? – Liegt der höchste Grad der Glückseligkeit in der Selbstgenügsamkeit: wer, als er, kann sich rühmen, unter allen Arten der Sterblichen diesem Glücke der Götter am nächsten zu kommen? Er, der alles, was er sein nennt, immer bei sich trägt?« –

»O die verwünschten Deklamationen!« dachte Danischmend –

– »und dem nichts unentbehrlich ist, als Luft zum Atemholen, Wasser zum Trank, Wurzeln zur Speise, und ein Baum oder eine Höhle zum Obdach? – Entspringt die Glückseligkeit aus dem Genuß des Vergnügens: welche Vergnügungen sind lebhafter, vollströmender, unschädlicher, und wohlfeiler zu haben, als diejenigen, wovon alle Menschen aus dem großen Becher der Natur bis zur Sättigung trinken können? Und wer genießt diese freier, ungestörter und behutsamer, als der Kalender; dieser echte Sohn der Natur, dessen Einbildung durch keine Vorurteile verwöhnt, dessen Geschmack durch keine spitzfindige Verfeinerung verzärtelt, dessen Organe durch Üppigkeit und Ausschweifungen nicht geschwächt und abgenutzt sind?« –

Der Kalender merkte endlich, daß Danischmenden die Geduld auszugehen anfing. »Nun denn, was sagst du«, fuhr er lachend fort, »zu allen diesen Glückseligkeiten des Kalenderstandes? Ich gestehe, daß ein bißchen Deklamation mit untergelaufen ist.«

»Das weiß der Himmel!« rief Danischmend –

»Indessen ist doch immer so viel davon wahr, daß ich, so wie du mich hier siehst, einer von diesen glückseligen Sterblichen bin, die so wenig leiden, so wenig bedürfen, so wenig fürchten noch hoffen, kurz so wenig Anteil an der abgeschmackten Posse nehmen, die das Erdenvolk mit so viel dummer Feierlichkeit auf der einen, und mit so viel kindischem Mutwillen auf der andern Seite spielt, als es einem Wesen, das von vier Elementen leben muß, nur immer möglich ist.«

»Gut! oder, wenn ich dir aufrichtig sagen soll wie mir's ums Herz ist, nicht gut«, versetzte Danischmend. »Ich bin eines von den verträglichsten Geschöpfen auf Gottes Boden; aber es ist mir unmöglich, einem Menschen hold zu sein, der nur für sich selbst lebt. Ich hasse die bloße Vorstellung von einem gleichgültigen Zuschauer des menschlichen Lebens. Nicht, als ob ich einem weisen Manne zumuten wollte, sich ohne Not in die Angelegenheiten irgend einer besondern Gemeinheit verflechten zu lassen. Aber, ist er nicht ein Weltbürger? und, so wenig es immer sein mag, was die Menschen für ihn tun, wie kann er vergessen, daß er auch etwas für sie zu tun schuldig ist?«

»Schuldig?« – erwiderte der Kalender ganz kaltsinnig: »das dächt ich nicht! Ja, wenn er irgend etwas von den Menschen als Schuldigkeit forderte; dann! – Aber dies ist ganz wider die Grundsätze des echten Kalenders. Was er von den Leuten empfängt, das gibt ihm ihre Gutherzigkeit, oder ihre Eitelkeit, oder ihr Aberglaube. Die beiden ersten belohnen sich selbst, und der letzte verdient, zur Strafe, betrogen zu werden. Denn wozu hat ein Mensch vonnöten, seinen fünf Sinnen und dem Menschenverstande zu Trotz, sich ungereimtes Zeug in den Kopf zu setzen?

Übrigens seh ich nicht, wie man die Philosophen unsers Ordens einer gänzlichen Untätigkeit beschuldigen kann. Sie nützen der edlern Art von Menschen durch ihren Umgang, durch Mitteilung ihrer Bemerkungen, durch ein Urteil von den menschlichen Dingen, das durch keine Parteilichkeit, keinen Sektengeist, keine Art von Vorurteilen verfälscht wird. Die Großen hören zuweilen durch sie das Kostbarste, was ein gemeiner Mann einem Großen geben kann, die Wahrheit; und der leichtgläubige Pöbel empfängt aus ihrer wohltätigen Hand Amulette und Talismane; herrliche Arzneien für eine kranke Phantasie; Dinge, die an sich nichts sind, aber durch den Glauben, den man an sie hat, zuweilen wundertätig werden.Vid. die von dem Parlementsrate von Montgeron legaliter verifizierten Wunder des Abbé Paris. Mir deucht, alles dies setzt die Kalender mit den übrigen Erdbewohnern so ziemlich ins reine, und gibt ihnen, wiewohl sie weder graben noch spinnen, ein hinlängliches Recht an das wenige, was sie vonnöten haben. – Von den Gunstbezeigungen milder Seelen vom schönen Geschlecht, um die man uns zu beneiden pflegt, sag ich nichts; denn man kann sich leicht vorstellen, daß wir sie verdienen müssen.«

»Freund Kalender«, sagte Danischmend, »wenn deine Sache, wie ich besorge, nicht die beste ist, so hast du ihr wenigstens die beste Wendung gegeben, die man ihr geben kann. Übrigens finde ich eben so natürlich, daß ein Mann seine eigene Art über jede Sache zu denken, als daß er seine eigene individuelle Nase habe. Es gibt freilich Nasen von so besonderer Figur und Proportion, daß die Schönheit der menschlichen Gattung nicht viel dabei gewinnen würde, wenn man sie zu Modellen machen wollte. Aber unter tausend mehr oder weniger gebogenen oder eingedrückten, viereckigen oder aufgestülpten, längern oder kürzern Nasen vom gewöhnlichen Schlage mag immer ein Elefantenrüssel oder ein Habichtsschnabel ohne Schaden mitlaufen. So selten als die kaltblütigen Philosophen sind, zu denen du dich bekennst, würd es allerdings sehr unbillig sein, ihnen den wenigen Raum, den sie auf diesem ohnehin schlecht bevölkerten Erdenrund einnehmen, zu mißgönnen. Doch leugne ich nicht, daß es mir leid tun sollte, wenn sie jemals aufhörten selten zu sein.


 << zurück weiter >>