Christoph Martin Wieland
Geschichte des Weisen Danischmend und der drei Kalender
Christoph Martin Wieland

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20. Kapitel

Warum es bei allem dem noch ganz leidlich in der Welt hergeht

»Ich finde eben nicht«, sagte der Kalender, »daß du den Sultanen und den Bonzen mehr zur Last legst als recht ist. Alle Geschichtbücher Asiens, und vermutlich die von der ganzen Welt, enthalten die Beweise deiner Anklagen. Die Sache ist weltkündig. Das einzige, was einen dabei in Verwunderung setzt, ist, daß es bei so bewandten Umständen nicht noch zehnmal schlimmer um uns arme Erdenklöße steht.«

»Ich denke, diese Verwunderung – wie alle Verwunderungen – hört auf« (antwortete Danischmend), »sobald man die Ursachen erwägt, die den Wirkungen der Sultanschaft und der Bonzenschaft das Gleichgewicht halten.

Fürs erste wird noch ein großer Teil des Erdbodens von Wilden und Nomaden bewohnt, die zum Teil weder von Sultanen noch Bonzen wissen, und, ungeachtet des noch kindischen Standes oder der langen Verwilderung, worin sie leben, starke Züge der ursprünglichen Güte unsrer Natur an sich tragen, und im Genuß aller ihrer angebornen Rechte stehen. Die Einfälle dieser Nomaden in die Länder der Sultanen und die dadurch von Zeit zu Zeit verursachten Weltveränderungen sind der Menschheit allemal, wenigstens eine Zeit lang, nützlich gewesen. Die Verwüstungen, welche die aufs äußerste gestiegene Tyrannei und Üppigkeit bald hier bald dort auf dem Erdboden angerichtet hatte, sind dadurch wieder vergütet, frisches Blut und neues Leben in halb erstorbene Völker gegossen, und durch die Vermischung des gesunden Menschenverstandes, den die Eroberer mitbrachten, mit dem Unsinn, den sie eingeführt fanden, eine Art von Gärung verursacht worden, die wenigstens eine gänzliche Stockung der Vernunft verhütete.«

»Wenn diese Betrachtung auch richtig wäre«, sagte der Kalender, »so wirst du doch gestehen, daß das Gute, was diese großen Weltveränderungen mit sich führten, sich immer gar bald wieder verloren hat. Die Eroberer wurden zu Sultanen, die Bonzen gaben ihren Röcken einen andern Schnitt, teilten sich in neue Sekten, erfanden, um ihr altes Ansehen zu stützen, neue Betrügereien, und die Völker befanden sich bald wieder eben so übel als zuvor.«

»Leider!« versetzte Danischmend. »Aber das Gute ist doch immer etwas Positives, Wirksames und seiner Natur nach Fortdauerndes; seine heilsamen Folgen verlieren sich nie ganz, wiewohl sie eben dadurch, daß sie in unzählige kleine Kanäle ausfließen, sich gleichsam in den Boden verkriechen, und dem Auge nach und nach unmerklich werden.

Sodann, mein lieber Kalender, liegt eine andre, und ohne Zweifel die wirksamste Ursache, warum Sultanschaft und Bonzenschaft die Menschheit niemals völlig überwältigen, ihr selten oder vielleicht niemals alles das Böse tun konnten, noch tun werden, das sie an sich selbst vermöge ihre Natur wirken müßten, wenn kein mächtiges Gegengift sie entkräftete – diese Ursache, sag ich, liegt in den Künsten – die wir den alten Ägyptern, Phöniciern und Griechen – und in der Philosophie, die wir – Gott und der Natur zu danken haben. Der einzige Zug des großen Alexanders durch Asien ist in dieser Betrachtung, durch seine Folgen, so wohltätig gewesenIch hatte von der Schule an immer gehört, daß dieser Alexander Magnus ein abscheulicher Tyrann, ein Menschenfresser, ein Würgeengel, eine Zuchtrute in der Hand Gottes, und eine verheerende Pest des menschlichen Geschlechts gewesen sei. Beinahe sollte einen diese Betrachtung des Danischmend auf andere Gedanken bringen. Ob sie aber auch wahr ist?

Peter Ganshaupt

Die Geschichte gelesen, Herr Ganshaupt! mit dem Restchen Mutterwitz, das Ihr aus Euern Schulen davon gebracht habt, gelesen, und auf den Zusammenhang und die Folgen der Dinge Acht gegeben; so werdet Ihr bald sehen, ob Danischmend oder Euer Schulmeister recht hat!

St. Evremond

, daß man sich nicht zu wundern hat, wenn dem Andenken dieses größten unter den Sterblichen noch etliche Jahrhunderte nach seinem Tode, sogar in Indien, öffentliche Ehrendenkmäler gewidmet waren.S. Philostrats Leben des Apollonius, B. II. Kap. 20, 24.

Die Künste beschäftigen nicht nur eine unzählige Menge Menschen, die, ohne sie, ein Raub des Elends sein, oder gar nicht zum Leben kommen würden; sie verhindern auch die Sultane, völlig so roh und unbändig zu werden, als sie werden müßten, wenn Gähnen und Fliegenfangen, Prassen und Zechen, Jagen und Morden – der Tiere oder der Menschen, ihre einzige Belustigung wäre. Sie lernen durch die Künste edlere, oder wenigstens feinere und sanftere Vergnügungen kennen; Witz, Erfindsamkeit, Talente, werden ihnen wert; und wie viel gewinnen wir nicht schon durch diesen einzigen Umstand über die Sultanschaft!

Was die Philosophie betrifft, so wenig man uns von ihr gelassen hat, so ist doch selbst dies wenige kostbar und wichtig für die Vorteile der Menschheit. Und wenn aus unsern Schulen zu Balk, zu Samarkand, zu Benares, in fünfundzwanzig Jahren auch nur zwei oder drei echte Weltbürger mit hellem Kopf und warmem Herzen hervorgehen, die auf die eine oder andere Art zwischen Sultanen und Bonzen unzerdrückt durchzukommen wissen: so siehst du leicht, daß ihrer dann gerade genug sind, um uns von dem Salz der Erden – welches die Weisen von jeher in ihrer Verwahrung gehabt haben – ungefähr so viel zukommen zu lassen, als wir brauchen, um nicht gänzlich zu verfaulen.

Nehmen wir nun noch hinzu alles Gute, was das kleine aber desto tätigere Häufchen der Enthusiasten der Tugend tut, und alles Böse, was eine Menge von großen und kleinen Sultanen, großen und kleinen Bonzen, aus Temperament, Trägheit, Furchtsamkeit, Liebe zum Vergnügen, oder natürlicher Gutherzigkeit, nicht tut;

bedenken wir, daß es selbst unter den Sultanen hier und da einen gibt, der mit einer so vortrefflichen Anlage geboren ist, daß weder Erziehung noch Beispiele, weder Harem noch Divan, weder Höflinge noch Bonzen, alle Tätigkeit seines Geistes hemmen, alle Tugenden seines Herzens ersticken können;

erwägen wir, daß verschiedene Völker des Erdbodens mutig oder glücklich genug gewesen sind, ihre wesentlichsten Rechte gegen willkürliche Gewalt und Unterdrückung, mehr oder weniger, sicher zu stellen, und daß bei diesen Völkern gute Fürsten weniger selten sind, als bei uns Asiaten die sehr bösen Sultane;

ferner, daß die Vorsehung ein Belieben daran findet, von Zeit zu Zeit Privatpersonen von großem Geist und Herzen auf Thronen zu setzen, wozu sie nicht durch Geburt, sondern durch Tugend und Verdienst berufen werden;

und daß es, allen Bemühungen der Sultanen und ihrer Werkzeuge zu Trotz, immer noch hier und da einen kleinen Freistaat gibt, wo Fleiß, Mäßigung und kluge Einrichtung glückliche Menschen macht, und wo Weisheit und Tugend Verdienste sind;

rechnen wir, Freund Kalender, alle diese Umstände zusammen: so wird es uns kein Rätsel mehr sein, warum die menschliche Gattung – die, dem ersten Anschein nach, durch Sultane und Bonzen längstens vom Erdboden vertilgt sein sollte – im Durchschnitt genommen, sich noch immer in einem ganz leidlichen Zustande befindet

»Leidlich genug«, sagte der Kalender, »sonderheitlich wenn man, wie wir, wohl gegessen und getrunken hat, an nichts Mangel leidet, von allen Sultanen so fern als möglich ist, und von keinem Bonzen oder Derwischen weder verfolgt, noch – was oft eben so arg ist – mit seiner Freundschaft beehrt wird. Wir haben gut reden, mein lieber Danischmend!«

Der verwünschte Kalender mit seinem sonderheitlich! – Was war darauf zu antworten?

Danischmend seufzte, und schwieg.


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