Christoph Martin Wieland
Geschichte des Weisen Danischmend und der drei Kalender
Christoph Martin Wieland

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22. Kapitel

Entwicklung und Ende der Tragödie

Inzwischen hatte man die beiden flüchtigen Fakirn im Gebirg erhascht, und zu einem der Ältesten in Verwahrung gebracht. Die sämtlichen Männer in der Gegend, welche vermutlich bei genauerer Nachfrage genug entdeckt haben mochten, um jeder wegen seiner eignen Sicherheit besorgt zu sein, bestanden darauf, daß den beiden noch unverletzten Fakirn eben so getan werden sollte, wie ihrem Gesellen.

Danischmend war in keiner geringen Verlegenheit, und beriet sich mit dem Kalender, was zu tun sei. Die armen Schelme in den Stand ihres Gottes Rutren zu setzen, schien noch grausamer, als ihnen das Leben auf einmal zu nehmen. Überdies, welche Folgen konnt es für die ganze Republik haben, wenn einer von ihnen, so grausam beleidigt und zu grenzenloser Rache gereizt, entwischen, nach Dehly fliehen, und den Braminen der Sultanin auffordern würde, ihre Sache zur seinigen zu machen!

Das sicherste wäre gewesen, ihnen ohne Umstände die Hälse zuzuschnüren; aber war dies menschlich?

»Kann es unrecht sein, zwei oder drei betrügerische unzüchtige Buben der Sicherheit eines ganzen Volkes aufzuopfern?« – sagte der Kalender.

Danischmends Kopf gestand, daß es nicht unrecht sei: aber in seinem Herzen war etwas, das Nein dazu sagte; und in solchen Fällen gab er allemal seinem Herzen recht.

Die Ältesten versammelten sich, und beriefen Danischmenden und den Kalender dazu. Das Volk schwärmte haufenweise um die Hütte her; niemand dachte an seine Arbeit; alles war in einer Bewegung, einer Verwirrung, wovon man in dieser kleinen Republik kein Beispiel wußte.

»Daß ich leben mußte, um ein Zeuge eines solchen Greuels zu sein!« – rief der redliche alte Mann mit den Silberhaaren, mit dem wir im funfzehnten Kapitel schon Bekanntschaft gemacht haben – »daß ich«, rief er mit einem tiefen Seufzer, »diese Tage der Wut, der Verwirrung, des Mißtrauens, der verlornen Unschuld erleben mußte!« Seine eigene geliebte Tochter, die holde jungfräuliche Braut – (das Herz unsrer Leser kann sie noch nicht vergessen haben) – hatte sich, in der Einfalt ihres Herzens, einen Lingam aufschwatzen lassen! – Die arme Seele! Sie wußte in der Tat nicht was es war.

»Verflucht sei die Stunde, da die Fakirn ihren Fuß in die Täler von Jemal setzten!« rief ein andrer von den Ältesten. »Wir werden nie wieder die Menschen werden, die wir waren!«

»Und was ist nun anzufangen? Wie sollen wir ihrer ledig werden? Wie den Schaden heilen, den sie uns zugefügt haben?«

In diesem Augenblicke nahm der Tumult vor der Hütte überhand. Man hatte neue schreckliche Entdeckungen gemacht. Die beiden Fakirn – zwei Frauen aus einem benachbarten Dorfe – in der nämlichen Nacht vor dem Morgen der den blutigen Auftritt beleuchtete – das ganze Dorf in Aufruhr. – »Wo sind sie, wo sind sie, die Schändlichen?« – »Alle drei im Hause des Ältesten.« – Das ganze Volk stürzte dahin. Man zog sie heraus; in einem Augenblicke waren sie in tausend Stücke zerrissen! – Die Sonne verbarg sich vor dem abscheulichen Anblicke. – Die schuldigen Frauen (man hatte sie mitgeschleppt), unvermögend die Last ihrer Schande zu ertragen, rissen sich wütend von ihren Hütern los, und stürzten sich in den benachbarten Fluß.

Die Ältesten rauften ihre grauen Haare aus, beschworen das Volk, geboten Ruhe, und wurden von niemand gehört.

Endlich fand Danischmend das rechte Mittel. »Man trage Holz herbei«, rief er: »man lese die Stücke der zerrißnen Fakirn mit allen ihren Lingams und Fünfköpfen zusammen, verbrenne alles auf Einem Haufen, und wälze dann eine Spitzsäule von Steinen darüber, die unsern Enkeln ein Denkmal zum Schrecken und zur Warnung sei.«

Plötzlich lief das Volk aus einander, Holz und Feuerbrände zu holen; die Gliedmaßen der Fakirn mit ihren Kleidern und allem was ihnen zugehört hatte, keinen einzigen Lingam ausgenommen, wurden auf den Holzstoß geworfen; die Ältesten des Volks zündeten ihn an, und alles Volk stand im Kreise, und ergetzte sich an dem schönen Feuer.

Wie alles Asche war, türmten sie Steine mit Sand und Erde vermischt darüber her, bis es eine hohe Spitzsäule ward. Und man nannte sie den Fakirhügel; und das Volk glaubte, daß die Geister der ermordeten Fakirn und der beiden Frauen, die sich selbst geopfert hatten, um Mitternacht sich auf dem Hügel sehen ließen; und wer bei Nacht dieses Weges ging, entfernte sich von dem Hügel so weit er konnte, hüllte seinen Kopf ein, und eilte schauernd vorüber. Und der Name der Fakirn blieb ein Greuel in den Ohren des Volkes zu Jemal bis auf diesen Tag.


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