Christoph Martin Wieland
Geschichte des Weisen Danischmend und der drei Kalender
Christoph Martin Wieland

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

25. Kapitel

Eine moralische Betrachtung von wichtigem Belang, weil sie den Schlüssel zu vielen andern enthält

»Das ist wohl gut für den Augenblick«, sagte Danischmend zum alten Kalender, da sie, kurz nachdem der Hausfriede wieder hergestellt war, über diese Begebenheiten sich mit einander besprachen: »aber was für Sicherheit haben wir für die Zukunft? Ein einziges zurück gebliebnes Keimchen von dem Samen, den die Fakirn bei uns ausgestreut haben, ist hinlänglich, alles was an unserm Volke noch gesund ist anzustecken. Wie sehr besorg ich, der alte Mann habe richtig gesehen, da er ausrief: ›Wir werden nie wieder die Menschen werden die wir waren!‹

Glaubst du, die Lingams, weil wir sie mit großem Pomp und allgemeinem Beifall verbrannt haben, seien auch in der Einbildungskraft unsrer Weiber und Töchter im Rauch aufgegangen? Sei versichert, sie leben und weben, glänzen und funkeln dort noch immer, und vielleicht mehr als jemals. Und gesetzt auch, das Unheil das sie bei uns angerichtet, und der Eindruck des abscheulichen Schauspiels, wovon wir Zeugen gewesen sind, wurzle tief genug, um das Andenken an die Ursachen desselben auf ewig verhaßt zu machen: sind wir darum weniger in Gefahr? – Kennen wir etwann die Fakirn und Bonzen nicht? Gleich ihren Göttern, verwandeln sie sich in alle Gestalten die zu ihren Absichten taugen. Andre Fakirn in andern Farben, mit anderm Gaukelwerk, können den Zugang zu uns finden, und werden vielleicht glücklicher sein als diese. Unsre Phantasie wenigstens wird bald mit ihnen unter der Decke spielen, und die Folgen werden am Ende die nämlichen sein. Für eine verdorbne Phantasie ist alles Lingam.

Ich will, um dir meine Meinung begreiflicher zu machen, die Sache beim Ei anfangen.

Die Einwohner dieser Täler sind Abkömmlinge eines Volkes, das ehmals in einer von den großen tatarischen Wüsten lebte. Ihre Voreltern verehrten den Schöpfer der Welt, ohne Bilder, ohne Tempel, ohne Priester; alle Morgen, wenn die Sonne aufging, traten sie aus ihren Hütten hervor, und dankten ihm für ihr Dasein, für das Licht der Sonne, für das Gute, das von ihm über alle Wesen ausfließt. Dies war, ihren Begriffen nach, das einzige Opfer, das ihm angenehm war. Auch baten sie ihn um nichts, als daß er sie an Leib und Seele gesund erhalten möchte, versichert, daß alles übrige, was in dieser Bitte nicht enthalten sei, Dinge wären, die der Zufall hin und her wehe, und meistens nicht der Mühe wert, daß man in die Luft greife, um nach ihnen zu haschen.

Diese Begriffe und Gewohnheiten erhielten sich lange unter unserm Volke. Aber ihre Einbildungskraft konnte doch in die Länge nicht müßig bleiben. Sie bevölkerte die ganze Natur mit Geistern, und gab allem worin Leben ist eine Seele. Dieser Glaube ist – in so fern er die Grundlage abgab, worauf die Bonzen aller Völker, die mit Bonzen geplagt sind, ihr Gebäude von Aberglauben und Vielgötterei aufgeführt haben – nichts Gleichgültiges. Aber bei unserm Völkchen, welches, ohne Sultane und Bonzen, im Schoße der einfältigsten Natur lebte, war er nicht nur unschädlich; er wurde ihm sogar wohltätig: denn er nährte dieses Mitgefühl mit der ganzen Natur; das beste unter allen menschlichen Gefühlen, das die Mutter der Gutherzigkeit ist, und dessen Verwahrlosung so viel zur Verdorbenheit der gekünstelten Menschen beiträgt.

Noch itzt finden sich häufige Überbleibsel dieses Glaubens unter uns. Es ist zum Beispiel ein Verbrechen, einen fruchtbaren Baum, oder einen Baum, der den Menschen lange Zeit Schatten und Kühlung gegeben hat, umzuhauen; und auch dann, wenn man Holz zum notwendigen Gebrauch fällen muß, wird der Geist im Baume mit vieler Feierlichkeit um seine Einwilligung dazu ersucht. Keine unsrer Mädchen und Weiber wird sich in dem Flusse baden, oder nur ihre Füße in einem Quell waschen, ohne der Nymphe desselben etliche Blumen als ein Opfer hinein geworfen zu haben, und dergleichen mehr.

Dieser harmlose Aberglaube vereiniget sich mit den übrigen Umständen unsers Volkes, – die uns immer in jenem Mittel zwischen zu viel und zu wenig erhalten, worin die Glückseligkeit eingeschlossen ist, – uns diese milde, lenksame, wohlwollende Sinnesart zu geben, die du, bis zu der wilden Szene mit den Fakirn, unter den Bewohnern dieser glücklichen Täler wahrgenommen haben mußt. Liebe und Eintracht hielt die einzelnen Haushaltungen und die ganze Gemeinheit zusammen. Die Jugend ehrte ihre Eltern, aber lernte zugleich von Kindesbeinen an, in jedem alten Mann einen Vater, in jeder alten Frau eine Mutter ehren. Der Mann liebte sein eignes Weib, das Weib ihren eignen Mann; der Ehestand wurde als die heiligste, unverletzlichste aller Verbindungen angesehen; unsre ältesten Greise hatten, ehe diese Fakirn unsre Weiber zu betören kamen, keinen ähnlichen Fall erlebt. Kurz, die Unschuld der Sitten, und eine glückliche Gewohnheit der unverwilderten, ungekünstelten und unverdorbenen Natur gemäß zu leben,Diese Distinktion verdient in Erwägung gezogen zu werden. Der Natur gemäß leben, ist ein sehr unbestimmter Ausdruck, wobei jeder etwas andres denkt, und womit viel Irrung vorgeht. Das wahre Naturleben ist von Wildheit, Verkünstelung und Verdorbenheit gleich weit entfernt. Ich wünschte dies einmal von einem unbefangenen Kosmopoliten besser aus einander gesetzt zu sehen, als bisher noch geschehen ist.

J. C. H.

erhielt unsre kleine Republik, ohne Gesetze, in einem bessern Zustand, als derjenige ist, welchen die vollkommenste Gesetzgebung einem Volke verschaffen kann, das schon so verdorben ist, nicht ohne Gesetze leben zu können.Eben so wie ein Mensch, der seine Gesundheit der Natur und seiner Mäßigkeit zu danken hat, sich besser befindet, als ein andrer, der sich bloß durch eine vorgeschriebene Lebensordnung und die Kunst des Arztes beim Leben erhält.

Hippokrates

Aber nun, mein lieber Kalender, können wir, nach dem was in diesen Tagen vorgegangen ist, uns überreden, daß unser kleiner Staatskörper nicht dadurch in seinen edelsten Lebensteilen so stark verletzt worden sei, daß es unweislich gehandelt wäre, ihn, ohne andre Hülfe, bloß der Natur und seinem guten Glücke zu überlassen?

Diese Fakirn, Freund Kalender, haben den Frieden unsrer Familien, die Reinigkeit unsrer Sitten, die Keuschheit unsrer Einbildungskraft, die Ruhe unsrer Verfassung vergiftet. Freilich unsre Männer haben sich wieder mit ihren Weibern ausgesöhnt: wie konnten sie anders? Die Notwendigkeit stiftete den Frieden. Aber sollte kein verborgenes Ferment von Zweifel und gegenseitigem Mißtrauen zurück geblieben sein? Kannst du glauben, daß die Weiber, die einen Lingam getragen, nichts dadurch in der Einbildung ihrer Männer verloren haben? – Und sollte die Einbildung der Männer wohl mit Recht zu tadeln sein?

Vor dem abscheulichen Morgen, der die Verbrechen dieser Bonzen an den Tag brachte, war ein Lingam in den Augen unsrer Weiber ein bloßes Tändelwerk, eine Puppe womit sie spielten; ihre Phantasie war noch unbefleckt; ihr Herz (wie die schöne Kezia sagte) dachte noch an nichts Arges. Aber seit dem Abenteuer dieser guten Frau, seit der Entehrung der beiden Unglücklichen, hat sich die Sache sehr verändert. Der Lingam ist dadurch ganz etwas andres für sie geworden; und es sei nun daß seine Erinnerung mit Verachtung und Abscheu oder mit Scherz und Lachen in Gesellschaft gehe, so muß beides, durch die Folgen der Assoziation, der Unschuld ihrer Seele gleich viel Schaden tun. Unvermerkt wird die eheliche Liebe diese Würdigkeit verlieren, die zu ihrem Wesen gehört, und Beispiele der verletzten Treue werden nicht länger etwas Unerhörtes sein. Das Mißtrauen der Männer wird bei den geringsten Anlässen erwachen, vom bloßen Schatten einer zweideutigen Aufführung Argwohn schöpfen, und Eifersucht wird jede häusliche Freude vergiften. Der Vater wird seine Kinder nicht mehr mit der unnennbaren Empfindung an seine Brust drücken, die ihn so glücklich machte, da jenes volle Zutrauen zu der Unschuld ihrer Mutter noch in seiner Seele herrschte. – Übersieh, Freund Kalender, in ihrem ganzen Umfange, die Folgen dieses einzigen Umstandes!

Und was, meinst du, wird aus der Eintracht, der verdachtlosen Geselligkeit, dem herzlichen Wohlwollen werden, die bisher unter unserm Volke herrschten? Glaube mir, unsre Feste, unsre Spiele werden nicht mehr sein was sie sonst waren. Der Lingam hat sie der unbesorgten Fröhlichkeit beraubt, die ihren größten Reiz ausmachte. Die Furcht vor Mißdeutung wird Augen und Lippen, Hände und Füße fesseln; und dennoch, trotz allem Zwang einer studierten Anständigkeit werden unsre Zusammenkünfte die ewigen Quellen von Mißhelligkeit und Zwietracht sein.

Und werden etwann unsre Ältesten, die einzige Obrigkeit die wir bisher kannten, dem Unheil steuern können?

Der Talismann ihres Ansehens ist zerbrochen! Was konnten sie an jenem Tage des Aufruhrs? Was halfen ihre Bitten, ihre Befehle? Das Volk fühlte seine Stärke und hörte die zitternden Stimmen nicht.

Mit Einem Worte, Freund Kalender, wie willst du daß ein Volk, das seine Sitten verloren hat, länger durch Sitten regiert werde?«


 << zurück weiter >>