Christoph Martin Wieland
Geschichte des Weisen Danischmend und der drei Kalender
Christoph Martin Wieland

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13. Kapitel

Der Kalender sagt Danischmenden im Vertrauen was er von der menschlichen Gattung denkt

»Ich möchte wohl wissen«, sagte Danischmend, »auf welchem Fuß du die Menschen kennen gelernt hast, um ein so schönes Resultat heraus zu bringen?«

»So gern ich meine Meinung über alles frei von der Brust weg sage«, versetzte der Kalender, »so möcht ich doch nicht in dem Falle sein, auf dem großen Marktplatze zu Dehly oder Ispahan sagen zu müssen was ich von den Menschen denke. Aber unter vier Augen seh ich keine Bedenklichkeit.«

»Zumal da die Welt bleiben wird was sie ist, du und ich mögen von ihr denken was wir wollen«, sagte Danischmend.

»Dies möcht ich eben nicht so unbedingt für wahr annehmen«, erwiderte der Kalender. »Ich denke der Fall hat sich schon oft zugetragen, wo es so gleichgültig nicht war, was für einen Begriff dieser oder jener sich von den Sachen machte. Wer kann uns gut dafür sein, daß Glück und Zufall – die schon so oft aus Grobschmieden, Küchenjungen, Kameltreibern, Kühhirten, ja sogar aus Fakirn, Luftspringern, Lohnhuren, Kupplern, und Gott weiß was für anderm Auskehricht des menschlichen Geschlechtes, wichtige Personen in der Welt gemacht haben, – nicht einmal in einem Anstoß von Laune den Einfall kriegen könnten, einem philosophischen Einsiedler wie du, oder einem Kalender wie ich, eine Rolle in der Welt zu spielen zu geben?«

Danischmend lächelte und schüttelte den Kopf, indem er an die Rolle dachte, die ihn der Bramine der Königin Nurmahal in einem rings um gut gemauerten und mit einer doppelten Tür und großen eisernen Stangen und Riegeln wohl verwahrten Käficht hatte spielen lassen.

»Ich bin kein Menschenfeind«, fuhr der Kalender fort; »wiewohl ich eben nicht sagen kann, daß ich sie sehr liebenswürdig finde: aber ich bin ein herzlicher Feind aller Deklamationen, da ein Mann seine Backen so voll nimmt als er kann, um alles Gute und Böse was er weiß, über die arme Menschheit heraus zu blasen, ohne sich darum zu bekümmern, wie viel oder wenig Wahres an der Sache ist.

Ich möchte den Vorwurf nicht verdienen, daß ich der Natur – auf die am Ende doch alle Schuld zurück fällt – durch eine allzu schlechte Meinung von ihrem besten Stück Arbeit unrecht tue. Aber ich möchte doch auch der Mann nicht sein, der – nachdem er wohl geschlafen, wohl gegessen und getrunken, eine gute Verdauung und einen leichten gesunden Stuhlgang gehabt,Nach der Meinung des Hippokrates, Avicenna, Rasis, und aller andern Ärzte, ist dieses eine unentbehrliche Bedingung zum frei und heiter Denken: ein konstipierter Mensch kann weder was Gescheites denken noch was Angenehmes träumen.

D. Akakia

und sich mit seinem Weibe oder Kebsweibe nach Wohlgefallen gütlich getan hätte – auf seinen Sofa ausgedehnt von Feenschlössern und Schlaraffenländern und goldnen Zeiten und schönen Seelen träumte, und dann zwischen Wachen und Traum sich hinsetzte, und ein System daher fabelte, worin der Mensch als das gutartigste, edelste und glücklichste aller Geschöpfe figurierte, Geschichte und tägliche Erfahrungen möchten mir das Gegenteil noch so laut in die Ohren schreien.

Ich hasse das Übermaß in allen Dingen. Indessen gesteh ich, wenn ja auf einer von beiden Seiten ausgeschweift werden müßte, so würde die Wahrheit weniger verlieren, wenn man zu schlimm als wenn man zu gut von der menschlichen Natur dächte.«

»Ich höre für mein Leben gern paradoxe Sätze behaupten«, sagte Danischmend lächelnd.

»Die Wahrheit hat zuweilen das Unglück paradox zu klingen«, erwiderte der Kalender: »aber der Beweis für das was ich itzt sagte, ist nur gar zu leicht zu führen.

Setzen wir einmal den Fall, es gäb eine Art von Geschöpfen – in welchem Planeten du willst –, die mit einer so schlechten Anlage auf die Welt kämen, daß unter tausenden kaum Eines, und auch dies nicht anders als durch die sorgfältigste und mühsamste Kultur, unter einem Zusammenfluß der günstigsten Umstände, wovon nicht Einer fehlen dürfte, zu einem merklichen Grade von Wert zu bringen wäre: was würden wir von der ganzen Art halten?

Würde die Art der Hyänen oder Krokodille darum besser sein, wenn man einige Beispiele hätte, daß durch außerordentliche Mühe und gutes Glück dann und wann eine Hyäne oder ein Krokodill zahm und nützlich gemacht worden wäre?

Ich besorge, daß dies ganz eigentlich unser Fall sein möchte. Wie viel Kunst und Fleiß, welche lange Übung, und wie viel Glück noch oben drein, wird nicht dazu erfordert, bis ein Mensch weise und gut wird! Und wie unendlich klein ist die Anzahl dieser letztern gegen das unermeßliche Heer der Narren, der Schafköpfe, der Gecken, der Betrüger, und der Bösewichter, deren ewiges Dichten und Trachten ist, alles zu verhindern, zu untergraben, zu ersticken, und, wo möglich, gänzlich zu vernichten und auszulöschen, was die Weisen und Guten von jeher unternommen haben! – Oder ist es etwann nicht wahr, daß ich in diesen wenigen Worten die Geschichte des menschlichen Geschlechts ausgezogen habe?«

Danischmend kraute sich hinterm linken Ohr und sagte – nichts.

Der Kalender verfolgte mit aller Unbarmherzigkeit eines Misanthropen, der sich in seinem Vorteil sieht: »Ich gebe zu, daß unter jener größern Zahl die Schafköpfe, die sich von den Schlauköpfen verführen, betrügen und mißbrauchen lassen daß es einen Stein erbarmen möchte, – daß, sag ich, diese Schafköpfe – die ganze Zunft der Gecken, Faselhansen und Narren mit allen ihren Subdivisionen eingerechnet – sich zu den Betrügern und Bösewichtern vielleicht wie Hundert zu Eins verhalten. Aber was gewinnt die menschliche Gattung dabei? Es braucht nur Einen schlauen Spitzbuben, um hundert dumme Knaben an eine lange Kette anzuschließen und bei der Nase hinzuführen wohin er will; und so sind es (zur Schande der Menschheit!) doch immer die schlimmsten unter den Menschen, die am Ende Meister sind.«

»Lieber wollt ich mir die Augen ausreißen, als dies nur einen Augenblick glauben«, sagte Danischmend.

»Glauben?« – versetzte der Kalender kaltsinnig: »glauben können wir, was uns beliebt; aber die Rede ist hier nicht vom Glauben. Die Frage, wenn ich nicht irre, war: wie die Sache sei; nicht, wie wir wünschen, hoffen, träumen, daß sie sein sollte und möchte. Fakta müssen hier den Ausschlag geben!«

»Fakta sind alles, was man daraus machen will«, sagte Danischmend: »aus jedem neuen Augenpunkte scheinen sie etwas anders; und in zehen Fällen gegen Einen ist das vermeinte Faktum, worauf man mit großer Zuversicht seine Meinung gestützt hatte, im Grund eine bloße Hypothese.«Conf. alle die beredten, scharfsinnigen und wohl meinenden Herren, welche Versuche über die Geschichte der Menschheit geschrieben haben, von Iselin bis Home inclusive.

X.

»Dies mag sein«, erwiderte der Kalender. »Aber die Fakta, von welchen ich rede, sind von der Art derjenigen, die, aus allen möglichen Gesichtspunkten betrachtet, immer die nämliche Gestalt zeigen, und immer einerlei Resultat geben. Auch wird ihre Wahrheit allgemein anerkannt, wiewohl die Eitelkeit – das einzige Laster, das der menschlichen Gattung ausschließlich eigen ist – uns für das Resultat die Augen verschließt.

Ich will mich bloß auf drei einschränken, die zu meinem Zwecke völlig hinreichend sind.

Das erste: Die menschliche Gattung ist von der Natur mit allem versehen, was zum Wahrnehmen, Beobachten, Vergleichen und Unterscheiden der Dinge nötig ist. Sie hat zu diesen Verrichtungen nicht nur das Gegenwärtige unmittelbar vor sich liegen, und kann, um weise zu werden, nicht nur ihre eignen Erfahrungen nützen; auch die Erfahrungen aller vorher gehenden Zeiten, und die Bemerkungen einer Anzahl von scharfsinnigen Menschen, die, wenigstens sehr oft, richtig gesehen haben, liegen zu ihrem Gebrauch offen. Durch diese Erfahrungen und Bemerkungen ist schon längst ausgemacht, nach welchen Naturgesetzen der Mensch – in welcher Art von Gesellschaft und Verfassung er sich befinde – leben und handeln muß, um in seiner Art glücklich zu sein. Durch sie ist alles, was für die ganze Gattung – folglich für jeden einzelnen Menschen – zu allen Zeiten und unter allen Umständen nützlich oder schädlich ist, unwidersprechlich dargetan; die Regeln, deren Anwendung uns vor Irrtümern und Trugschlüssen sicher stellen kann, sind gefunden; wir können mit befriedigender Gewißheit wissen, was schön oder häßlich, recht oder unrecht, gut oder böse ist, warum es so ist, und in wie fern es so ist; es ist keine Art von Torheit, Laster und Bosheit zu erdenken, deren Ungereimtheit oder Schädlichkeit nicht schon längst so scharf als irgend ein Lehrsatz im Euklides erwiesen wäre. – Und dennoch, dessen allen ungeachtet, drehen sich die Menschen seit etlichen tausend Jahren immer in dem nämlichen Zirkel von Torheiten, Irrtümern und Mißbräuchen herum; werden weder durch fremde noch eigene Erfahrung klüger; verlassen immer wieder, ihrem eignen Gefühl zu Trotz, den richtigen Weg, wenn sie ihn glücklicher Weise einmal gefunden haben; kurz, werden, wenn's hoch kommt, witziger, scharfsinniger, gelehrter, aber nie weiser als ihre Vorfahren von jeher gewesen sind.

Daß dem so sei, beweiset – der Augenschein; aber wie es möglich sei, kann, deucht mich, durch nichts in der Welt begreiflich werden, als durch mein zweites Faktum: – Die Menschen, nämlich, räsonieren gewöhnlich nicht nach den Gesetzen der Vernunft. – Im Gegenteil ihre angeborne und allgemeinste Art zu räsonieren ist: von einzelnen Fällen aufs Allgemeine zu schließen, aus flüchtig oder nur von Einer Seite wahrgenommenen Begebenheiten irrige Folgerungen herzuleiten, und alle Augenblicke Worte mit Begriffen, und Begriffe mit Sachen zu verwechseln. Die allermeisten, das ist, nach dem billigsten Überschlag neunhundertneunundneunzig unter tausenden, urteilen, in den meisten und wichtigsten Vorfallenheiten ihres Lebens, nach ersten sinnlichen Eindrücken, Vorurteilen, Leidenschaften, Grillen, Phantasien, Launen, zufälliger Verknüpfung der Worte und Vorstellungen in ihrem Gehirne, anscheinenden Ähnlichkeiten und geheimen Eingebungen der Parteilichkeit für sich selbst, um derentwillen sie alle Augenblicke ihren eignen Esel für ein Pferd und eines andern Mannes Pferd für einen Esel ansehen. Unter den besagten neunhundertneunundneunzigen sind wenigstens neunhundert, die zu allem diesem nicht einmal ihre eigenen Organen brauchen, sondern aus unbegreiflicher Trägheit lieber durch fremde Augen falsch sehen, mit fremden Ohren übel hören, durch fremden Unverstand sich zu Narren machen lassen, als durch sich selbst vielleicht richtig empfinden wollen; nichts von einem beträchtlichen Teil dieser neunhundert zu sagen, die sich angewöhnt haben, von tausend Dingen in einem wichtigen Tone zu sprechen, ohne überhaupt zu wissen was sie sagen, und ohne sich einen Augenblick darum zu bekümmern, ob sie Sinn oder Unsinn sagen.

Sollte dies etwa nicht genug sein, die Gültigkeit der Ansprüche, die der Mensch an die Würde eines vernünftigen Wesens macht, zu entscheiden: – nun so laß sehen, ob mein drittes Faktum nicht den Ausschlag gibt!

Eine Maschine, ein bloßes Werkzeug, das sich von fremden Händen brauchen und mißbrauchen lassen muß, ein Bund Stroh, das alle Augenblicke durch einen einzigen Funken in Flammen geraten kann, eine Flaumfeder, die sich von jedem Lüftchen nach einer andern Richtung treiben läßt, – sind wohl, seit die Welt steht, nie für Bilder, wodurch sich die Tätigkeit eines vernünftigen Wesens bezeichnen ließe, angesehen worden: wohl aber hat man sich von jeher dieser Bilder auf dem ganzen Erdboden bedient, um die Art und Weise auszudrücken, wie die Menschen, besonders wenn sie in große Massen zusammen gedrängt sind, sich zu bewegen und zu handeln pflegen.

Nicht nur sind gewöhnlicher Weise Begier und Abscheu, Furcht und Hoffnung – von Sinnlichkeit und Einbildung in Bewegung gesetzt – die Triebräder aller der täglichen Handlungen, die nicht das Werk einer bloß maschinenmäßigen Gewohnheit sind; sondern in den meisten und angelegensten Fällen – gerade da, wo es um Glück oder Unglück des ganzen Lebens, Wohlstand oder Elend ganzer Völker – und am allermeisten, wo es um das Beste des ganzen menschlichen Geschlechts zu tun ist, – sind es fremde Leidenschaften oder Vorurteile, ist es der Druck oder Stoß weniger einzelner Hände, die geläufige Zunge eines einzigen Schwätzers, das wilde Feuer eines einzigen Schwärmers, der geheuchelte Eifer eines einzigen falschen Propheten, der Zuruf eines einzigen Verwegnen, der sich an die Spitze stelltSiehe die Geschichte aller großen Revolutionen, Empörungen, Religions- und Bürgerkriege von Anbeginn der bürgerlichen Gesellschaft bis auf diesen Tag.

X.

– was Tausende und Hunderttausende in Bewegungen setzt, wovon sie weder die Richtung noch die Folgen sehen, was Staaten in Verwirrung bringt, Empörungen, Spaltungen und Bürgerkriege verursacht, Tempel, Altäre und Thronen umstürzt, die Werkstätte der Natur und der Kunst verwüstet, und oft die Gestalt ganzer Weltteile verändert.

Durchlaufen wir die große Geschichte der Menschheit oder die Geschichte eines einzelnen Menschenstammes: immer sehen wir Myriaden hinter einem Einzigen herströmen, Myriaden einem Einzigen nachsprechen, Myriaden ihre Hände und Füße nach dem Wink eines Einzigen heben, Myriaden sich mit sehenden Augen für einen Einzigen in den Abgrund stürzen.

Und nun, lieber Danischmend, wenn wir diese drei unleugbaren großen Fakta, die, so zu sagen, der Auszug der allgemeinen Geschichte des Erdenvolks sind, zusammen nehmen, und uns dann fragen: Mit welchem Rechte kann eine Gattung von Geschöpfen, die nach der Vernunft weder denkt noch handelt, die durch fremde und eigene Erfahrung nie klüger wird, immer das Spiel ihrer Phantasien und Leidenschaften ist, immer von mechanischer Gewohnheit oder fremden Kräften in Bewegung gesetzt wird, immer wider ihr eignes Interesse handelt, immer wieder zerstört was sie aufgebaut hat, immer mit dem Steine, den sie den Berg hinauf gewälzt, wieder herunter fällt, um ihn von neuem hinauf zu wälzen, – mit welchem Rechte kann eine so unvernünftige Gattung von Geschöpfen« –

»Halt«, fiel ihm Danischmend ins Wort, »nicht zu früh Triumph gesungen! – Ich gebe zu – muß ich nicht? – daß die Menschen, im Durchschnitt genommen, nie weise gewesen sind, und – wofern nicht ganz andre Anstalten dazu gemacht werden – wenig Hoffnung von sich geben, jemals merklich weiser zu werden. Aber laß es sein! Immer ist noch ein wichtiger Artikel übrig, der unserm Streit eine ganz andre Wendung gibt. Es ist nicht zu leugnen, daß ein gewisser Schwindelgeist, eine gewisse mechanische Tendenz unsre Pferde beim Schwanze zu zäumen ein Erbübel in der Familie Adams ist. Aber man muß wenigstens gestehen, daß unser Herz besser ist als unser Kopf. In der Tat, Freund Kalender, mit aller unsrer angebornen Narrheit, Hastigkeit, und schafmäßigen Einfalt, wären wir doch, von Haus aus, wenn man uns unverhudelt ließe, ganz gute Leute; und auch so, wie die Sachen itzt mit uns stehen, ist Tugend bei weitem so selten nicht als Weisheit

»Tugend, guter Danischmend! Tugend?« – rief der alte Ungläubige: »beim Himmel, ein schöner Name! und, wie ich besorge, auch weiter nichts als ein Name für die meisten Menschen. Einige, schlauer als die übrigen, haben eine hübsche Maske daraus gemacht, die sie geschwinde vors Gesicht nehmen, so oft sie Absichten auf die Dienste, oder den Beifall, oder den Beutel, oder die Weiber und Töchter der ehrlichen blödsichtigen Kauze haben, welche Gesichter und Masken nicht zu unterscheiden wissen. – Kein Wunder, daß diese Leute so viel Eifer für ihre Maske zeigen, immer so viel Aufhebens und Prahlens davon machen! Es ist auch so eine schöne gute Maske! Man kann seine unartigen Leidenschaften und schlechten Streiche so bequem unter ihr verbergen! – Tugend! – Ich verliere alle Geduld, wenn ich die Menschen mit diesem Worte, wie Kinder mit ihrer Puppe, spielen sehe! Die Welt müßte ein andres Aussehen haben, mein guter Danischmend, wenn die Menschen wüßten was Tugend ist!«Daß doch der verwünschte Kalender recht haben muß!

J. C. H.

»Freund Kalender«, rief Danischmend ein wenig hitzig, »Stachelreden sind keine Gründe. Ein Mann, der sich rühmte so viele Menschen gesehen zu haben und keine guten Menschen gesehen hätte, nirgends etwas besseres als Masken der Tugend gesehen hätte, – der Mann müßte sich in einem außerordentlich unglücklichen Zeichen auf den Weg gemacht haben.«

»Damit wir nicht« (sagte der Kalender ganz gelassen) »unvermerkt in den Fall kommen, uns, wie andre Leute, um Worte zu zanken, und um dir zu zeigen, daß ich den Menschen – wiewohl ich ein Kalender bin – nicht einen Titel von dem bißchen Tugend, worin doch ihre beste Habe besteht, zu entwenden gedenke, wollen wir ein wenig näher hintreten, und die Ware, die man uns für etwas so Kostbares gibt, genauer betrachten.

Ich denke, es ist mit der Tugend wie mit dem Golde. Etwas Legierung von Silber oder Kupfer muß immerhin dabei geduldet werden. Aber Gold von sechzehn Karat hört auf Gold zu heißen. Nach dieser Regel möchte wohl ein großer Teil der menschlichen Tugenden für allzu geringhaltig erfunden werden, als daß wir sie im Handel und Wandel für echte probhaltige Tugend passieren lassen könnten.

Viele – und gewiß diese Viele machen bei weitem die Meisten aus – ergeben sich einer gewissen Temperaments- oder Lieblingstugend auf Unkosten aller übrigen, und glauben dadurch, daß sie in Einem Punkte mehr tun als sie schuldig sind, ein Recht zu erhalten, in sieben andern desto weniger zu tun. Ich denke du hast nichts dagegen, Danischmend, wenn ich diese Tugenden sogleich als offenbar unecht ausschließe und bei Seite werfe?

Ein gleiches werden wir wohl auch mit einer Menge vermeinter Tugenden vornehmen müssen, die, anstatt das Gepräge der Natur zu führen, vom Aberglauben oder irgend einem andern falschen Wahn gestempelt sind? Wir werden also keinem Manne, der sich die Augen ausreißt, um nichts zu sehen das ihn zum Bösen reizen könnte, – keinem Menschen, der sich zu einem unbedingten Gehorsam gegen einen andern Menschen verpflichtet hat, – keinem Höfling, der aus Ergebenheit gegen seinen Fürsten sich zu Bubenstücken brauchen läßt, – keinem Patrioten, der aus Liebe zu seinem Vaterlande ungerecht gegen andre Völker ist, – seine Enthaltung, seinen Gehorsam, seine Ergebenheit gegen seinen Fürsten, seine Liebe zum Vaterlande, für Tugend gelten lassen können?

Das Quantum von Tugend, das uns nach diesem Ausschuß übrig bleibt, so viel oder wenig es sein mag, ist das Eigentum zweier Arten von Sterblichen, die in sehr wesentlichen Stücken vollkommne Gegenfüßler von einander sind, – der Weisen, und der Enthusiasten. Beiden, insofern sie aus innerlicher Neigung, ohne Nebenabsicht, Sold noch Lohn, alles Gute zu befördern und alles Böse zu verhindern suchen, kann man einen gewissen Grad von Tugend nicht absprechen. Die Frage ist also bloß, um wie viel sich das menschliche Geschlecht dadurch besser befinde? Laß uns einen Augenblick sehen!

Die Weisen lieben das Gute, und wünschen Gutes zu tun; aber sie unternehmen nichts, ehe sie sich der Möglichkeit der Ausführung versichert haben. Wer den Menschen wirklich Gutes tun wollte, müßte sie erst vernünftig machen können. Nun wäre dies (wie wir gefunden haben) ungefähr so viel, als wenn einer unternehmen wollte Mohren zu bleichen, oder Schnee an der Sonne zu trocknen. Ein Mann, der selbst ein wenig vernünftig ist, gibt sich mit keinen solchen Versuchen ab. Was soll er also tun? – Böses verhindern? – Da hätte er nur das ganze menschliche Geschlecht wider sich. Dies ist zu viel für Einen Mann. Der tapferste Held kann keiner Zagheit beschuldigt werden, wenn er keine Lust hat sich allein einem ganzen Heer entgegen zu stellen. – Nun möcht ich wohl wissen, was seiner Tugend zu tun übrig bliebe! Er tut nichts Gutes, weil er nicht kann; er hindert nichts Böses, weil er nicht darf; er tut selbst nichts Böses, weil er nicht mag: er wird also ein Kalender, und tut gar nichts.

Die Welt gewinnt, wie du siehst, nicht viel durch die Tugend der Weisen. Sollte sie etwann bei der Tugend der Enthusiasten mehr zu gewinnen haben?

Du erinnerst dich doch der Fabel vom Bären, der nicht leiden wollte, daß sich eine Fliege auf die Nase des schlafenden Einsiedlers, seines Freundes, setzte, und, um sie zu verjagen, mit einem großen Steine die Fliege und den Einsiedler zugleich tot schmiß? – Dieser Bär ist, mit deiner Erlaubnis, das Bild jener schwärmerischen Menschenfreunde, die aus tugendhaftem Eifer gegen Irrtum, Unrecht, Unterdrückung und andre Übel, womit sie die Menschheit geplagt sehen, in Einem Jahre oft mehr Unheil anrichten, als in zwanzig Jahren geschehen wäre, wofern sie die Welt hätten gehen lassen wie sie ging. Es ist wahr, ihre Beweggründe und Absichten sind untadelig; ihr Haß gegen das Böse ist so rein, wie ihre Liebe zum Guten; auch ihre Tätigkeit ist an sich selbst löblich. Aber unglücklicher Weise verblendet sie ihr Eifer, ihre Begierde den kürzesten Weg einzuschlagen, über die Wahl der Mittel. Sie erregen einen Sturm, um einen Sperling zu Boden zu werfen, und zünden euch das Haus überm Kopf an, weil sie gehört haben, daß ihr von Ratten geplagt werdet. Die leidenschaftliche Liebe zur Tugend wird unstreitig durch die Schönheit ihres Gegenstandes unendlich veredelt; aber sie behält doch die Natur einer Leidenschaft: alle Leidenschaften laufen mit der Vernunft davon; und ein zorniger oder verliebter Mensch kann, so lang er das eine oder das andre ist, eben so wenig weise sein als ein Verrückter. Die Enthusiasten der Tugend sehen nur Eine Seite der Sache, nur die gute oder nur die schlimme; sehen nicht, daß das Übel, wovon sie uns befreien wollen, bloß die andre Seite eines unendlich wichtigem Guten ist, oder daß es in Betracht der Umstände ein weit kleineres Übel ist, als das Mittel, wodurch man uns davon befreien könnte; und daß das Gute, das sie uns tun wollen, durch Folgen, die der Zusammenhang der Dinge unvermeidlich macht, zum größten Übel werden würde.Der Kalender, wie alle kalte Köpfe, sieht öfters richtig, und sagt manchmal große Wahrheiten. Wenn unsre Leser über diejenige, die er hier sagt, das Beste was vielleicht jemals darüber gesagt worden ist, lesen wollen, so empfehlen wir ihnen den achten Dialogen der Dialogues sur le Commerce des bleds des Abbé Galiani, und, wenn sie eines der besten, lehrreichsten, und zugleich witzigsten und unterhaltendsten Bücher, das seit hundert Jahren zum Vorschein gekommen ist, lesen wollen, das ganze Buch, – welches, im Vorbeigehen gesagt, nicht so viel Eindruck in der Welt gemacht hat, als ein so außerordentlich gutes Buch hätte machen sollen, und dies ohne allen Zweifel bloß deswegen, weil sehr wenig Leute Verstand und Witz genug haben es zu verstehen.

X.

Nicht selten treibt sie ihr Eifer für die gute Sache so weit, daß sie sogar unmögliche Dinge durchsetzen wollen; ein Unternehmen, das natürlicher Weise fehl schlagen muß, und zu nichts hilft, als das Übel, dem man entgegen arbeitet, zu beschleunigen. Sie erhalten nichts, weil sie zu viel wollen; versäumen das Gute, das sie tun könnten, weil sie ein größeres tun wollen, das nicht in ihrer Macht ist; und am Ende findet sich gemeiniglich, daß sie selbst Opfer ihres Eifers geworden sind, ohne die Welt um einen Deut besser zu hinterlassen als sie war.

Es gibt noch eine Art von Enthusiasten der Tugend, die nicht so viel oder vielleicht gar nichts Übels tun, weil sie weniger tätig sind, oder – wie meine Weisen (wiewohl aus einem andern Grunde) – ganz untätig bleiben, und die ich zum Unterschied Virtuosen nennen will. Es sind Leute von feiner Empfindung und hoher Phantasie, die sich eine so schöne und erhabene Idee von der Tugend gemacht haben, daß sie in der Tat zu nichts als zum Anschauen gut ist. Eingenommen von diesem Urbilde des Sittlich-Schönen, fährt ihre Seele vor dem häßlich davon abstechenden Anblicke des wirklichen Laufs der Welt mit Grauen und Unmut zurück. Sie versuchen es vielleicht etlichemal, ihre Lieblingsideen außer sich wirklich zu machen; aber der Lehm, in den sie solche drucken wollen, ist zu spröd und unbildsam, um so feine Formen anzunehmen. Sie verlieren die Geduld über dem öfters mißlungnen Versuch, geben endlich Arbeit und Hoffnung auf, und ziehen sich wieder in sich selbst hinein, um im Anschauen und Anbeten dieser göttlichen Urbilder einer Wonne zu genießen, die ihnen nichts, was weniger vollkommen ist, gewähren kann.Wo ein Mann, wie dieser Kalender, dies alles wohl hernahm?

F.

Kennen wir nicht einen Mann, der ein gelehrtes Buch vom Licht und von den Farben schrieb, und blind gewesen war von seiner Geburt an bis an seinen Tod?

A.

In diesem Zustande ist ihnen so wohl, daß sie sich zuletzt gar nicht mehr entschließen können, einen so seligen Müßiggang mit dem mühvollen Nichtstun des beschäftigten Lebens zu vertauschen. Und so gehen auch diese Virtuosen, mit aller ihrer Liebe zur idealischen Tugend, für die Welt verloren; und das größte Verdienst, das man ihnen zuschreiben kann, ist, daß sie zuverlässig nichts schlimmer machen als sie es angetroffen haben.

Man wundert sich oft, wie es komme daß die vereinigten Kräfte der Weisen und Tugendhaften die Welt in so langer Zeit nicht haben besser machen können. Nichts ist begreiflicher als wie dies kommt, so bald man weiß woher es kommt. Die Weisen ziehen sich aus Klugheit zurück und bleiben untätig, weil sie nicht Lust haben Wasser mit einem Siebe zu schöpfen, oder durch eine Mauer zu gehen, in die sie sich erst mit ihrer Nase eine Öffnung bohren müßten. Die Virtuosen kriechen aus Unmut in ihre Schale, und – lassen sich was träumen. Die Enthusiasten springen zwar mit dem ganzen Feuer ihres guten Willens mitten in die Welt hinein, stürzen alles zu Boden was ihnen im Weg ist, hauen und schwadronieren links und rechts um sich her, treffen Feinde und Freunde, und machen in Einem Tage ein größeres Stück Arbeit, als gelaßne Leute vielleicht in hundert Jahren machen würden: aber man hat noch immer von Glück zu sagen, wenn das Gute, das sie tun wollten, sich gegen den Schaden aufhebt, den sie wirklich tun. Wo bleibt nun der Grund sich zu wundern, daß selbst die Besten der Welt so wenig Nutzen schaffen? Nimmt man nun noch dazu, daß diese Besten – die denn am Ende doch selbst arme Erdenklöße sind so gut wie andre – ein so kleines Häuflein machten wenn sie alle beisammen wären, daß sie auf einer allgemeinen Tagsatzung des menschlichen Geschlechts, mit einem Mehr von fünfhundert Stimmen gegen Eine, zur Welt hinaus votiert wurden: so erhält die Sache vollends ihr unwiderstehliches Licht.

Es klingt nicht fein, mein lieber Danischmend; aber du siehst, es kann nicht anders sein: – die Grimassenmacher, Quacksalber, Gaukler, Taschenspieler, Kuppler, Beutelschneider und Klopffechter teilen sich in die Welt; – die Schöpfe recken ihre dummen Köpfe hin und lassen sich scheren; – die Narren schneiden Kapriolen und Burzelbäume dazu, – und die Klugen gehen davon und werden Einsiedler, oder, wenn sie nichts bessers wissen, Kalender.«Welches alles (wie der geneigte Leser ohnehin gemerkt haben wird) figürlicher Weise und allegorice gesagt ist, und freilich cum grano salis gedeutet werden muß.

Bucephalus

Ich gedenke einen Kommentar darüber zu schreiben.

M. Skriblerus


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