Christoph Martin Wieland
Geschichte des Weisen Danischmend und der drei Kalender
Christoph Martin Wieland

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15. Kapitel

Ein Familienstück

Während die beiden Philosophen so zusammen schwatzten, hatte Danischmend seinen Gast durch verschiedene krumme Fußpfade unvermerkt bis zum Eingang einer ländlichen Wohnung geführt, die nicht ganz so gut, und nicht ganz so schlecht aussah, daß ihr erster Anblick nicht den Gedanken hätte erregen können, sie möchte wohl das Obdach glücklicher Menschen sein.

Es war ein schöner Sommermorgen. Die ganze Familie war in einer großen Laube versammelt, die von Rosengebüschen und etlichen in die Runde gepflanzten Bäumen formiert wurde. Niemand wurde der seitwärts heran kommenden Fremden gewahr. »Stellen wir uns hinter diesen Busch«, flüsterte Danischmend dem Kalender zu, »und sehen was es hier gibt.«

Ein ehrwürdiger alter Mann, eine gute Hausmutter von vierzig Jahren, ein Mädchen von achtzehn, blühend wie ein Frühlingsmorgen, ein junger Landmann aus einem benachbarten Dorfe, der bei dem Alten um sie anhielt, und etliche jüngere Geschwister des Mädchens, machten eine so schöne Gruppe, als jemals von einem Maler in Athen, Paris oder Peking gezeichnet, gemalt oder gesudelt worden sein mag.

Das Mädchen stand zwischen ihrem Liebhaber und ihrer sitzenden Mutter, die den linken Arm der Tochter mit ihrem rechten umfaßt hielt und mütterlich drückte. Der rechte Arm des Mädchens war mit dem linken des Jünglings verschränkt. Mit halb geschloßnen Augen schien sie, in süßer Unentschlossenheit der Natur, zwischen ihrer Mutter und ihrem Liebhaber zu schweben; und doch verrieten ihre auf der nervigen Hand des Jünglings spielenden FingerIch wollte gleich alles wetten, daß der Autor dies Gemälde dem Greuze abgestohlen hat.

Ein Kupferstichsammler

den ihr unbekannten aber mächtigem Zug des Instinkts. Ihr ländlicher Anzug, leicht und schneeweiß, bedeckte sittsam die schönen Formen ihrer Gestalt ohne sie zu verbergen, und erhöhte die Lebhaftigkeit ihrer schwarzen Augen und schwarzen Locken. Eine Rose an ihrem halb offnen Busen machte ihren ganzen Putz aus. Eine von ihren Schwestern, ein sanftes Mädchen, vom Gedanken der Trennung ganz verschlungen, lehnte das traurige Gesicht voll schwesterlicher Liebe auf ihre linke Schulter, indem sie den rechten Arm fest um ihren Nacken schlang.Der leibhafte Greuze! – Aber warum hat man die andre Schwester weggelassen, die hinter des alten Vaters Stuhl hervor guckt, und den Bräutigam und ihre glückliche Schwester mit so neidischen Augen anglotzt, daß man ihr gleich ein paar Ohrfeigen geben möchte? – Vermutlich hoffte man durch solche Weglassungen den Diebstahl desto eher zu verbergen?

Ein Kenner

Der Kenner beweist sich als einen wahren Kunstrichter. Unter zwei möglichen Erklärungen muß man allemal die wählen, die dem Autor die nachteiligste ist.

Pantilius Cimex

Die Mutter sagte nichts; aber ihre Augen, die mit Tränen erfüllt von der geliebten Tochter zum Vater und vom Vater zur Tochter irrten, sagten in der mächtigen Sprache der Natur: O Vater, wie kann ich mich von diesem Liebling meines Herzens trennen?

Dies alles zusammen machte den ersten Anblick aus, der sich unsern ungesehenen Zuschauern darstellte. Danischmends Herz war ganz in seinen Augen.

Der alte Vater – man wurde sein Freund beim ersten Blick auf sein ehrliches altväterliches Gesicht und sein lockig silbergraues Haar – wandte sich, mit einer Bewegung, wovon seine grauen Locken ihren Reif um seinen Nacken schüttelten, an die Mutter. – Der junge Mensch war der Sohn seines verstorbenen besten Freundes, ein fleißiger, rüstiger, wohlgemachter Bursche; er liebte das Mädchen so herzlich, und das Mädchen war ihm schon lange heimlich gut, und war ein Mädchen von achtzehn Jahren, strotzte von Gesundheit und Jugend – und er, der Vater, war ein alter Mann, der noch gern die Freude erleben wollte, die Kinder seiner Tochter um seine Kniee herum spielen zu sehen. – Dies alles stand in seinem Gesichte geschrieben.

»Gute Mutter«, sagte er mit einem warmen Ausdruck im Gesicht, und einem Tone, der so unmittelbar zum Herzen ging wie er aus dem seinigen kam, – »gute Mutter«, sagte er, indem er beide Arme gegen sie ausbreitete: »was wollen wir machen? Sie lieben einander; er ist ein braver Junge; sie ist ein gutes Mädchen; wollten wir sie hindern glücklich zu sein?«

Die Mutter lächelte ihre Einwilligung mit weinenden Augen, und drückte des Mädchens Arm mit beiden Händen. Das Mädchen zitterte wie Espenlaub.

»Da, mein Sohn«, sprach der Vater zum Jüngling, der mit sprachloser Rührung sich gegen ihn neigte: »da, nimm sie, mein Sohn; sie ist dein! ich gebe dir das Liebste was ich habe. Bewahre und liebe sie wie deinen Augapfel. Und du, Mädchen, sei eine fromme Ehegattin, eine gute Mutter, wie du immer eine gute fromme Tochter warst: und so segne euch der allmächtige Gott!«

Danischmenden rollte aus jedem Aug eine Träne über die Backen. Er konnte sich nicht länger ruhig halten. Auch der Kalender schien nicht ganz unempfindlich zu bleiben. Aber er hatte nun einmal die traurige Gewohnheit, ein bloßer Zuschauer zu sein. – »Schleichen wir uns wieder fort«, sagte er leise zu Danischmenden: »wir würden die guten Leute nur stören.«

»Nur stören?« – rief Danischmend. »Du kennest diese guten Leute nicht! Sie wissen nichts von der falschen Scham, die frommen Überwallungen der Natur und des Herzens vor fremden Blicken zu verbergen. – Guten Morgen, redlicher Alter, deine Hand! Guten Morgen, Nachbarin! Das ist ein schöner Tag, an dem Eltern ihre Kinder glücklich machen! – Nicht wahr, guter alter Vater, du fühlst dich beim Anblick dieser jungen Leutchen um dreißig Jahre verjüngt? – Sie werden die Freude eurer alten Tage sein; ihr werdet in ihren Kindern wieder aufleben!« – Das Mädchen errötete bis an die Ohrläppchen und verbarg sich hinter ihrem Bräutigam. – »Seht doch die kleine Heuchlerin, die uns nicht sehen lassen will wie glücklich sie ist! Aber zu ihrer Strafe werd ich bei ihrer Hochzeit sein, und Perisadeh soll die Braut in die Kammer führen helfen.«

Die guten Leute dankten Danischmenden in ihrer ehrlichen kunstlosen Herzenssprache; und, nachdem er sich eine Weile freundlich nach allen ihren kleinen Angelegenheiten erkundigt hatte, schied er von ihnen, von der ganzen Familie bis an die Grenze ihres Eigentums begleitet. Die jüngern Kinder brachten ihm Grasblumen, hingen sich das eine an seine Hand, das andre an seinen Rockzipfel. Alte und Junge liebten ihn als ob er zu ihnen gehörte.


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