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Das Grosse Los

Baku schien in Meergeruch und Herbstsonne zu schlafen, nur das Mohammedanerviertel lärmte – ein grosser orientalischer Farbentopf –. Hungrig, mit den letzten fünfundzwanzig Rubeln in der Tasche, machten wir Bettelbesuche bei Hassans Bekannten. Man sagte uns viele schöne Worte, schwülstige, höflichkeitstriefende Begrüssungen und Redensarten, gab gute Ratschläge, die so schlecht und billig sind, nur um die Hilfesuchenden abzuschütteln.

Wieder zwanzig Rubel verschlang ein anrüchiges Absteigehotel. Mit kranken Gedanken lag ich schwach in leisem Fieberschauer auf einem Bett. Morgen begann das richtige Elend, nichts zu essen, kein Dach über dem Kopf – raus auf die Strasse und an einer Mauer verenden wie ein Hund.

Aber wenn die Not am grössten ist, ist irgendeine Hilfe ganz in der Nähe. Und auch diesmal kam die Hilfe.

Hassan polterte erregt in das Zimmer: »Ein inguschischer Student wird euch gleich zu einem Ingenieur bringen.«

In einem richtigen Salon, der beinahe seinen Platz in Europa behaupten konnte, wurden wir liebenswürdig und herzlich von einem tatarischen Ingenieur begrüsst. Die Salontür ging auf, und herein trat in grauem Sommeranzug ein Herr. Vollbart, Zwicker, Haltung liessen unschwer den Deutschen erkennen – Oberlehrer oder so etwas.

»Habe die Ehre, Oberstleutnant K., aus Krasnojarsk entflohen!« Donnerwetter – wir sprangen auf und bemühten uns, unserer lange vernachlässigten Haltung militärische Strammheit zu geben. Nach gutem Essen am gastfreien Tisch des Tataren plauderten wir sorglos über unsere Erlebnisse. Schiffbrüchige, die, dem Tode entronnen, matt am Strande liegen, müssen Ähnliches empfinden wie Kriegsgefangene, die, momentaner Gefahr entrückt, Leidensgefährten treffen, alte Schicksale auskramen und mit sehnsüchtigen Gedanken heimwärts wandern.

Mit einer Selbstverständlichkeit, die echte Kameradschaft nicht anders kennt, richtete der Oberstleutnant uns in seinem Hotel ein Zimmer ein, in dem wir den Wanzen mit Petroleum das Leben verekelten.

Das Kaspische Meer rauschte ganz nahe. Ein Samowar verbreitete summend Gemütlichkeit. Zwischen Perserteppichen malte der Oberstleutnant an einem Zukunftsbilde mit hoffnungsfreudigen Farben. Nur ein wenig Glück noch, ein ganz, ganz klein wenig, und die Heimat lohne Mühen und Entbehrungen, Angst und Verzweiflung.

Ein Tag lachte den anderen an, als hätte es nie schlechte Zeiten gegeben. Bei einem gastfreien Tataren Dieser Tatar ist der bekannte Petroleum-Millionär Isabek Aschurbekoff, Baku, Poststrasse 25., der Millionen und seinen klugen Kopf in den Dienst seines Volkes stellte, bezogen wir eine ganze Etage. Ein Diener kümmerte sich um unser Essen, wir hatten breite weiche Betten, Geld und geheimnisvolle Arbeit Die geheimnisvolle Arbeit bestand in Plänen und Handlungen, um Russland für Deutschland das Petroleumherz Baku fortzunehmen. Über diese Pläne hielt der Verfasser am 23. Februar 1918 in Kreuznach Vortrag vor Hindenburg und Ludendorff. bis über die Ohren. Aus den entschlafenen Tagen quälte nur noch ein Übel – Läuse – aus dem Nordkaukasus, aus Batum, Sorokomüsch und Tiflis. Hunderte von Eiern brüteten, in den Falten unserer Kleider versteckt. Mit einem elektrischen Bügeleisen zischten wir sie tot – alle.

Die Feierabende brachte der Oberstleutnant musizierend bei Deutschen zu, Reiss und ich gingen in ein Kino oder sassen an der Strandpromenade und sahen die russischen Wasserflugzeuge über die grünen Wellen tanzen.

Zehn Tage reiste ich durch das Tatarenland, überall als Deutscher fürstlich empfangen und mit überströmender Gastfreundschaft verwöhnt. Prachtvolle Gastgeschenke, Dolche mit eingelegter Goldarbeit, bunte Teppichgemälde, an denen fleissige Frauenhände oft jahrelang geknüpft hatten, warten, dass ich sie nach dem Frieden hole. Aus traumhaft schönen Sonnenuntergängen in den südkaukasischen Bergen um Schuscha, die in ihrer unberührten Wildheit das Herz stocken machen, war ich einen Tag im flinken Landauer zur Bahn gerollt und wieder in Baku eingetroffen.

Der Morgen graute. Das Kaspische Meer hauchte lange, nasse Nebelstreifen dem eilenden Zuge entgegen. Den misstrauischen Fragen eines russischen Offiziers über die Echtheit meiner Tscherkessenabstammung setzte die Ankunft ein Ziel.

Ich drängte mich durch die wogende Bahnhofsmenge, die noch Morgenschlaf in den Augen hatte. Das Auto, das mich mit zweien unserer Agenten erwartete, sauste durch das erwachende Baku.

Das Meer gluckste grün an der Mole. Weisse Möwen überschlugen sich im Daseinstaumel in den Wellen, Dampfer schaukelten schlaftrunken an klirrenden Ankerketten. Der Morgen blendete im Osten. Mit roter Feuerhand fuhr die Sonne durch die Wolken und trieb die weichende Nacht zur Eile.

Rechts von meiner Bank erwachten sieben Hangare, russische Wasserflugzeugschuppen, Türen fuhren auf kreischenden Rädern auseinander. Neugierig reckten die Wasserflugzeuge ihre Flügel, plumpsten ins Wasser, donnerten und hüpften über die spritzende Flut.

Der Himmel war ein grosser, blauer Sonnenschirm mit einem roten Klecks – das war die Sonne. Weisse Pünktchen fielen aus dem blauen Sonnenschirm, wuchsen, machten Lärm und stürzten mit brummenden, sich drehenden Schnäbeln ins grüne Wasser, schwammen, donnerten und kletterten wieder in den blauen Sonnenschirm, bis sie ganz winzig wurden.

Zu Hause sass der Doktor über Pläne und Statistiken gebeugt.

Dumpfes Singen scholl von der Strasse: »Ali, Ali«. Dazu trampten viele Schritte einen gleichmässigen, hohlen Trauertakt. Der Doktor holte mich auf den Balkon und erzählte vom berühmten Husseinfeste, dem persischen Religionsfest, das mit Geisselung anfängt und mit blutigen Selbstmetzeleien endet.

Die Tritte dröhnten näher, der Gesang lauter. Grüne, flatternde Farben bogen um die Strassenecke und zogen viele, in lange schwarze Gewänder gehüllte Männer nach sich. In die Rücken der schwarzen Gewänder waren viereckige Löcher geschnitten, aus denen weisses Fleisch schimmerte. »Ali, Ali«, sangen die Männer, kettenbehangene Stöcke klirrten über den Köpfen und hieben klatschend rotes Blut aus den schwarz umrahmten Rückenfenstern.

»Ali, Ali« – klatsch, klatsch – klirrten die Ketten zum gleichmässigen Stampfen der Füsse. Unter blassen Stirnen hockte Religionswut mit flackernden Augen.

»Ali, Ali« – klatsch, klatsch – Allah, der Ewiggütige, der Allweise, sah nieder auf religionstolle Menschen.

Dreissig Tage schritt er dumpf durch die Gassen und geisselte seine Frommen. Dann kam der grosse Sonntag mit lachender Sonne und Herbstjubel.

Ich stand mit dem Oberstleutnant, von der Sonne geblendet auf der breiten Moscheetreppe unter Hunderten schweigender Gläubigen. Die flachen Dächer der umliegenden Mohammedanerhäuser waren schwarz von gaffenden Menschen. Vor der Moschee, im Kreise der hockenden Gläubigen, heulte ein Derwisch die Tragödie Husseins, Taschentücher flatterten an die Augen, ein Stöhnen ging durch die Menge und in hellem Weinen über den Platz. Ein Mann weint, wenn ihn niemand sieht. Hier heulten Hunderte, weil vor Urzeiten ein Heiliger ermordet wurde. »Ali, Ali« – klatsch, klatsch – die Geissler zogen auf, griffen sich an die Hände und wirbelten einen irrsinnigen Tanz.

 

Da – was war das? Der Doktor wirbelte zwischen zwei schwarzen Kerlen – »Ali, Ali«, immer im Kreise herum. Die Fanatisierten hatten ihn für einen echten Mohammedaner gehalten und mit in ihren Tanzwirbel gerissen.

Durch die schwarzen Geissler drängten sich zwanzig Männer in langen weissen Kleidern, mit glattrasierten Schädeln, blinkende Schwerter in den Händen.

»Ali, Ali« – die Schwerter glitzerten durch die blaue Luft, züngelten über die blanken Schädel, Blut sprang auf und rieselte rot über verzerrte Gesichter und weisse Gewänder.

Immer wieder säbelten die Schwerter, immer röter wurden die Gewänder und blasser die Gesichter. Die Menge stöhnte und weinte.

Die Selbstmetzler taumelten, die blutigen Schwerter wurden ihnen entrissen. Einige hockten, matt vom Blutverlust, am Boden – andere schritten aufrecht, mit blutverschmierten, stolzen Gesichtern, durch die Menge der schluchzenden Gläubigen. Allah konnte zufrieden sein mit seinen Knechten.

Am Nachmittag fuhren die Säbeltollen in Droschken durch die Stadt, noch etwas bleich, mit blutdurchtränkten Tüchern um die zerhackten Schädel.

Der 30. Oktober lag schicksalschwanger über dem Meer. Die Köpfe voll wichtiger Nachrichten, die Taschen reichlich gefüllt mit Geld und Gold, standen wir am Kai in der untergehenden Sonne, der Doktor und ich in neuen Tscherkessenkleidern, der Oberstleutnant als Stellung suchender Musiklehrer und Kinoklavierspieler.

Der Dampfer tutete, wir gingen über den Landungssteg zur letzten Fahrt in Russland.


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