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Der Winter taute, Frühlingsstürme brachten Revolution. Hinter der Planke neben meiner Baracke wurde ein Hauptmann von seinen Soldaten erschlagen. Rote Fahnen leuchteten blutig auf den Häusern der Stadt – eine neue Zeit, anders als andere, vielleicht schrecklich.
Mein Schatten fiel von mir ab, da sich die Konvois weigerten, besonderen Dienst zu leisten. Jetzt war es wieder Zeit, zu schaffen, Gedanken und Hände zu rühren.
Die russische Post beförderte wieder Briefe nach X., die nur meinen Freundinnen verständlich waren. Bei einer jungen Deutschen Heute lebt sie als Frau eines deutschen Kriegsgefangenen in Westfalen., die aus Patriotismus Kriegsgefangenen half, sammelte sich Geld, das mir über X. und direkt aus Moskau oder Dorpat geschickt wurde.
Eines Tages zog ein österreichischer Offizier in Mannschaftsuniform in meine Baracke.
Bleich, etwas menschenscheu stand er da. In Kleidung, Haltung, Gesicht war ein Schicksal zu lesen.
Vier Monate hatte er nach missglückter Flucht unter Spionageverdacht im Zuchthaus gesessen. Er war sehr müde und halb verhungert. Weil er mir ausnehmend gut gefiel und wir Leidensgenossen waren, nahm ich ihn in meine Box, in der das zweite Bett leer geworden war.
Ohne viele Worte beschnüffelten wir uns gegenseitig, malten Strich um Strich an unsern Bildern.
Ruhige, kluge Augen blickten unter einer hohen Stirn, einem wahren Palast für grosse Gedanken. Hinter dieser Stirn lebten acht Sprachen, scharfe Beobachtung, Kritik und vielseitiges Wissen.
Er imponierte doppelt, weil er bei all seinem Wissen bescheiden war, gleichsam beiseitestand.
Aber ein Leiden quälte ihn, von dem er nie sprach. Ich sah es in seinen Augen, wenn er mit schlanken Fingern Geige spielte, einige Töne nur, wenn er sich unbeobachtet glaubte, und diese Töne sprachen, für mich wenigstens.
Das war der Doktor Joseph Reiss, Doktor der Rechte und Philosophie und nebenbei guter Menschendoktor. Russland kannte er wie seine Hosentasche und sprach ein feines, akzentfreies Russisch, wie es selbst wenige Russen kennen. Einige Tage liess ich ihn ausruhen, den Druck des Zuchthauses, der noch wie Halbschlaf auf ihm lag, weichen. Dann machte ich mein Angebot, denn solchen Begleiter bekam ich zum zweitenmal nicht wieder.
»Doktor, Sie wollen wieder fort, gehören nicht zu den Entnervten, Niedergekämpften. Ich habe Geld und Verbindungen in der Stadt. Wir geben ein glänzendes Gespann ab, Sie mit Ihrer besonnenen Ruhe, Ihren Sprach- und anderen Kenntnissen und ich mit meiner Frechheit, Anpassungsfähigkeit und einem nicht totzukriegenden Optimismus.«
Er sagte zu, und wir gingen vorsichtig und unbemerkt ans Werk.