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Wieder wie vor einer Woche rollten wir durch schlafenden Mais. Bleicher Mond stand über den Bergen, Murmeltiere pfiffen. Hassan schoss in die Luft, dass die Schluchten Echo grollten. Vergnügt strich er sich den langen Schnurrbart, hatten doch dem Abergläubischen vor der Abfahrt die Karten einen guten Ausgang bedeutet. Mohammed, der zweite Begleiter, hockte in düsterem Schweigen auf dem holpernden Wagen. Seine niedrige, unintelligente Stirn lag in tiefen Falten. Seine Dummheit konnte wenig helfen, aber je mehr echte Inguschen uns begleiteten, desto besser: denn so brauchten wir nicht jedem Kaukasier auszuweichen, und die drei wussten am besten, in was für ein Mäntelchen wir zu kleiden waren – je nach Bedarf und Gegend Inguschen, Tscherkessen, Assetiner oder Kabardiner. Immer waren wir Angehörige eines Stammes, der fern von dem durchzogenen Gebiete hauste, und es fiel nicht auf, wenn wir untereinander russisch sprachen.
Aus der Nacht wuchs der hohe Kaukasus in den blendenden Tag. Eine Kleinbahn mühte sich prustend in ein breites Felsengewirr, über dem fünftausend Meter hoch die ewigen Eisberge des Kasbek starrten.
Zwei Tage wogten kaukasisches Völkergemisch und Russen in Wladikawkas um uns.
Vier Pferde wirbelten Staubfahnen vor einem grossen Landauer auf, die grusinische Heerstrasse wand sich breit, uralt und sieghaft durch Felsen, über schäumende Bergwässer, kletterte auf schwindligen Brücken immer höher in den Kaukasus. Lange Reihen mit Heu und Proviant beladener russischer Trainwagen zogen staubend in den Türkenkrieg. In den Felswänden kletterten tollkühne Bergziegen, wie kleine Punkte stiegen sie in schwindelnden Höhen. Untergehende Sonne machte aus den grauen Felsen glühende Farbenfackeln. Dann lächelte der Mond ein rätselhaftes Lächeln über breite Schneehalden, die tosende Eisbäche in die Täler stürzten. Fels- und Eiskompositionen, über denen riesige Adler mit breiten Flügeln rauschten, märchenhaftes Gebirge, doppelt märchenhaft in seiner Unberührtheit, die nur pfeifende Murmeltiere durchschritten, springende Steinböcke und der gehetzte Fuss eines Räubers, der aus seinem Felsennest steigt, um den Reisenden seinen Bergzoll abzunehmen.
Über dreitausend Meter hoch froren wir jämmerlich und hüllten uns in unsere dünnen Schlafdecken, durch die die Gletscher eisig hauchten. Um zwei Uhr morgens hielten die müden Pferde am Fusse des Kasbek, der schönsten Bergstation der Welt. Was sich hier im bleichen Mondschein an glitzernden Eispalästen auf breiten Schneeteppichen türmte, wie die tosenden Wasser in bodenlose Tiefe stürzten, beschreiben keine Worte.
Die Heerstrasse sank in Serpentinen zu Tal, die Gletscher zogen ihre Eisarme zurück, es wurde wieder grün und die Sonne kochte unter unglaublich blauem Himmel.
Im breiten Felsental steigt aus der Ferne die Silhouette einer grossen Stadt: Tiflis, die alte Königsstadt der Grusiner. Hoch über ihr im blauen Farbentopf kreiste ein glitzernder Riesenvogel – ein russisches Flugzeug.
Menschen lärmten, als wüssten sie nichts von den Einsamkeiten des Hochgebirges, überall Sonne, Lachen, Sommerkleider, ein betäubender Duft südländischer Früchte. Der Landauer fuhr in die Poststation. Wir stiegen aus und regten die in zweitägiger Fahrt eingeschlafenen Beine.
In zwei Gruppen strebten wir dem Stadtinneren zu, der Doktor und ich einen alten, schäbigen Kartoffelsack mit unseren Habseligkeiten auf dem Rücken. Unsere Begleiter stiegen in eine Elektrische, aber der Doktor und ich wurden mit unseren Säcken unter lebhaftem Protest wieder auf die Strasse gesetzt. Ismael fuhr voraus und sagte, dass wir der Straßenbahn entlang folgen sollten. Plötzlich teilten sich die Schienen. Wo weiter? Wir gingen natürlich falsch und betraten eine breite, baumbestandene Promenade. Glitzernde Schaufenster lockten mit dem ganzen raffinierten Luxus Europas. Geputzte Menschen, wie sie nur Grosstädte kennen und züchten, drängten schwatzend und lachend durcheinander, schlanke Autos schoben sich mit leise zitternden Motoren langsam über den Asphalt, elegante Dogcarts und Equipagen rollten hinter prachtvollen Vollblutpferden – über all dem ein Duft von Parfüm und Blumen, sorgloses Lachen und Flirten – Klein-Paris mitten im Kaukasus.
Lange warteten wir auf Ismael und schämten uns ganz kindisch unserer Kartoffelsäcke. Das Leben machte wieder mal seine lächerlichste Fratze: ein königlich preussischer Leutnant mit einem schmutzigen Kartoffelsack auf dem Rücken mitten im Tifliser Mittagsbummel.
Endlich kam Ismael und brachte uns in ein überfülltes Hotel mit zahllosen Fliegen, Wanzen und Flöhen, am Rande des Mohammedanerviertels. Perser mit rasiertem Schädel, Tataren, Türken, Inder drängten in den schmalen Gassen und boten schreiend ihre Waren feil. Aus den Läden strömte betäubender Geruch von Früchten und Tee. Überall eine orientalische Sammlung von Farben und Schmutz.
Nach zwei Tagen hatte Ismael vom russischen Generalstab durch Bestechung einiger Schreiber auf Grund unserer Pässe Scheine zum Betreten der kaukasischen Front erhalten.
Um Mitternacht pressten wir uns in einen überfüllten Zug, um unsere angeblichen Trainwagen in Trapezunt zu suchen. Zwischen russischen Offizieren eingeklemmt, die in den Türkenkrieg zogen, fuhren wir in die Nacht.
Wenn alles gut ging, konnten wir in einer Nacht von Batum aus zu Schiff Trapezunt erreichen. Half der Ingusch, mit dem Ismael rechnete, nicht, so würde sich schon eine bestechliche Feldwache finden und sonst eine Gelegenheit, um unter dem Drahtverhau hindurch zu den Türken zu kriechen.
Eine Passrevision löste die andere ab. Fast nur Offiziere revidierten, und an der Schärfe der Kontrolle merkte man die Nähe der Front. Meist stellte ich mich schlafend, und der Doktor, der ja einwandfrei echt wie ein Tscherkesse aussah, zeigte die Pässe vor.
Mit dem Morgengrauen huschte ein leises Rauschen in das Abteil, der Zug donnerte aus einem Tunnel – da lag das Schwarze Meer und sprang murrend mit Schaumkronen an das felsige Ufer.
Der Zug hielt, wir waren in der Festung Batum. Durch die nachtschlafenden Strassen bringt uns Ismael nahe am Bahnhof in ein Hotel. Vom Fenster sehen wir dunkle Masten ragen, die leise im Wellenschlag schaukeln.
Die Sonne schaute über den Kaukasus und warf Strahlenbündel nach Westen über das Schwarze Meer – dort, wo Freiheit war, alle Hetze, alles Verfolgtsein aufhörte.
Nur zum Essen gingen wir in ein benachbartes Restaurant und langweilten uns halbtot in dem schmutzigen, von Ungeziefer starrenden Hotelzimmer. Ismael kam von der Kommandantur zurück. Man wollte uns nicht die weiteren Papiere zum Betreten von Trapezunt geben. Bestechung war zu gefährlich, denn fasste man uns hier mitten in der Festung, so konnten wir uns Batum leicht von einem Galgen aus besehen. Alle möglichen Pläne wurden erwogen: ein Boot stehlen und an Trapezunt vorbeirudern, bis wir in türkische Gewässer kamen?
Ismael traf einen bekannten Inguschen, der als Kolonnenführer mit mehreren Landsleuten nach Trapezunt reiste. Drei von diesen Leuten sollten mit unseren Pässen in Batum bleiben und wir mit den ihren unser Heil versuchen. Das Projekt zerschlug sich am Geldpunkte. Die Leute forderten derartige Preise, dass wir ohne Geld in Trapezunt angekommen wären und vielleicht aus Geldmangel nicht vor- noch rückwärts konnten.
Zu viele Menschen wussten nun von unserer Anwesenheit in der Festung. Wir machten uns aus dem Staube und waren nach fünf Tagen wieder in Tiflis.
Ismael, der sein gegebenes Wort zu halten bemüht war, wollte den letzten Versuch machen: über Erzerum.
Von neuem bekamen wir vom russischen Stabe mit Hilfe von Bestechung Frontpapiere unter Angabe, dass sich unsere Trainwagen nicht bei Trapezunt, sondern bei Erzerum befanden.
Am Endpunkt der Vollbahn, dicht an der alten türkischen Grenze, versteckte uns Ismael in Sorokomüsch (der »Vierzig-Mäuse-Stadt«) bei inguschischen Landsleuten, die für die Russen Proviant fuhren. Mitten in einem riesigen Stapellager – ganz Sorokomüsch war ein umfangreiches Barackenlager, in dem es von Militär und Etappen wimmelte, von Proviant und Heu – hausten wir in einer offenen Scheune. Von den felsigen Bergen hauchten kalte Winde, in den Nächten zitterten wir vor Kälte an einem spärlichen Feuer. Hier, hoch in den Bergen, war eisiger Herbst, und es roch nach Schnee.
Hassan verschwand, um auf halsbrecherischen Felspfaden in die Schlupfwinkel der Berge zu einem Kurdenfürsten vorzudringen. Auf uns lastete ein Ahnen neuer Enttäuschungen. Wir sollten Erzerum nicht sehen.
Nach zwei Tagen sprang Hassan von einem abgehetzten Gaul. Der Kurdenfürst, der uns auf Schmugglerwege durch die schon schneeverhüllten Zuckerberge zu den Türken bringen sollte, war von Kosaken beraubt und ausgeplündert worden. Seine beiden Söhne, die die Russen bei einem Kriegsgefangenentransport erwischt hatten, sassen auf acht Jahre im Zuchthaus. Der Fürst konnte und wollte uns nicht helfen.
Wir sassen fest, rettungslos fest. Schauerliche Nächte vergingen, in denen ich ohne Mantel schlaflos am Feuer fror, das ich nach und nach mit dem halben Schuppen heizte. Eisige Winde heulten um die Felsen, dann kam Schnee und Frost, der uns ganz stumpf fror. Hungrig – wir bekamen nur Tee und Brot, denn in die Barackenstadt, in der es von Soldaten und Armeniern wimmelte, trauten wir uns nicht – liefen wir in der zugigen offenen Scheune auf und ab.
Ein Elend: Schnee, Frost, Hunger und Gefahr, erwischt zu werden! Tausende von Kilometern waren wir gelaufen und kurz vor dem Ziel zusammengebrochen. Es war zum Verzweifeln, aber wir waren zu stumpf zum Weinen. In meinen Adern schlich Fieber, rote Flecke brannten auf meinen bleichen Wangen, Tag um Tag sog eine blutige Ruhr an den letzten Kräften.
Ismael wollte uns in sein Dorf zurückschicken und als Gäste bis zum Frieden beherbergen. Wir dachten an Persien, wussten aber nicht, wie und wohin.
Am zehnten Tage, als ich hinter der Scheune auf einige wärmende Sonnenstrahlen lauerte, die ab und zu durch die grauen Schneewolken brachen, setzte sich ein fremder Ingusch zu Reiss. Der Doktor blieb einsilbig, wussten doch schon zu viele von der Anwesenheit flüchtiger Offiziere in Sorokomüsch.
Zufällig sprach der Fremde von Persien. Der Doktor horchte auf. Der Ingusch war in Persien gewesen und meinte, dass uns doch dieser Weg noch bliebe; ja, er wollte uns selbst führen und zu einem Tataren bringen, der als russischer Offizier und – wie ihm bekannt – türkischer Spion am besten helfen konnte.
Aus dem winterlichen Sorokomüsch landeten wir zum dritten Male in Tiflis, das unter warmer Herbstsonne fröhlich lärmte.