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Pech bleibt Trumpf

Einige Tage kochte die Sonne, goss Hitze aus goldenen Tiegeln. Aus wolkenlosem, hitzestarrendem Himmel regnete es Sonnen. Man ging zwischen tausend goldenen Wärmestrahlen, die wie ein Gitterwerk vom Himmel hingen.

Die Menschen wurden blöd und bewegungslos. Eine große, feurige Sonne füllte den Kopf, verbrannte alle Gedanken. Im Sande lagen nackte Gestalten, braun, schweißglänzend, mit roten Flecken in der Mitte – Badehosen. Von den Latrinen und Küchen breitete sich Gestank über das Lager. Träge kroch er herum, nahm alles in Besitz.

Ein Wind sprang aus einem Sandloch, lachte, schüttelte sich und fauchte um die Baracken. Die Sonne war mit gelben Schleiern verhängt. Es regnete Sand. Feine Körner tanzten zu Millionen durch die Luft, verklebten die Poren, die mit offenen Mäulern schwitzten, entzündeten die Augen. Das Lager war eine Sandwüste, durch die lautlose Regimenter galoppierten. Reihe um Reihe, – Sandreiter.

 

Dann kam das dritte. Aus den nördlichen Urwäldern war es gekrochen, kein Sonnen-, kein Sandregen: Wasserregen. Dicke, nasse Tropfen platschten auf die Erde.

Die Tropfen reihten sich aneinander zu Schnüren, die grau vom Himmel hingen. Tagelang klopfte der Regen auf den Pappdächern der Baracken, stand in grossen Pfützen draussen und gluckste. Das Draussen verwandelte sich in einen klebrigen Morast, der die Schuhe festhielt.

Innen hatten wir Regengesichter, Regengedanken. Die Kleider hingen feucht um die frierenden Knochen. Zwischen den Betten standen kleine Pfützen. Lehmbeschmierte Burschen bemühten sich, mit Lappen die Pfützen aufzusaugen.

Frierend, missmutig, ohne Gedanken und Worte hockten wir auf den Bettstellen. Einhundertdreissig solcher Pritschen standen in zwei Reihen, je zwei Betten durch einen Nachtkasten getrennt, in dem Stall, den man die Stirn hatte uns als Wohnraum zu geben. Wir hatten uns das Murren abgewöhnt. Nur der lange Dragoner – unsere russische Zunge – tobte, watete wütend durch den Schmutz zum Lagerkommandanten und beschwerte sich, dass die Pappdächer Risse hätten. Die Russen taten wirklich etwas, schickten einige Kerle auf die Dächer, um Dachpappe auf die Risse zu decken. Russenstiefel sind derb. Die Dachdecker hatten neue Löcher getreten, durch die gierig der Regen leckte. Viele Betten waren nass, Matratzen und Decken aufgeweicht.

Wir froren wie nasse, obdachlose Hunde.

Irgend jemand, der noch denken konnte, hatte eine glänzende Idee. Unter den Riss über seinem Bett hängte er einen Topf. In einigen Stunden hing alles, was Geschirr bedeutete, an der Decke: Töpfe, Waschschüsseln, Eimer. Die Holzdecke bekam bunte, lustige Flecken, in denen der Regen tropfte. Stundenlang hörte ich, wie der Regen in den verschiedenen Metallen harfte.

Ich baute an neuen Fluchtplänen. Da war ein ungarischer Hauptmann, der hatte genug vom Gefangenenelend. Er sprach perfekt rumänisch und etwas russisch, was mich veranlasste, mich auf meinen Karten intensiv mit der rumänischen Grenze zu befassen. Von Baracke zu Baracke stampfte ich durch den Regen, um Nachrichten über die rumänische Grenze zu sammeln. Oft musste ich lange Gespräche führen, um unbemerkt das für mich Wichtige zu erfahren. Ich war aber doch zu unvorsichtig, wie sich später herausstellte. Der Kriegsgefangene ist schwatzhaft und neugierig. Seine hungrige Phantasie beschäftigt sich am liebsten mit dem Kram anderer. Erfährt er etwas, so steht seine Zunge nie still. Ahnungslos, gedankenlos, oft unter dem Trieb der Wichtigtuerei und Geheimniskrämerei macht er wochenlanges Mühen und Hoffen zunichte. So hatten die russischen Spitzel und Spione im Lager, die sich aus österreichischen Slawen, meist Tschechen, rekrutierten, leichtes Spiel.

An den Nachmittagen saß ich beim ungarischen Hauptmann. Er hatte einen kleinen Verschlag in der Stabsoffiziersbaracke. Wir schwatzten ein bisschen, nur wenig und leise über die Flucht, weil die dünnen Holzwände Ritzen und Ohren hatten, knabberten Fruchtbonbons, die in einer großen Blechbüchse auf dem Tisch standen. Dann kratzte der Hauptmann auf seiner Geige, die nur drei, manchmal nur zwei Saiten hatte. Ich lernte Zigaretten drehen und besah Bilder, die zu Dutzenden an den Wänden hingen, meist Frauen.

Abends kam der Grüne, triefend, aufgeweicht. Immer wieder brachte er meinen Brief, den er jedes Mal geschickt durch die Wache schmuggelte, zurück. Die Damen waren vom Erdboden weggewischt, vom Regen fortgeschwemmt. Der Grüne traf sie nie. Diese Verbindung schien kaputt, restlos zerplatzt. Ab und zu gelang es dem Grünen, mit Nr. 36 einen Zettel zu tauschen.

Die Tage schlichen in den Herbst hinein, der wieder wolkenlos und warm war. Wilde Gerüchte kursierten im Lager: »Es gibt Krieg mit Rumänien!« Die Ungarn schworen darauf. Wir Deutschen glaubten nicht daran und sagten: »Wenn schon, auch die werden ihre Senge beziehen.«

Die Gerüchte verstärkten sich. Die Ungarn rissen sich um die Zeitungen. Wir mussten handeln. Die Geheimpost in der Stadt arbeitete fieberhaft. Mit kleinen Bestechungen gelangte der Grüne manchmal zweimal täglich hinaus. Mit Nr. 36 wurde ein Versteck bei Polen vereinbart, drei aufeinanderfolgende Nächte wurden bestimmt, in denen er uns am Wasserturm vor dem Lager erwarten sollte.

Ein langer Brief von den Damen lief ein. Mehrere Tage waren sie um unsere verlassene Wohnung gestrichen. Sie wussten nicht, ob ich noch im Ort war oder abtransportiert, wussten nur, dass die Reichsdeutschen im Konzentrationslager vor der Stadt waren. Geld von meinen Verwandten und Bekannten aus den Ostseeprovinzen war weiter angekommen.

Da wir es am übernächsten Abend wagen wollten, schrieb ich nicht mehr. Im Hauptmannsverschlage sass ein zuverlässiger Soldat und baute unter meiner Aufsicht kleine Kästchen aus den Absätzen meiner Stiefel. Ein entsprechend starker Rand lief um die Höhlung, in die mehrere hundert Rubel in klein gefalteten Banknoten verstaut wurden. Dann wurde ein Fleck darauf geschlagen und ich spazierte auf meinem kleinen Vermögen. Dem Hauptmann und »Kümmel«, der diesmal auch mit sollte, ließ ich dieselben Geldschränke herstellen. So hoffte ich bei einer Wiederverhaftung, die stets mehrere genaue Leibesvisitationen zur Folge hat, unser bisschen Geld zu retten für einen neuen Versuch.

Wochenlang war ich das ganze Lager abgegangen, auch nachts, besonders im Morgengrauen, wenn die Posten am liebsten und festesten schlafen. Was Fluchterschwerung anbetrifft, war das Lager, wie die Russen stolz und höhnisch sagten, nach deutschem Muster eingerichtet. Eine glatte, etwa vier Meter hohe Holzplanke umschloss die Baracken. Anderthalb Meter davor, parallel zur Planke, lief ein fast ebenso hoher, zwölfreihiger Stacheldrahtzaun. Zwischen Planke und Hindernis spazierten Posten, die Befehl hatten, unter Gebrauch der Waffe niemand näher als drei Schritte an den Draht zu lassen. Manchmal, wenn ich nachts dem Draht zu nahe kam, knackte eine Gewehrsicherung, ein grauer Schatten rief: »Stoi!« (»Steh!«), und ich verschwand rasch in der Dunkelheit.

Es gab kein Loch, keinen Ausweg, die Russen hatten es scharf auf uns. Bis einige Tage vor dem mit Nr. 36 verabredeten Termin blieb mir das Herauskommen ein Rätsel.

Da machten die Russen eine Dummheit, taten selbst die Mausefalle auf. Sie gruben einen Abflussgraben unter dem Zaun durch. Neugierig und belustigt verfolgte ich den Fortgang der Arbeit. Der Graben wurde fertig. Ein schwarzes Loch gähnte unter dem Zaun. Dahinter hockte die Freiheit und lockte, lockte so sehr, dass Dutzende von Herren stundenlang in der Nähe des Grabens standen und das Loch anstarrten, hinter dem die Freiheit hockte.

Unsere Wärter waren dumm, aber nicht so dumm, dass ihnen diese Völkerwanderung zum Graben nicht auffiel. Ein Holzgitter senkte sich über das Loch. Die Herren suchten sich ein anderes Objekt für ihre Langeweile.

Da kam der Grüne, ein Prachtkerl, und machte sein listigstes Gesicht. Im Morgengrauen war er im Graben entlanggekrochen und hatte an dem Gitter gerüttelt. Die Stäbe gaben nach und ließen sich nach oben verschieben.

In langen Reihen standen wir beim Abenddunkel zur Zählung angetreten. Meine Nerven dünkte es eine Ewigkeit, bis uns die Analphabeten gezählt hatten. Unruhig trampelten der Hauptmann, »Kümmel« und ich auf unseren Portemonnaiestiefeln herum. Nach dem Abzählen stürzten wir in die bereitliegenden Zivilkleider. Ich war als erster fertig und ging erkunden. Vor dem Drahthindernis trifft mich fast der Schlag. Am Gitter regt sich ein Schatten, ein Bajonett blinkt im Schein der Bogenlampe. Ist das Zufall? Wird der Kerl weitergehen?

Nein! Er rührt sich nicht. Breitbeinig steht er über dem Graben und spricht. Zum Teufel, mit wem spricht er? Von der anderen Seite des Zaunes spricht eine andere Stimme. Aha – auch draußen ein Posten.

Aus der Dunkelheit schieben sich »Kümmel« und der Hauptmann neben mich. Hier kann nur Verrat im Spiele sein. Zuerst die Völkerwanderung nach dem Loch. Die Lagerspione haben uns wohl schon lange beobachtet. Diese Mausefalle ist dichter denn je.

»Kümmel« sagt: »Diese Schweine.« Wir treten ab.

An Enttäuschungen gewöhnt man sich wie an alles, der Mensch ist ein Gewohnheitstier. Wenn man aber zur Enttäuschung noch Spott und Hohn von den Kameraden erntet, ist man dem Platzen nahe.

Einige Tage nach diesem Ereignis haben wir Krieg mit Rumänien. Widerlich, wie sich die dicken Buchstaben der russischen Zeitungen blähen. Jetzt werden sie die Germanskis prügeln, das kleine Rumänien wird den Kohl fett machen. Die Ungarn sind verzweifelt. Man muss ihnen aus dem Wege gehen.

Ich bin niedergedrückt wie mit tausend Zentnern. Jetzt, wo man zu Hause jeden Mann braucht, tatenlos mit gesunden Knochen in einem Drahtkäfig sitzen! Ich ärgere mir die Galle ins Gesicht, verkehre mit niemandem, bin entschlossen, allein das Hindernis zu nehmen. Lieber eine Kugel oder einen Bajonettstich als hier im Stumpfsinn verrecken.

Meine einzige Zerstreuung sind jetzt die Musikproben. Die Kapelle spielt gut. Einige Geigen sind sehr fein, sehr ausdrucksvoll. In den Geigen wacht die alte Heimat. Ich krame wieder in meinem Erinnerungsschrank, schaue die lieben Gesichter an, die immer blasser werden. Nur die Augen sind noch klar. Die Stimmen werfe ich immer durcheinander. Es quält furchtbar, dieses Suchen nach den Stimmen. Kann denn die Erinnerung sterben? Dann habe ich gar nichts mehr.

Eines Tages bei einer Probe glaube ich eine Stimme gefunden zu haben. Ich horche in mich hinein und suche. Da setzt sich ein Ungar neben mich. Ich fühle, dass er etwas von mir will. Die Stimme ist wieder weg. Ich stehe auf. Der Mann hat eine lange Christusmähne. Er fängt an zu reden. Ich höre kaum hin, werde aber aufmerksam, als er mir etwas Wichtiges mitteilen will, wenn ich ihm mein Ehrenwort gebe, zu schweigen, ich gebe also mein Ehrenwort.

Sechs Herren haben sich zusammengeschlossen, um zu fliehen, Sie bauen an einem Tunnel. Der Ungar führt mich zu einer der neuen Latrinen in der Nähe des Zaunes. In der Tür steht ein Herr und pfeift leise durch die Zähne. Der Ungar macht ihm ein Zeichen, der Herr pfeift wieder, worauf aus der Latrine ein anderer kommt, der langsam über den Platz geht, immer hin und her. Obgleich es warm ist, hat er einen Mantel an. Unter dem Mantel rinnt langsam Erde und Sand heraus, der sich beim Hin- und Hergehen zerstreut. In der Latrine sitzt jemand und zieht an einer Schnur mit Sand und Erde gefüllte Säckchen aus der Unterwelt. In der Unterwelt auf einem Schemel mit drei Beinen, der etwas über den Unrat ragt, wird abwechselnd am Tunnel gearbeitet.

Der Sitz ist durchgesägt, kaum sichtbar, mit Scharnieren zum Klappen. Der Schemel bleibt immer unten. Das Unternehmen ist fein eingefädelt. Bei einiger Vorsicht und sechs Wochen vierstündiger Tagesarbeit ist der neun Meter lange Tunnel unter der Planke durch. Dann wird nach oben gegraben und laut- und spurlos verschwunden.

So geht es tagelang mit verteilten Rollen. Einer in der Unterwelt am Tunnel, der zweite, der Fördermaat, auf dem Sitz, der dritte beim Sandverstreuen draussen, der vierte als Posten in der Tür. Wenn jemand die Latrine betritt, pfeift der Posten. Dann ist Arbeitspause.

Wir stossen auf Holz, das mit Bohrer und einer kleinen Handsäge beseitigt wird. Dann müssen wir eine Gasmaske machen für den Mann in der Unterwelt. Trotz der Gasmaske kommt nach einstündiger Arbeit der Tunnelarbeiter halb ohnmächtig aus dem Gestank. Er muss dann lange spazierengehen und sich auslüften.

Es kamen Herbsttage, mit denen sich nichts anfangen lässt. Etwas Hitze in einer gelben, dunstigen Sonne, in den Nächten Winterahnen. Die Luft schaukelt müde und träge. Insekten hingen bewegungslos wie an Fäden. Wir lagen im Sande, rührten uns nicht, hätten träge Glieder und gedankenlose Gedanken.

Wenn die Sonne ihr gelbes Rad in den Westen tauchte, machten sich meine Gedanken auf und wanderten. Lange wanderten sie und kamen müde in die norddeutsche Heide. Dort setzten sie sich in einer stillen Straße auf einer Fensterbank, in verblühte Geranien, und bewachten deinen Schlaf!

Eines Tages kam das Glück wieder zu mir, setzte sich neben mich, als ob es nie fort gewesen wäre. Ich fühlte ganz genau, dass es das Glück war, und wunderte mich, wo es so lange geblieben.

Es war eine Nachricht, harmlos und doch bedeutungsvoll. Hinter ihr stand wieder die Freiheit wie damals hinter dem Gitter am Graben.

Es gab ein Lazarett am Rande der Stadt, im Walde. Es sollte nur schlecht bewacht sein, und in den Nächten konnte man unter dem Zaun durch in die Stadt hineinspazieren.

Ich wollte mich im Lager in Vergessenheit bringen, besonders bei den Spionen, die mich beobachteten, wenn ich sie auch nie bemerkte. Manchmal fühlte ich einen Blick auf mir. Dieser Aufsicht wollte ich mich entziehen, vom Lazarett aus nochmals versuchen, den verfahrenen Wagen ins rechte Geleise zu bringen.

Wie aber ins Lazarett gelangen, gesund wie ich war und noch dazu fluchtverdächtig?

Ich fing an, dem russischen Arzt die Bude einzulaufen, markierte Ohnmachtsanfälle und simulierte Schwindelgefühle. Dreimal wurde ich untersucht. Das Klappern mit den Augenlidern ging famos, ebenso das Zittern der ausgestreckten Hände bei geschlossenen Augen. Alle diese Erscheinungen von Gleichgewichtsstörungen infolge meines Absturzes hatte ich eingeübt.

Nach dem fünften Besuch beim Arzt klappte der Schwindel. Ich bekam einen Zettel:

»Neurasthenie und Gleichgewichtsstörungen, Lazarettbehandlung.«

Rasch schrieb ich einen Brief an meine Landsmänninnen über den erfreulichen Wohnungswechsel, zeichnete nach Schilderung eines Herrn eine Skizze von Lazarett und Umgebung und bat, gelegentlich in den hinter dem Lazarett befindlichen Wald zu kommen, in dem die Kranken täglich bei schönem Wetter zwischen drei und fünf Uhr nachmittags spazieren gehen dürfen.

Am Abend fuhr ich mit einem »iswoschtschik« einen Wachtmann neben mir ins Lazarett.

In einem kleinen Schliesskorbe lagen Zivilhose, die Portemonnaiestiefel, ein buntes Russenhemd, eine Sportmütze und warteten auf die nächtlichen Ausflüge.


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