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Im Versteck

Im Versteck gab es zu tun. Zunächst wurde die schmale eiserne Bettstelle ausprobiert, die wir teilen mussten. Trotz allen Probierens drängelte der Wachtmeister im Schlafe so, dass ich fast jede Nacht herunterfiel. Wir schliefen wenig. Hinter den Bildern hervor aus der Tapete krochen Hunderte von Wanzen. In drei Tagen waren wir mit Beulen bedeckt. Grosse, gefrässige Tiere, die der Russe »Preussen« nennt. Ausgezeichnete Akrobaten waren unter ihnen, die an der Decke lauerten und klatsch! ins Gesicht sprangen. Am Tage, wenn sie hinter den Bildern schliefen, mordete ich sie.

Am dritten Tage brachte unser Wirt – ein braver, alter Pole, im Nebenberuf Deserteurvater für Polen – einen ganzen Armvoll Anzüge vom Basar. Ich verpasste mir einen, setzte eine Fensterglasbrille auf die Nase, stopfte mir Schiesspulver (gestossenen Pfeffer) in die Manteltasche und machte den ersten Ausflug.

Fast täglich ging ich nun zu den Damen, um letzte Bestellungen in Auftrag zu geben. Gouvernementskarten von Südsibirien bis zur Mongolei, drei Taschenkompasse, eine elektrische Taschenlampe, viel Bindfaden sammelten sich allmählich. Die Landsmänninnen strickten uns fingerdicke Unterhosen und Strümpfe. Aus feinen Lammfellen wurden Socken hergestellt. Wir schafften Proviant für drei Wochen pro Nase an, der erst in der Mongolei angebrochen werden sollte: Schokolade, Sardinen, Reis, Suppenwürfel, Zucker. All das sollte in den Schlafdecken mit zwei Riemen auf dem Rücken getragen werden. Wir hatten jeder gute fünfzig Pfund zu schleppen. Mehrere Pfund Tabak und zwei Stummelpfeifen schlossen die Sammlung ab.

Dann kam die schwierigste Frage: Pässe. Hier zeigte sich das Talent des Wachtmeisters zusammen mit seinen guten Kenntnissen der russischen Sprache und Polizei. Ein Passfälscher konnte nicht geschickter Stempel fälschen als er, nur mit einem Kopierstift und Lineal. In fünf Minuten machte er alle Sorten An- und Abmeldestempel von allen möglichen Städten und Polizeibezirken. Während er zeichnete, fuhr er mit der linken Hand durch seinen langen Rotbart. Alle guten Gedanken zog er aus diesem Rotbart.

Da wir nicht drucken konnten, musste ich mit meinen Verbindungen alte Pässe beschaffen. Man muss immer wissen, womit man zu wem geht. Ich machte einen Besuch, den richtigen, und brachte zwölf alte Pässe mit.

Nun ging es ans Namenerfinden. Am Abend lagen zwei funkelnagelneue Kerle auf dem Tisch – ein Student und ein Kaufmann. Der Student war achtzehn Jahre alt, noch nicht dienstpflichtig, glatt rasiert, hatte mein Gesicht, meine Haare, zwei Narben wie ich am linken Zeigefinger. Zum Verwechseln – nicht auseinanderzukennen, auf Ehre. Er hatte deutsche Vorfahren und stammte aus Libau.

Die Russen mochten die Richtigkeit des Passes feststellen, wenn sie wollten und unsere Feldgrauen sie nach Libau liessen. Der Kaufmann war ein waschechter polnischer Jude, Landsturm, der noch nicht dienen musste. Leider hatte er keinen Bart. Trauernd fielen die stolzen roten Strähnen unter meiner Taschenschere.

Plouhar nahm Lineal und Kopierstift und meldete uns in vielen Städten an und ab. Dann setzte ich meine Studentenmütze auf den Kopf, die Fensterglasbrille auf die Nase und machte den Damen meinen Abschiedsbesuch.

Es wurde viel vom sibirischen Schnee gesprochen, der hier schon handhoch lag, von Wölfen in den Urwäldern Südsibiriens, von der Wüste Gobi, dem wilden, menschenscheuen Altaigebirge. Ich lachte und sagte: »Bangemachen gilt nicht«. Dann schrieb ich einige Briefe, die nach dem Frieden in die Heimat sollten, falls mich ein fremdes Land verschlucken und nicht wiedergeben sollte, steckte die letzten Liebesgaben in die Tasche. Ein letzter Dank, ein Händedruck, und draussen war ich.

Die letzte Nacht war Spannung, Erwartung. Alle die vielen Enttäuschungen warnten und stürmten auf den Optimismus ein, der ein Kinderlachen lachte.

Vor den schlaftrunkenen Augen wachten die Bilder der letzten Monate. Eine bange Note zitterte durch die Nacht. Zehn Tage hatten mich die Russen gesucht seit dem Sprung über den Zaun. Patrouillen waren in Hotels und Freudenhäuser eingedrungen, der Bahnhof von sechs Gendarmen und verstärktem Militär bewacht. Ohne Passrevision kam niemand aus dem Bahnhof heraus oder hinein. Zwei polnische Deserteure waren am Fahrkartenschalter abgefasst worden. Einen von ihnen, der mir ähnlich sah, verhaftete ein Gendarm mit den Worten: »Sagen Sie nur gleich, dass Sie der entflohene deutsche Flieger sind«. Die beiden waren nach einigen Tagen entkommen und erzählten unserem Quartierwirt die Episode.

Der Teufel weiss, aus welchen Gründen die Russen es so scharf auf mich hatten. Mein Gesicht war bekannt.

Ich war absichtlich nicht mit Plouhar zusammen aus dem Lazarett entwichen, sondern erst später allein. Es ist immer gut wenn man seine Spur verwischt und niemand weiss, dass man einen Mitverschworenen hat.

Am elften Tage wurde die Bahnhofssperre aufgehoben. Wir entschlossen uns, am vierzehnten zu fahren, einem Freitag.

Die Nacht sank in sich zusammen und bekam graue Flecke. Auf der Erde hockte unser Gepäck wie verschlafene Tiere. Ich weckte Plouhar. Wir tranken heissen Kaffee und sprachen nicht. Dann fuhr der Deserteurvater mit dem Gepäck in den blassen Morgen. Er sollte Fahrkarten nach Irkutsk kaufen, Plätze belegen und im Zuge unbemerkt die Karten uns zustecken


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