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Der Tunnel

Für die Aussenwelt habe ich einen Agenten. Er tauscht beim Einkauf in den Läden Briefe mit den Damen, schmuggelt verbotene Gegenstände ins Lager, knüpft Geschäftsverbindungen an. Mein Agent kann alles, weiss alles, sieht alles. Die Russen vermuten nichts in ihm als einen einfachen deutschen Soldaten, der für seine Offiziere einkauft. Ich nenne ihn nur den. »Grünen«, auch in meiner Korrespondenz mit den Landsmänninen heisst er so. Kurz, der Grüne. Seinen Infanterierock hat er mit allen Läusen an den Nagel gehängt und ist stolz in eine grüne Reitende-Jäger-Uniform gestiegen. Ein Leutnant hat sie ihm geschenkt. Die Achselstücke musste der Grüne natürlich abnehmen. Dafür besorgte ich ihm lederne Gamaschen.

Seit einigen Tagen dreht der Grüne an einem besonderen Film. Er hat ein paar Polen aufgestöbert, anscheinend Zivilgefangene, die in verschiedenen Geschäften zerstreut tätig sind. Das ist ein Klub, natürlich ein Klub. Was für ein Klub? frage ich den Grünen.

Na, so ein Klub, der ausreisst, den Russen durch die Lappen geht, G. m. b. H. für Flucht. Aha, feine G. m. b. H. Ich bestelle ein paar Aktien.

Nach einigen Tagen steht der Grüne grinsend vor mir. Heute grinst er nach guten Nachrichten. »Herr Leutnant möchten mal zum Chef des Klubs kommen, Nr. 36«. »Nr. 36« ist der Name des G. m. b. H.-Leiters – seine Hausnummer. Er ist Friseur, weiter erfahre ich nichts.

Ich habe plötzlich einen hohlen Zahn, lasse mich von einem Wachmann auf den Fahrdamm zu einem Zahnarzt treiben. Wir werden stets auf dem Fahrdamm getrieben, wie Vieh, der Bürgersteig ist zu vornehm für deutsche Stiefel. Der Zahnarzt findet nichts: »Nitschewo!« Ich sage ihm, dass dieser Zahn schmerzt, gerade dieser, dass ich eine Plombe haben muss. »Gut, der Herr will eine Plombe, warum nicht.« Mit einem Handbohrer macht er ein kleines Loch in den Zahn. Es schmerzt ordentlich. »Die Plombe bitte übermorgen«, sagt er. Gut, das will ich gerade, erst das Loch, dann die Plombe – so oft kommt man nicht in die Stadt. Famose Unterhaltung, so ein gesunder Zahn, der plombiert werden muss. Man sieht andere Menschen, kann sich mit einem gebildeten Zahnarzt russisch unterhalten. Im Wartezimmer sind Zeitschriften, mit gemeinen Witzen, die meist aus englischen Blättern gepumpt sind. Dann sind da. »barischni«, die nach Patschuli riechen – kurz, ein Ausschnitt aus der grossen Welt. Wirklich, sie existiert noch, ist noch ebenso dumm und boshaft wie früher.

Im Vorzimmer sitzt der Konvoi, der Wachmann, und schläft.

Mir zuckt es ordentlich in den Beinen, an dem schnarchenden Kerl vorbeizuspazieren. Tür auf und leise zugedrückt Draussen findet sich das Weitere. Bei einer Flucht kommt es immer auf den Anfang an. Man muss dem Teufel den kleinen Finger geben, dann nimmt er schon die ganze Hand. Eigentlich hat man ja wirklich nur den ersten Schritt in der Gewalt Das andere, das grosse Unbekannte, ist eine Mischung von Zufällen, Umständen und Glück.

Diesmal wird es nichts mit dem Anfang. Ich habe Uniform an und muss noch ein bisschen an den vielen Fäden knüpfen, die ich schon in den Händen habe.

Ich wecke also den Wachmann und sage ihm, dass er nähere Bekanntschaft mit dem Loch gemacht hätte, wenn ich die Gelegenheit benutzt hätte und verduftet wäre. Vielleicht hätte man ihn auch auf die »posizia«(Front) geschickt.

Durch meine kleine Rede und scheinbare Anständigkeit ist der Konvoi gefügig. Ob ich noch Spazierengehen möchte oder im »iswoschtschik«, einer Droschke, fahren oder gar eine – »Nein, danke, aber zum Friseur möchte ich.«

Der nächste Friseur in derselben Straße ist Nr. 36. Vor der Tür steht ein Mann, glatt rasiert Er sieht mich scharf an, hebt drei Finger, dann sechs, aha, der Chef der G. m. b. H. Der Grüne hat ihm gesagt, dass ich in den nächsten Tagen komme. Ich nicke und gehe in den Laden. Es ist kein Kunde da.

Während ich eingeseift werde, sehe ich im Spiegel, wie Nr. 36 meinem Konvoi Zigaretten gibt und eine Zeitung. Der Ahnungslose verschwindet bald hinter der Zeitung.

Nr. 36 rasiert selbst. Er spricht russisch, beugt sich bei der Arbeit dicht an mein Ohr und geht ins Deutsche über. Typischer polnischer Akzent, vermutlich ein österreichischer Pole.

Ich bin noch nie so lange rasiert worden. Der Konvoi bleibt die ganze Zeit hinter seiner Zeitung versteckt In kurzen Sätzen entwickelt der Unbekannte eine Reihe von Möglichkeiten. »Der Westen ist zu gefährlich, Sie können zu wenig Russisch.«

Der Unbekannte will bis übermorgen Näheres mitteilen. Er muss noch mit einem Passfälscher verhandeln. Er will nichts für seine Bemühungen, nein, bewahre. Das macht mich stutzig. Wenn er direkt nichts nimmt, wird er indirekt versuchen, mich auszuziehen. Feste Preise, bitte. Er liefert, ich zahle.

Ich biete ihm zweihundert Rubel und beobachte scharf sein Gesicht im Spiegel. Natürlich, er wird sie nehmen, ganz sicher. Vorläufig sagt er nein.

Zwei Nächte kann ich kaum schlafen. Ein Schicksal ist über mir, voller Rätsel und Dunkelheiten. Ein hölzerner chinesischer Götze streckt mir im Traum die Zunge entgegen. Ich schlage nach der frechen Zunge. Schwapp macht das Maul und springt zu. Blöder Traum! China, China.

Die Plombe sitzt im gesunden Zahn. Jetzt wird er wohl bald krank sein.

Ich werde wieder eingeseift. Nr. 36 rasiert langsam und spricht deutsch. »Der Konvoi ist ein Idiot.« »Was sprechen Sie da?« »Polnisch«, sage ich. Er ist beruhigt und bekümmert sich nicht weiter um unser deutsches Polnisch.

Ich bin geladen vor Neugierde, werde platzen, wenn wir nicht bald zur Sache kommen. Der Unbekannte kratzt mit seinem Messer jedes Härchen einzeln und redet.

Pässe brauchen Sie nicht. Heute, in neun Tagen fährt ein Mann nach Wladiwostok mit Äpfeln. Er hat einen ganzen Waggon Äpfel für Wladiwostok. Sie werden im Waggon unter den Äpfeln versteckt. Die Fahrt dauert wahrscheinlich vierzehn Tage. In Wladiwostok müssen Sie weiter sehen, als Matrose oder Steward nach Amerika. Der Transport kostet dreihundert Rubel. Nächsten Sonntagabend zehn Uhr erwarte ich Sie an der Ecke des Zuchthauses. Puder gefällig?

 

Also unter Äpfeln als blinder Passagier nach Wladiwostok. Was weiter? Mit dem Äpfelfuhrmann eine Streife durch Matrosenkneipen und Spelunken. Eine Fahrgelegenheit wird sich schon finden. Am besten zunächst nach China.

Zu Hause weihe ich »Kümmel« ein, den kleinen Dragoner mit dem Kopfschuss. Der Parchimer Dragoner-Leutnant Karl Otto von Bülow. Er will unbedingt mit. Natürlich, zu zweien macht sich so eine Fahrt viel besser.

Am nächsten Tag wird gesägt und geklopft. »Kümmel« und ich bauen einen Tunnel. Über den Zaun mit Stacheldraht wird es kaum gelingen, aus dem Lager zu verduften, besonders nicht, seitdem die Posten nach der Flucht einiger Ungarn aus dem Ungarnlager verstärkt worden sind. Hundert Möglichkeiten habe ich theoretisch durchprobiert, einige auch praktisch. Neulich, in einer stockfinsteren Regennacht, bin ich auf dem Dach herumgerutscht. Die eine Seite des Hauses grenzt hart an den Nachbargarten. Der Sprung ist hoch, würde von den Posten gehört werden, die nicht weit voneinander an den Ecken dieser Hausseite stehen. Sie würden Alarm schiessen, die Nachtwächter laufen zusammen, die Zuchthauswache, und mit einer ordentlichen Tracht Prügel im besten Falle, vielleicht auch mit verbogenen Knochen und einigen Lot Blei in den Rippen, nimmt die Reise über das Dach ein klägliches Ende. Außerdem stehen seit einiger Zeit Rekruten mit Magazingewehren auf Posten. Denen würde ein kleines Scheibenschießen besonderen Spaß machen. Das Dach ist aus Blech und knallt bei jedem Tritt. Hier oben ist ein Gelingen mehr als zweifelhaft, vielleicht gelingt es durch die Erde. Ein Tunnel ist der einzige Ausweg. In acht Tagen muss er fertig sein.

In einer Ecke des großen Zimmers ist eine kleine, fensterlose, leere Kammer. Durch eine Doppeltür kommt man in die Kammer. Zwischen den Türen hängen Mäntel und Kleider. Wer das Haus nicht kennt und sich den Grundriss von draußen nicht ansieht, muss glauben, dass es ein eingebauter Schrank ist, hinter dem weiter nichts steckt. Die Kleider hängen hinter der ersten Tür so geschickt, dass die zweite als solche nicht auffällt. Sie ist von den Kleidern fast ganz verhängt. Die Wache wechselt jeden Tag. Während wir arbeiten, werden in einem Zimmer von vier Herren Laubsägearbeiten gemacht, um den Sägelärm zu erklären.

Nachdem ich Arbeitsstunde für die Laubsäger angesagt habe, verschwinde ich mit »Kümmel« und dem Grünen durch den Schrank. Ein Lichtstumpf gibt genügend Beleuchtung. Mit einem schmalen Fuchsschwanz, Messern und einem Millimeterbohrer bearbeiten wir den Fußboden. Keuchend liegen wir auf dem Bauch. Nach mehreren Stunden ist das Bohrloch durch den Fußboden durch. Es sind keine Bretter, sondern halb durchgeschnittene Balken, zwei Hände breit. Am Nachmittag ist das Bohrloch so weit, dass der Fuchsschwanz hineinfasst.

Nun geht das Sägen los. Ein Heidenlärm. Die kleine Kammer dröhnt. Ganz leise hören wir das Laubsägen aus dem Nebenzimmer. Der Grüne beobachtet durch den kleinen Spalt in der Wand den Posten, der einige Schritte entfernt steht. Mehrere Male unterbricht der Grüne die Arbeit. Der Posten kommt auf die Wand zu und horcht, durch ein Fenster sieht er die Herren bei ihrer Laubsägearbeit und geht.

Wir arbeiten angestrengt, der Schweiß rinnt in Strömen, die Säge glüht. Der Lichtstumpf qualmt und stinkt Gegen Abend haben wir eine Seite in Schulterbreite durchgesägt.

Bis zum nächsten Mittag ist die andere Seite fertig. Wir heben die zwei Dielenbalken heraus. Unter uns – verdammt – quer durch unsere Falltür geht ein dicker Balken. In sieben Tagen muss der Tunnel fertig sein. Axt her! »Kümmel« liegt auf dem Bauch und haut auf den Balken ein. Er hat eine Mordswut im Leibe. Die Späne fliegen, das ganze Haus dröhnt von den dumpfen schweren Hieben.

Der Kleiderschrank wird aufgerissen. Ein Herr stürzt fast in das Loch. Aufhören, aufhören! Die Wache läuft zusammen.

 

Mit angehaltenem Atem warten wir eine Viertelstunde, eine halbe Stunde. Dann verschwindet der Grüne durch den Schrank, um die Lage zu erkunden. In fünf Minuten ist er wieder da. Es ist wieder reine Luft. Die Kerls haben alle Zimmer untersucht, unter die Betten gesehen, die zweite Axt aus der Küche weggenommen. Gut, dass sie uns nicht gezählt haben, schießt es mir durch den Kopf. Sie hätten uns sofort vermisst und doch nicht finden können. Das wäre ein Hauptspass gewesen.

Jetzt gehe ich dem Vieh von Balken zu Leibe. Noch mehrere Male kommt durch den Schrank das Signal: Dicke Luft! Dann hocken wir hinter dem Schrank und verschnaufen. Der Schrank ist glänzend. Eine Geheimtür in einem alten Schloss kann nicht besser sein. Zweimal haben die Posten die Schranktür aufgemacht und dann kopfschüttelnd unter den Betten gesucht.

Kurz nachdem wir den Balken durchhaben, wird ein Posten in den Korridor gestellt, der alle zehn Minuten in jedes Zimmer gehen muss. Eine neue Schwierigkeit, unbemerkt durch den Schrank und herauszukommen. Ein besonderer Meldedienst wird eingerichtet. Während der Posten in ein anderes Zimmer sieht, schlüpfen wir schnell hinaus.

Am nächsten Tag steigen wir in das Loch. Das Haus hat keinen Keller, steht aber einen halben Meter hoch auf vielen Balken über dem Boden. Mit Lichtstümpfen rutschen wir auf dem Bauch unter dem Haus herum. Wir entschließen uns für die Wand, die an den Nachbargarten stößt. Sägen und Hacken ist ausgeschlossen, der Posten würde uns sofort erwischen.

Nun beginnt das Graben. Mit den Händen, mit Messern und Holzstücken. Verschwitzt, mit Erde bedeckt, die Haare und Kleider voller Erde, tauchen wir zweimal täglich aus dem Kleiderschrank auf.

Am Sonnabend sind wir fertig. Morgen Abend, wenn es losgeht, stoßen wir die Erde nach oben durch und sind im Nachbargarten.

Am Abend kommt der Lagerkommandant und sagt, dass wir morgen ins neue Konzentrationslager übersiedeln müssen. Zuerst glaube ich, dass mich der Schlag trifft, dann beruhige ich mich. So schnell geht das nicht bei den Russen.

Während der Nacht ziehen mir allerhand Gedanken durch den Kopf. Einige der Herren halten eine Flucht für Unsinn. Du hast vier Wände als Käfig und hast vier Himmelsrichtungen. Wähle, bitte!

Diese Nacht ist wie ein Abschluss. Über der Vergangenheit ist eine schwere Tür zugefallen. Eine andere steht weit offen in ein Land, in dem es nur Ahnungen gibt, Ungewissheiten. Vielleicht Freiheit. Ich sitze auf einem dicken Strich. Der Strich ist zwischen Gegenwart und Zukunft.

Sonntag morgen werden wir in aller Herrgottsfrühe herausgetrommelt: Der Lagerkommandant ist schon da und befiehlt Packen. Eine starke Wache steht im Hof, die uns in das Konzentrationslager bringen soll. Mir ist ganz übel vor Überraschung. Alles umsonst: Der schöne Tunnel. Die Äpfel fahren ohne mich nach Wladiwostok. Nr. 36 steht sich heut Abend die Beine in den Leib.

»Kümmel« und der Grüne sehen mich an und sagen nichts. Es ist zum – –

»Marsch!« kommandiert der Wachthabende. Wir sind von vielen Konvois mit ihren langen Spiessen umzingelt und marschieren durch die Stadt. Hinter uns schwanken ein paar Droschken mit unserem Gepäck. Zufällig werden wir an der Kirche vorbeigeführt. Es ist halb zehn Uhr, die Damen werden wohl in der Nähe sein. Richtig, da taucht der rote Sonnenschirm auf, bleibt sprachlos stehen und sieht unserem Häuflein nach.

Es ist furchtbar heiß, wir sind in Staub eingehüllt. Ich denke nichts, fühle nichts, höre nur, wie ein Tor schwer hinter uns zuschlägt.

Wir sind im Konzentrationslager. Es fällt mir ein, dass heute der 10. Juli ist.


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