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Nach flüchtiger Leibesdurchsuchung auf Waffen wurde ich in ein Nachbarzimmer gesperrt, in dem Plouhar mit blutunterlaufenen Wutaugen bleich von einer Wand zur anderen tobte. Iwan hockte in einer Ecke, ganz schlotternde Angst, mit verstörten Zügen und zitternden Händen.
»Warum regen Sie sich nicht auf?« wunderte sich Plouhar.
Vielleicht war ich zu müde dazu, oder war es die Gewöhnung an Enttäuschungen? Der Mensch trägt alles, wenn er es tragen will. Ganz ruhig reihte ich einen Gedanken an den anderen.
Alles umsonst: umsonst neun Monate lange Fluchtvorbereitungen, die lange Reise mit Hunger, Frost und Wolfsgefahr. Das Schicksal hatte wieder mal Menschenwerk umgeblasen. Aber noch stand der Mensch und mit ein Wille, dem Schicksalsrad in die Speichen zu greifen und es dorthin zu drehen, wohin er es haben wollte. Der Mensch ist schicksalsgeboren und geht Schicksalswege. Soll er deshalb die Hände in den Schoss legen sich willenlos treiben lassen?
Ich machte einen dicken Strich unter die Vergangenheit, von der ich mich nicht quälen lassen wollte. Die Gegenwart erforderte viel Ruhe. Wie zogen wir uns am besten aus der Patsche? Was wird aus Iwan?
Iwan flehte mit Hundeaugen. Es war so viel jämmerliche Angst in ihnen, dass ich fast lachen musste. Er zog mich zu sich in die Ecke und flüsterte zitternd: »Mit mir ist es aus, ich werde aufgehängt, weil ich euch geholfen!«
Ich liess ihn weinen und dachte nach.
Er war entschieden schlimm daran, wenn alles herauskam, und uns drehte man einen neuen Strick wegen Verleitung zum Landesverrat oder so etwas Hübschem.
Wir sassen in einer sauberen Falle. Jedes Wort musste bedacht, jeder Schritt überlegt werden. Hierzu kamen mein Steckbrief und die unverständlich hohe Fangprämie. Sie hatten mich wieder, aber sie sollten nicht wissen, wen sie gefangen.
Mir fiel ein, dass ich einmal ein Buch gelesen: »Über die Kunst des Lügens«. Hier half nur Lügen, ein durchdachtes Lügennetz musste ich um mich spinnen, durch das man nicht an mich heran konnte.
Plouhar lief immer noch von einer Wand zur anderen. Iwans Zähne klapperten vor Angst.
Gegen Abend war mein Plan fertig, ein Weg, auf dem wir uns herauswinden konnten, wenn Ruhe, Überlegung und Frechheit uns nicht verliessen.
»Iwan, du bist von heute ab österreichischer Soldat, Kriegsgefangener wie wir.«
»Aber ich kann doch kein Deutsch«, antwortete er mit erstaunten Augen, in denen schon etwas Verständnis schimmerte.
»Macht nichts. Du bist Ruthene, an der russischen Grenze aufgewachsen, sprichst nur russisch und etwas Deutsch aus deiner Dienstzeit. In Warschau und Lodz hast du gearbeitet, immer unter Russen, bist Gefreiter im k. u. k. Infanterieregiment Nr. 34 in Jaroslau, vor einem Jahr gefangen, in den Zirkus nach Omsk gebracht und von der Arbeit durchgegangen. Im Zirkus in Omsk warst du nur drei Tage eingesperrt, so dass dich niemand kennt. Uns hast du unterwegs in der Nähe von Omsk getroffen. Sobald es geht, gebe ich dir Geld, und du verschwindest. Bis dahin sprich wenig und halte deine Rolle durch.«
Während steigendes Verständnis in Iwans Züge kam, brachte ich ihm die notwendigsten Dienstbegriffe eines österreichischen Soldaten bei und liess ihn die Stufenleiter seiner Vorgesetzten auswendig lernen.
In den nächsten Tagen musste er nach Gehör Deutsch lernen und oft wiederholen: »Guten Tag, Herr Leutnant. Wie haben Herr Leutnant geschlafen? Wieviel Uhr ist es.« Es dauerte gar nicht lange, bis er das Notwendigste wusste.
Plouhar, der in X. vierzehn Tage vor mir spurlos verschwunden war, blieb der alte. Iwan – den ich weiter so nenne – bekam einen ruthenischen Namen, und ich stieg in eine funkelnagelneue Aufmachung: Hermann Dobel, nicht mehr Flieger, sondern deutscher Kavallerieoffizier, kurz vor meiner Flucht in einem Gefecht bei Dubno gefangen.
Wir durften nichts mehr mit Lager und Stadt X. zu tun haben, erstens wegen meines Steckbriefes, zweitens wollte ich mit Plouhar nach Omsk, wo er gute Verbindungen mit Deutschen und Juden hatte, und drittens war bei der Verhaftung im Futter von Plouhars Brieftasche ein Zettel gefunden worden mit Strasse und Hausnummer meiner Landsmänninnen. Zum Glück war auf dem Zettel nicht der Name von X., so dass wir angeben konnten, es sei die Adresse irgend eines Juden aus einer beliebigen Stadt, der mit uns während der Fahrt bekannt geworden war und Geschäfte hatte machen wollen.
Da unsere russische Vergangenheit ein unbeschriebenes Blatt sein musste, beschlossen wir, folgendes zusammenzulügen:
Im September 1916 bei Dubno gefangen, sind wir in der ersten Nacht entkommen und haben versucht, uns durch die Front durchzuschlagen, was wegen starker Gefechtstätigkeit misslang.
Zu Fuss sind wir dann bis in die Nähe von Kiew gelangt, wo wir bei einem Juden von unseren gemeinsamen dreitausend Kronen, die man uns bei der Gefangennahme nicht abgenommen, Zivilkleider und Pässe gekauft hatten. Bis Omsk, wohin unser Transport gerüchtweise gehen sollte, sind wir gefahren, dann fünfhundert Werst gelaufen, haben Iwan zufällig getroffen und wollten nach China fliehen. Russisch hatten wir beide früher in Polen gelernt. –
Am Abend bekamen wir zu essen und wurden nochmals visitiert. Mehrere hundert Rubel, die in unsere Hosenträger eingenäht und noch in den Stiefelabsätzen waren, entgingen dem Agenten. Die Decken, Pelze, Schokolade und einige Dosen Sardinen durften wir behalten.
Dann wollten die feigen Bestien uns die Hände auf dem Rücken fesseln. Da kamen sie aber an die falsche Adresse: Wir wären kriegsgefangene Offiziere und keine Verbrecher, den ersten, der es wagte, uns anzufassen, würden wir niederschlagen. Selten habe ich so verblüffte Gesichter gesehen. Die Kerle hatten Respekt schon von meiner Verhaftung her und regten sich nicht.
Draussen standen unsere mageren Pferde immer noch angeschirrt vor dem mongolischen Karren, hungrig in winterlicher Steppennacht. Abschiednehmend fuhr ich den braven Gäulen über den Rücken.
Holpernd sausten drei Pferde vor einem breiten Wagen mit uns durch die sternklare Nacht. Vier Kosaken jagten mit langen Mondschatten nebenher, eine tolle Fahrt, wie sie nur Russen fahren.
Die Pferdeglocken läuteten alle Einsamkeiten der Steppe wach. Je mehr wir uns Sibirien näherten, desto trauriger wurde ich. Von diesem Tage an habe ich monatelang nicht mehr gelacht, nur jenes zynische, kranke Lachen, wie es Verbrecher lachen, von denen ich es lernte. Bitterkeit, Trauer, Wut – Verbrecherlachen. In mir war etwas versunken, das ich nicht mehr heben konnte und wollte. Müde Augen sahen nur noch körperlich, die Seele hatte nichts mehr damit zu tun.
Nur eines war wach in mir: der Wille zu einem neuen Weg, ein starkes Wissen: Du kommst einmal durch.
Mit unserer unerschrockenen Haltung hatten wir die Kosaken gewonnen. Ich behandelte sie sofort meinen Erfahrungen entsprechend. Bald wurden aus den berüchtigten Blutmenschen und Peitschendienern des Zaren respektvolle, fast höfliche Wächter.
An der mongolisch-sibirischen Grenze wartete das alte Elend, Schlimmeres, denn noch kannte ich nicht die Gefängnisse. Plouhar erzählte tagelang von seiner Sommer-Zuchthausreise. Es war eklig, an all das nur zu denken, aber eine theoretische Schulung war besser als zu rosige Vorstellungen. Von der Grenze ab begleiteten uns nur noch zwei Kosaken – dumme, willige, gutmütige Halbwilde, die seit ihrer Kindheit mongolisches Vieh getrieben hatten. Nun trieben sie Europäer und freuten sich auf die hundertfünfzig Rubel Fangprämie.
Am ersten Abend verbrannte ich Pässe und Karten, die ich bis dahin in den Hosen versteckt hatte, und starrte in den Ofen, bis das letzte Blatt verglimmt war. Falsche Pässe kosten nach russischem Gesetz drei Monate Turm.
Die Kosaken hockten neben dem Ofen und sagten freundlich: »Charascho (gut), drei Monate weniger«.
Jenseits der Grenze lag Neuschnee, dick und weich. Wir fuhren in requirierten Bauernschlitten. Manchmal wechselte ich mit einem Kosaken und galoppierte weit voraus. Durchgehen? Es war leicht und wäre täglich wohl zehnmal gelungen. In dem Gedanken aber lag wenig Verlockendes. Im Schnee verhungern oder durch Wölfe zerfetzt werden, die bei steigendem Schnee und Kälte hungriger werden? Ich hoffte auf Besseres und wartete.
Mit bimmelnden Glocken jagten die Pferde, die alle fünfundzwanzig Werst gewechselt wurden, durch die Tage. Wir sahen Dörfer und Gesichter, die wir kannten und gehofft hatten nie wiederzusehen. Ein chinesisches Kloster mit vielen Tempeln, geschwungenen, bunten Dächern und Drachen huschte vorüber. Damals hatte ich es lange betrachtet, während Iwan Brot kaufte, und an China gedacht.
In den letzten Tagen, bevor wir in Polizeihände kamen, jagte uns ein Burjäte, der kutschierte, Schreck ein. Vor wenigen Wochen hatte er uns nachts in einer leeren Sommerjurte überrascht, die wir mit der Axt erbrochen hatten. Er stand plötzlich in der Tür, als wir um ein grosses Feuer sassen, das wir aus Teilen der Jurte gemacht hatten.
Am letzten Tage liessen die Kosaken mich einen grossen, schweren Bärenpelz und Fellstiefel kaufen. Es war ein Luxus, aber ich wollte das nicht eingenähte Geld nicht in die Hände der Polizei geraten lassen; später hat mir der Pelz das Leben gerettet und Plouhar zur Flucht verholfen. Während des Kaufes wurde Plouhar, dem inzwischen wieder der Rotbart gewachsen war, von einem Mann erkannt, bei dem er im Sommer während des Rücktransportes genächtet. Er bat sofort den Herrn, der so schön erzählen konnte, wieder bei ihm zu wohnen.
Vor dem Abendessen gingen wir in seine »banja«, ein kleines dunkles Blockhaus, und schwitzten den Schmutz der letzten Wochen aus. Wie mager wir waren, nur Knochen und von Ungeziefer zerfressene und zerkratzte, blutige Haut!
Nach dem Bade assen wir Fleisch und tranken heissen Schnaps. Morgen sollte das Polizeielend beginnen. Schweigend spülten wir den Kummer herunter, tranken und tranken, bis die Augen zufielen.