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Es klappt

Fünf nervöse Tage gehen ins Land. Der Grüne hat sich mit vier deutschen Soldaten besprochen, die abends bei Dunkelheit aus dem Mannschaftslager kommen, um Speiseabfälle aus der Offiziersküche für die Schweine des Lagerkommandanten zu holen. Ich soll, als Soldat verkleidet, einen der Schweinetröge ins Mannschaftslager tragen, von wo man leicht heraus kann, da es dort keinen Stacheldraht gibt und nur wenige Posten. Einer von den Männern will in meinem Bett schlafen, für mich zur Zählung antreten und mit dem nächsten Schweinetrog verschwinden.

Um sechs Uhr sitze ich mit »Kümmel« und zwei Kameraden bei einigen Pullen schlechten Weines, die ich vom russischen Lagerfeldwebel erstanden. In einer mit Decken und Bettzeug verhängten Ecke feiern wir Abschied, stoßen auf die Schweinefuhre an, auf die Wüste Gobi, Amerika und alles, was zwischen hier und der deutschen Front liegt.

Es ist sieben Uhr, die Schweineleute müssen bald kommen. Da teilt sich der Vorhang, und herein schaut ein russischer Wachtunteroffizier. Er stürzt auf ein halb gefülltes Glas zu, das ich rasch umkippe, riecht am Glase, sagt »Alkohol!« und verschwindet.

Wir sind bestürzt, denn Alkoholgenuss kostet den Kriegsgefangenen dreißig Tage Arrest. Der wachthabende Offizier erscheint, untersucht die Betten und erwischt die fast vollen Flaschen, was »Kümmel« riesig ärgert.

Einige Minuten später stehen wir vor der Wache, Matratze und Decken unter dem Arm. Der Grüne ruft mir zu, dass die Schweineleute da sind und er für mich in den Arrest will. Es geht nicht. Konvois treiben uns über den Hof, zum Tor hinaus ins Mannschaftslager, Hier ist das Arrestgebäude. »Kümmel« und ich kommen in eine kleine Zelle mit vergittertem Fenster, vor dem ein Posten steht. Durch die rissige Wand stinkt eine Latrine.

»Kümmel« tobt und rennt wie ein Irrsinniger hin und her. Ich habe keine Gedanken. Dieser Schlag ist vernichtend: dreißig Tage Arrest, und im Versteck wartet der Wachtmeister!

Am zweiten Tag bringt der Grüne das Mittagessen. Er steckt mir eine Postkarte zu, die, an mich adressiert, von einem Österreicher in der Lagerkanzlei unterschlagen wurde, bevor sie Unheil anrichten konnte.

Ich bin wütend auf den Wachtmeister, der mir auf Russisch schreibt: »Ihre Hemden mit Halsweite Nr. 36 warten auf Anprobe. Bitte kommen Sie bald.« Wir machen uns mit Bleistift einen Kalender von dreißig Tagen an die Wand. Die Stunden schleichen, die Enttäuschung frisst sich tiefer.

Am dritten Tag werden wir aus dem stinkenden Loch geholt und ins Lager zurückgebracht, weil eine österreichische Rote-Kreuz-Kommission kommt.

Ich erfahre, dass die Kommission zwei Tage bleibt. In dieser Zeit muss ich unbedingt verschwinden, um nicht die restlichen siebenundzwanzig Tage abzusitzen.

Die Leiterin der Kommission, eine österreichische Gräfin, lässt mich rufen und übergibt mir einen Brief meines Vaters mit dreihundert Rubeln. Drei Tage Arrest sind dreihundert Rubel wert, wenn es jetzt gelingt. So hat man oft Glück im Unglück.

Der Brief meines Vaters, der erste seit über zwei Jahren, kommt aus Deutschland. Es ist ihm also gelungen, von Japan über Amerika zu entkommen. Ob es mir auch gelingt?

Der einzige Ausweg blieb die »banja« (Bad), in der wir jeden Freitag badeten. Das Bad war vor dem Lagertor, von der hohen Planke umschlossen, aber ohne das Drahthindernis.

Freitag – Badetag. Heute galt's.

Vom Lagertor bis zum Badehaus stand das Postenspalier. Stumpfsinnig, auf ihre Gewehre gelehnt, standen die Posten alle zehn Schritte. In geborgtem Zivil, Militärmütze, Sportmütze in der Tasche, unter dem Arm ein Paket Wäsche und warme Sachen in Wachstuch eingeschlagen, ging ich ins Bad. »Kümmel« begleitete mich.

Im Bade zogen sich die letzten Herren an. Zehn Minuten warteten wir hinter der Tür auf die Dämmerung. Ein Händedruck – dann ging ich langsam aufs Lagertor zu, dicht an den Posten vorbei. Sie starrten vor sich in den Sand, unaufmerksam. Auf halbem Wege, dicht hinter zwei Posten, lag Heu. Dort wollte ich hinein.

Hart am ersten Posten vorbei – ein Sprung – ich lag im Heu. Das war Glück, das nur Frechheit zwingt.

Langsam senkten sich die Nachtschatten, quietschend wurden die Bogenlampen aufgewunden, das knarrende Tor schloss sich hinter den abtretenden Posten.

Links auf einem Aussichtsturm wacht ein Soldat mit scharfgeladenem Gewehr, rechts in etwa vierzig Meter Abstand ein anderer unter der Bogenlampe. Die Planke tiefdunkel, der obere Rand leuchtend im Lichtkegel der Bogenlampen. Werde ich das Glück nochmals zwingen?

Noch war es zu früh zum entscheidenden Sprung, zu viel Leben auf dem Hof und die Wache noch nicht abgelöst. In einer offenen Scheune drückte ich mich in Pressheu. Bange Minuten, wie Ewigkeiten. Es wurde immer dunkler und die Sterne heller. Heustaub drang mir in Nase und Mund und Ohren. So verging eine halbe Stunde.

Ein Kosak fuhr in den Hof und spannte sein Pferd aus. Schnuppernd ging das Tier auf das Heu zu, wie gelenkt auf meine Stelle. Der Kosak sagte: »Friss, Täubchen«. Ein grosser Bissen riss Heu von meiner Deckung. Alles hing jetzt von dem verfluchten Gaul ab.

Ich weiss nicht, ob ich dachte, mein Herz schlug bis in den Hals hinauf, schmerzhaft. Ein unwiderstehlicher Husten quälte mich, ich muss ganz blau im Gesicht gewesen sein vor Anstrengung.

Glück oder Schicksal half. Der Kosak brachte das Pferd in den Stall.

Jetzt war es Zeit, die Planke anzugehen. Glatt, ohne jeden Vorsprung das Hindernis. Wie da hinaufkommen? Ich fand zwei mannshohe Bretter. Mit den Spitzen aneinandergelehnt, gaben sie einen Auftritt. Das Paket in den Zähnen, zog ich mich bis zur Brust hinauf. Dann ein Knie auf den fingerbreiten Auftritt, das andere. Dann kam das Aufrichten, Ich hatte nur einen Willen: Gleichgewicht nicht verlieren.

Jetzt hatte der rechte Fuss Halt, gleichzeitig erreichten die Fingerspitzen den Plankenrand. Leise zog ich mich hinauf, schaute auf die Straße. Draußen Kommen und Gehen von Menschen. So hing ich bewegungslos, lange Minuten. Mein Kopf und die Hände waren im Lichtkegel der Bogenlampe. Ich erwartete jeden Augenblick einen Schuss, das Schrillen der Signalpfeifen – Alarm! Nichts!

Da bellte plötzlich ein Hund, wütend, laut. Vorsichtig wandte ich den Kopf. Unter mir eine grosse Dogge, heiser heraufkläffend. Jetzt musste der Alarm kommen. Aber nichts regte sich.

Beim langsamen Zurückdrehen des Kopfes reißt das Wachstuch, ein Fetzen bleibt mir in den Zähnen, das Paket liegt unten.

Langsam glitt ich hinunter. Der Hund war fort. War er überhaupt dagewesen, war er nur eine Einbildung? Das Paket in den Zähnen enterte ich wieder auf. Oben angelangt, fand ich die Strasse leer. Ein Sprung durch den Lichtkegel, vier Meter hoch, ein Aufschlag, und ich lag in einem Graben, den ich nicht gesehen hatte.

An der Planke entlang, unter dem Wachtturm durch kam ich auf einen freien Platz, am Wasserturm vorbei in die Stadt.

Warum sieht mich jeder so misstrauisch an? Hab' ich denn ein Brandmal auf der Stirn – oder die Militärmütze noch auf? Nein – es sind nur die Nerven.

Bald habe ich die Strasse gefunden, in der das Versteck ist. Aber wie die Hausnummer finden in der Dunkelheit? Hier könnte es sein!

Vor dem Hoftor sitzt ein Schutzmann. Ich habe die Empfindung, dass er auf mich wartet, und gehe vorbei. Im Laternenschein sehe ich ganz deutlich eine Hausnummer. Langsam zurückgehend, zähle ich die Nummern. Hier muss es sein, mit dem Schutzmann vor dem Tor.

Erste Tür links im Hof. Richtig! Quartier 3. Ich klopfe ein verabredetes Zeichen. Geräuschlos öffnet sich ein Spalt der Tür, ein Lichtschimmer fällt auf den Hof. In ihm eine Hand. Die Hand bewegt sich, tastet herum, ergreift mich plötzlich am Rockkragen, ein Ruck – und ich stehe in einem dunklen Korridor. »Geradeaus«, sagt jemand. Eine Tür geht auf. Vor mir im Schein einer Lampe steht der Wachtmeister Plouhar, mager, mit überwachten Augen.


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