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Einzelhaft

Omsk bot etwas Neues – Einzelhaft im Kriegsgefangenenarrest. Drei Schritte lang, zwei Schritte breit, vergittertes Fenster mit zerbrochenen Scheiben, Holzpritsche, ein Heizrohr, das nicht heizte im sibirischen Winter.

Über der Tür das alte Firmenschild »Zur Verfügung des Gerichtes«. Im Guckloch ein dämliches Postengesicht.

Licht verboten, Rauchen verboten.

Von vier Uhr nachmittags bis acht Uhr früh schwarze Finsternis.

Drei Wochen fror ich bei dreissig Grad Kälte hinter zerbrochenen Scheiben, auf der kalten Heizung sitzend. Mein Bärenpelz rettete mich, Ungezieferjagd gab etwas Wärme. Langsam fühlte ich den Irrsinn kommen. Er tastete in meinem Gehirn herum und versuchte, wo er Fuss fassen konnte.

Langweile tötet langsam, aber sicher. Deshalb machte ich mir einen Stundenplan. Nach dem Aufstehen morste ich durch die Holzwand zu Plouhar, der rechts von mir sass. Von zehn bis elf: Posten ärgern. Ich rief ihn ans Guckloch, beschimpfte und ärgerte ihn auf alle erdenkliche Art, bis er wütend mit dem Bajonett nach mir stach.

Elf bis eins sah ich den Fliegen zu, wie sie langsam auf der sonnendurchfluteten Wand krabbelten, machte mit meinem Bleistift Striche auf die Bretter und zählte, wieviel Schritte sie von einem Strich zum anderen brauchten. Ich kannte sie ganz genau, die grossen und die kleinen, die Eltern mit ihren Kindern. Eine dicke mit schillernden Flügeln liebte ich ganz besonders. Als sie einmal dem Posten durchs Guckloch ins Gesicht flog und nicht wiederkam, war ich sehr traurig.

Von eins bis zwei brüllte ich durch ein Astloch zu einem deutschen Fähnrich nach links. Er war stets hungrig, und ich gab ihm durch das Astloch zu essen.

»He, Fähnrich, komm essen!«

Auf der anderen Seite des Astloches erschien sein Auge. »Hast du Hunger? Ja? Also, warte. Stell dir vor: Hiller, Kempinski, Trarbach – du weisst doch –: Schildkrötensuppe mit Einlage, Forellen, Beefsteak mit Bratkartoffeln, Roastbeef mit Salat und Kompott – Schampus, hörst du, viel Schampus – so bleib doch, Fähnrich, wir sind ja noch gar nicht beim Käse –«

Er blieb nicht und schrie wütend: »Hör auf!« Und doch fiel er jeden Tag von neuem auf mein Frühstück herein.

Nachts, wenn ich vor Läusen und Kälte nicht schlafen konnte, sah ich den handgrossen Ratten zu, wie sie mit langen Schwänzen die Wände hinauf- und hinuntersprangen. Links über dem Fenster hatten sie eine Animierkneipe; dort quietschten und johlten sie und trieben allerlei Unfug. Manchmal sass so ein Scheusal auf meiner Brust und schillerte mich mit seinen Knopfaugen an. Sie kannten mich alle und bedauerten mich. Dafür durften sie mein Brot fressen. Das war innen bei mir, in meiner Wohnung. Steckte man den Kopf aus dem Guckloch, so sah man in einen langen Gang mit vierundzwanzig Türen und Gucklöchern, in denen vierundzwanzig verwilderte Köpfe hingen – wie Pferdeköpfe aus ihren Boxen schauten.

Wir schlossen Bekanntschaft. Da waren Köpfe, die in der Mongolei gefangen waren, in der Mandschurei, am Pruth, bei Torneo, lauter wilde Gesellen von allen russischen Grenzen.

Was hinter diesen Köpfen war, bekam man nur in einem gewissen Ort zu sehen.

Ein Kopf war unser Komiker. Ganz viereckig war er, viereckige Stirn über einer Gummigrimasse.

Das war Herr Vobig, Herr Vobig von der Landstrasse, der an allen russischen Grenzen gewesen war. Er sprach sechs Sprachen, alle durcheinander, und steckte voller Witze. Wenn die Dunkelheit anbrach, reisten wir mit Vobig durch Russland. Wir wanderten durch die Verbrecherkeller Moskaus und Petersburgs, machten mit ihm Einbruchsdiebstähle, sperrten Polizeioffiziere, die uns verhaften wollten, selbst ein, fuhren mit Viehwagen als Handelsjuden oder erster Klasse im sibirischen Luxuszug mit einem Achtzehn-Kopeken-Brillantring am kleinen Finger, liefen in Moskau Rollschuh.

Herr Vobig war unser Leben, ohne ihn wäre das Arresthaus tot gewesen. Er prahlte fürchterlich, aber er log elegant und konnte viel.

»He, starschi (Wachtunteroffizier)« brüllte er eines Tages, »ich will spazierengehen!« Der »starschi« lachte. Da fasste Vobig in das Guckloch, riss an der Tür, ein-, zwei-, dreimal, das Schloss krachte, und er stand im Gang. Vier Mann sperrten ihn in eine andere Zelle. So war Herr Vobig.

Eine Woche lang hatte man uns gegen die Vorschrift nicht an die Luft gelassen. Da machten wir eine kleine Verschwörung. Alle hintereinander liessen wir aufschliessen und sammelten uns neben der Latrine. Der Posten vor der Tür zum Wachtzimmer wurde über den Haufen gerannt, wir stürmten in die Wache. Ehe die Soldaten aufgesprungen waren, standen wir vor den Gewehren.

»Willst du uns jetzt spazierenführen, du Hundesohn?« knurrte Vobig. Der »starschi« war bleich und führte uns spazieren, wie es Vorschrift war. Fast jeden Tag trampelten wir jetzt im Schnee eine halbe Stunde, immer im Kreise. Herr Vobig sauste in grossen Filzstiefeln mit wehendem Halstuch um die anderen herum.

»Was machen Sie da, Vobig?«

»Ich fresse Kilometer für die nächste Tour, man muss gute Beine haben.« So war Herr Vobig.

Nach einiger Zeit brachte man ihn in die grosse Zelle, in der zwanzig Mann eingesperrt waren. Am selben Tage kam Iwan aus Irkutsk, schaute durch mein Guckloch und begrüsste mich mongolisch mit lautem: »Mindu!«

Er hatte einen Gefangenenpass auf seinen österreichischen Namen und sollte hier noch vier Wochen abbrummen.

Am Abend ging er von der Latrine in meine dunkle Zelle, und ich verschwand mit tief ins Gesicht gezogener Mütze in der grossen Kammer.

Wenn die anderen schliefen, sass ich mit Vobig unter der Lampe – hier gab es eine – und baute an neuen Plänen. Ich gab ihm den Auftrag, nach Moskau zu reisen, eine bekannte Dame aufzusuchen und mit Geld und anständigen Zivilkleidern wiederzukommen.

In den folgenden Nächten arbeitete Vobig sich mit Messern und einem Stemmeisen, das die Essenträger im Brot hereingeschmuggelt hatten, durch die Decke auf den Boden. Dann nahm er auf dem Boden die Aussenwand in Angriff, die an einen freien Platz stiess. Gerade die Stelle, unter der der Posten stehen musste, hatte er gewählt. Er wollte den Posten einfach ohnmächtig- oder totspringen, damit er nicht schreien und Alarm schlagen konnte. In einer Woche wollte Vobig verschwinden.


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